BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Paul Cauer

1854 - 1921

 

Deutsches Lesebuch für Prima

 

Erste Abteilung

 

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3.

Der Wettkampf.

Von Ernst Curtius (1814 - 1896).

 

Altertum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Erster Band, 3. Auflage (Berlin 1882). S. 132-147. Die Rede ist gehalten in Göttingen 4. Juni 1856. [Text der 3. Auflage.]

 

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Sie kennen alle jenes Gemälde, in welchem ein geistvoller Künstler unserer Tage es gewagt hat, mit kühner Hand den Anfang aller Menschengeschichte darzustellen. Der Riesenbau, der als ein Denkmal titanischen Übermuts in den Himmel steigen sollte, ist durch die Hand des göttlichen Zorns gehemmt und die Geschlechter der Menschen, aus schmachvollem Frohndienste befreit, trennen sich in Gruppen, um von nun an verschiedene Bahnen einzuschlagen.

Mit trägem Schritt zieht in der Mitte ein Volk dahin, das von niederen Lüsten beherrscht die Bilder der Götzen, welche hier zu Schanden geworden sind, in dumpfem Wahn umklammert hält; zur Linken sehen wir eine edlere Schar, eine Gruppe von Hausgenossen, traulich versammelt um das Haupt eines Patriarchen, welcher mitten unter dem Toben der Völker wie ein guter Hirt die Seinen zusammenhält; zur Rechten aber sprengt eine Jünglingsschar in das Land, um mit stürmender Hand die Welt zu gewinnen.

Während der Sohn des Sem rückwärts blickend noch versenkt ist in den Anblick des lebendigen Gottes, der sich im Strafgerichte offenbart hat, sind die Japetiden nur vorwärts gerichtet; im frohen Gefühle entfesselter Kraft eilen sie in die Bahn wetteifernder Thatenlust. Bald lassen sie die andern Völkergruppen weit hinter sich zurück und beginnen, in Stämme und Zungen mannigfach gegliedert, unter einander den großen Wettkampf, indem sie über die gegen Abend gelegenen Hoch- und Tiefländer der Erde rastlos sich ausbreiten und an ihre Schritte den Gang der Weltgeschichte fesseln.

Diese Stämme haben alle den männlichen Trieb der Thatenlust als Erbteil empfangen; sie sind alle zu staatgründenden Völkern geworden; sie haben sich in Heldenliedern bezeugt, sie haben in Bild- und Bauwerken bleibende Denkmäler auf Erden hinterlassen. Je weiter sie aber im Osten zurückgeblieben sind, um so früher erscheinen sie uns in ihrer lebendigen Entwickelung gehemmt, in unbeweglichen Lebensformen erstarrt, oder auch mit fremdartigen Bestandteilen dergestalt verwachsen, daß jener Grundzug der arischen Völker verhüllt oder verwischt worden ist.

Um so reiner tritt er uns wieder entgegen, wenn wir aus Iran und Mesopotamien zu jenen Stämmen kommen, die früher und weiter gegen Abend gewandert sind, die im kleinasiatischen Halbinsellande Wohnung gemacht und mit Vorliebe solche Gegenden aufgesucht haben, wo Meer und Gebirge sich durchdringen. Wie nahe liegen die Wohnsitze der Lycier den Grenzen assyrischer Machtbildung und welch ein Gegensatz zwischen den entnervten und in äußerlicher Pracht verkommenen Gestalten, die uns in den Palästen von Ninive entgegentreten, und jenem apollinischen Volke, das sein enges Land zwischen Fels und Meer so heldenmütig allen Barbaren gegenüber verteidigt hat, dessen Kunst, wie unzählige Denkmäler bezeugen, das Gepräge jenes höheren Lebens trägt, welches das untrügliche Kennzeichen des hellenischen Völkergeschlechts diesseits und jenseits des ägäischen Inselmeeres ist! Wenn Sie daher, hochverehrte Anwesende, dem raschen Gedankenzuge von Babel bis Jonien gefolgt sind, so werden Sie jetzt dem Vertreter des klassischen Altertums, welchem Sie die Ehre gönnen an diesem Tage Ihr Redner zu sein, wie ich hoffe, um so lieber gestatten, auf dem Gebiete zu verweilen, an dessen Grenze er Sie geführt hat, und den Gedanken näher zu entwickeln, daß jener Grundzug des arischen Volkscharakters – wetteifernde Thatenlust – bei den Hellenen in größter Reinheit und vorbildlicher Bedeutung sich uns offenbart.

Sollte ich Ihnen mit einem Worte ein Kennzeichen des hellenischen Lebens angeben, durch das es sich von dem aller anderen Völker unterscheidet – ich würde sagen, es sei der Kranz. Ja der Kranz ist das Warenzeichen der Hellenen, das Symbol ihrer eigentümlichen Macht und Größe. Warum erschraken sonst die stolzen Feldherrn im Gefolge des Xerxes, als sie hörten, daß während des Anrückens ihrer Land- und Flottenheere die Griechen am Alpheios um Olivenkränze stritten? Sie erschraken, weil ihnen die Ahnung aufging von einer ihnen durchaus neuen Schätzung des Lebens, von einer Ansicht, die nicht im behaglichen Besitze, im ruhigen Genusse, sondern im Ringen und Streben den Wert des menschlichen Daseins suchte, und dieser Ansicht, das fühlten sie, müsse eine ganz eigene Art des Heldentums entsprießen. Es war aber nicht nur in Delphi und Olympia, es war überhaupt nicht nur in den Schranken der Rennbahn, daß die Hellenen ihre Wettkämpfe hielten; ihr ganzes Leben, wie es uns in der Geschichte des Volks vorliegt, war ein großer Wettkampf.

Ein Wettkampf – zunächst der Stämme. Zwar sehen wir auch in der orientalischen Geschichte die verschiedensten Stämme mit einander ringen; ein Volk erhebt sich über das andere und drängt es aus seiner Stelle; aber hier gilt es nur einen bestimmten Besitz. Ist dieser gewonnen, so folgt das Leben wieder den alten Geleisen; mit Erreichung des Ziels hört das Streben auf, und der Stämme Eigentümlichkeit verschwindet.

Die hellenische Geschichte beginnt, so wie sich die Stämme einander gegenübertreten; sie besteht wesentlich in der Wechselwirkung derselben und schließt, so wie diese aufhört.

Freilich treten sie nicht gleichzeitig auf. An der Ostseite des griechischen Meers erwacht das geschichtliche Leben, in den Küstenländern Kleinasiens, wo hellenische Stämme ihrer Kraft und ihres Berufs bewußt werden. Aber kaum haben sie den älteren Seevölkern die Kunst der Schiffahrt abgelernt, so fahren sie westwärts von Küste zu Küste, um die jenseitigen Bruderstämme zu erwecken und zum Wettkampfe aufzurufen. Zunächst sind sie die Gebenden. Sie bringen Schrift und Maß, sie lehren neue Götter kennen und verehren, sie lehren Städte bauen und Staaten gründen. Aber während des Empfangens erstarken die Binnenvölker; ein Stamm nach dem andern unter ihnen erhebt sich, und so wie sie aus den engen Bergkantonen hervortretend mit dem Meere in Berührung kommen, gewinnen sie Namen und Bedeutung. Nun drängen sie die jenseitigen Stämme bei Seite, nun gründen sie eigene Staaten – achäische, äolische, dorische – und je mehr diese Staaten in Städten ihren Mittelpunkt finden, um so bestimmter prägt sich der Stämme Eigentümlichkeit in Verfassung, Kunst und Sitte aus, um so lebhafter entbrennt der große Wettkampf. Denn nun bilden sich nicht nur die Hauptunterschiede aus, die des dorischen und jonischen Wesens, sondern auch innerhalb der Stämme beginnt der Städte Wettkampf, namentlich bei den Joniern, welche nur in der mannigfaltigsten Entwicklung ihre Befriedigung finden.

Blicken Sie auf die Küste Kleinasiens! Auf einem Raume, welchen man mit heutiger Geschwindigkeit in kurzer Tagesfahrt durchmessen könnte, erheben sich zwölf Städte neben einander und jede Stadt ist eine Welt für sich. Niemals ist so viel Geschichte wieder auf so engem Raum zusammengedrängt gewesen, niemals in regem Wetteifer der Kräfte so viel Energie entfaltet worden. Jede Stadt sucht ihren Beruf. Die eine ist landeinwärts gerichtet; sie ist beschäftigt den Binnenhandel an sich zu ziehen, die reichen Flußthäler auszubeuten, Lydien und Hellas zu verbinden. Die anderen Städte sind ganz der See zugekehrt, unter einander wetteifernd unbekannte Meere zu durchschiffen, neue Länder und Völker, neue Schätze der Erde zu entdecken. Milet dringt durch die Pforten des Pontus; aus dem Schleier nordischer Nebel zieht es die unermeßlichen Kornebenen Scythiens, während es zugleich die Wunder des Nillandes aufschließt; den fernen Westen entdecken die kühnen Seefahrer aus Samos und Phokaia, die ebensowohl Kriegsleute wie Kauffahrer waren. Zur Sicherung ihrer Handelsverbindungen gründen sie ihre überseeischen Faktoreien, diese erwachsen zu blühenden Tochterstädten, welche an den Ufern des Don wie an Rhone und Ebro die Pflanzschulen hellenischer Sitte wurden.

Milet war die Königin der Meere, ein griechisches Tyrus, der Markt der Welt. Athen und Sparta waren Winkelstädte gegen Milet – ja das ganze Griechenland, das wir das eigentliche zu nennen pflegen, war an Wohlstand, Glanz und Weltbildung von den westlichen und östlichen Kolonien weit überflügelt.

Aber in diesem Gedeihen lag der Keim der Entartung. Und worin zeigte sich diese? In nichts anderem als daß die üppigen Städte dem Principe des hellenischen Lebens untreu wurden; der Wetteifer erschlaffte, die Spannkraft erlahmte in trägem Wohlbehagen des Genusses. Darum erblich der Glanz des schönen Joniens, ja des ganzen Stammes Geschichte hätte sich rasch zu Ende geneigt, wenn nicht Athen sie aufgenommen hätte.

Die Armut war die Gespielin hellenischer Größe. Auf Attikas dürftigerem Felsboden hatte jonische Volkskraft sich gesund erhalten in der Abwechselung von Arbeit und Genuß, in der glücklichen Verbindung von Freiheit und Zucht, von Tapferkeit und Kunstpflege.

Nun wurde der Wettkampf, in welchem sich die Geschichte der Hellenen vollzieht, mehr und mehr ein Wettkampf zweier Staaten. In Sparta war dorische Stammesart am kräftigsten ausgeprägt; Sparta stand an der Spitze der Nation, als der Verfall Joniens anfing; es hatte einen weiten Vorsprung vor Athen. Aber die Ferne des Ziels schreckt den Mutigen nicht; sie spannt nur um so höher seine Kraft. Bald sah Sparta sich überflügelt und wurde nun immer spröder, immer abgeschlossener und schwerfälliger, je freier Athen sich entfaltete, je freudiger es in den Schranken voraneilte. Ja als zum großartigsten Wettkampfe die Persernot alle Kräfte des Griechenvolks aufrief, da hat Athen in der Schule der schwersten Drangsale, mit unglaublicher Anstrengung und Opferfreudigkeit den Ehrenkranz gewonnen. Es hat die sittliche Idee der griechischen Geschichte am tiefsten erfaßt, am vollständigsten verwirklicht, und was für den olympischen Sieger der Gesang des Pindar war, das ist für Athen die Rede des Perikles, in welcher er die Gräber des Kerameikos weihte und zugleich – seinen Mitbürgern zur Erhebung, allen nachfolgenden Menschengeschlechtern zur Bewunderung – ein lebensvolles Bild dessen entfaltete, was unter göttlichem Segen durch der Bürger wetteifernde Tüchtigkeit Athen geworden war.

Zum Tode verwundet kam Athen aus dem Bürgerkriege hervor, aber, so oft es sich erholt, beginnt es von neuem den Wettkampf gegen Sparta wie gegen Theben, mit dem der weit zurückgebliebene Stamm der Äolier noch einmal in die Schranken eintritt; es erneuert Makedonien gegenüber seinen geschichtlichen Anspruch die erste Stadt der Hellenen zu sein und seine letzten Versuche sind auch die letzten Atemzüge der griechischen Geschichte.

Es ist unrecht, die griechische Staatengeschichte im Vergleiche mit anderen gering zu schätzen und den raschen Verlauf derselben, ihre ruhelosen Kämpfe und Gährungen als einen Beweis dafür anzuführen, daß die Hellenen zur Lösung politischer Aufgaben nur geringe Befähigung besessen hätten.

Der beste Gegenbeweis ist die Thatsache, daß die Hellenen alle Gattungen von Staatsverfassungen bei sich ausgebildet, ihre verschiedenen Formen klar ausgeprägt und zugleich eine für alle Zeit maßgebende Staatslehre begründet haben. Ein Volk, dessen Geschichte mit der Politik des Aristoteles abschließt, ist gewiß kein unpolitisches. Aber je mehr die edelsten Staaten des Altertums in der freien Entfaltung aller menschlichen Anlagen ihren Beruf erkannten – denn auch der einzelne Staat war eine Palästra bürgerlicher Tüchtigkeit, wo dem Bestbewährten als Preis Macht und Ehre erteilt wurde – um so rascher verzehrten sich die Kräfte, um so kürzer war die Lebensdauer jener Staaten. Dazu kommt, daß nach der Schwäche menschlicher Natur jener Wetteifer der Staaten zum blutigen Kampfe wurde. Auch Athens Ehrgeiz, so edler Quelle er entsprungen war, ist zur rücksichtslosesten Herrschsucht ausgeartet, und so ist die vom Wetteifer entfachte Flamme der Begeisterung ein Feuer geworden, das im Brande des Bürgerkriegs die Blüte der Staaten frühzeitig vernichtet hat.

Lauterer und wohlthätiger ist der Wetteifer auf dem Gebiete geblieben, auf welchem alle bereit sind der Hellenen volle Bedeutung anzuerkennen. Denn während ihren Staatsbildungen – so lehrreich allen Zeiten ihre Betrachtung sein wird – doch keine über den Kreis ihrer Volksgeschichte hinausreichende Gültigkeit zugeschrieben werden kann, sind sie in Kunst und Wissenschaft bis heute die Gesetzgeber geblieben, und diese weltgeschichtliche Stellung verdanken sie jenem Triebe, der ihnen keine Ruhe ließ, bis sie das Ihrige gethan hatten, um alle dem Menschen verliehenen Kräfte zu entwickeln und dieselben bis zur vollständigen Ausbildung durch den Reiz des Wetteifers in Spannung zu halten.

Die ganze Poesie der Hellenen ist im Wettkampfe groß gezogen. In den Palästen der Fürsten, an den Grabhügeln der Helden, vor den Tempeln der Götter, auf den vollen Märkten der Städte wetteiferten die Rhapsoden. In diesen Kämpfen erstarkte die epische Kunst zu jener vollen Kraft und Sicherheit, in der uns von Anfang an das griechische Epos entgegentritt. Als Wettgesang vor dem versammelten Volke blieb die Kunst auch bei vollendeter Meisterschaft durchaus national; sie konnte nicht erstarren in schulmäßigen Formen noch in Künstelei und Willkür des Geschmacks abirren. Sie schloß sich den Neigungen und Stimmungen der verschiedenen Stämme an, und während dem Phlegma ackerbauender Äolier das lehrhafte Epos zusagte, gaben die feuriger bewegten, thaten- und wanderlustigeren Stämme dem Heldenliede Homers den Preis vor Hesiod.

Im Wetteifer der Stämme bildete sich die griechische Musik, ordneten und gründeten sich die nationalen Weisen lyrischer Kunst. Im Namen der Götter wurden die Hymnensänger aufgeboten, und es empfing den Ehrenpreis, wer bei dem Weihefeste des neuen Tempels die große Diana von Ephesus am herrlichsten gefeiert hatte.

Am vollkommensten aber entfaltete sich hellenischer Wetteifer in der vollendetsten Kunstgattung – im Drama. Denn ein großartigeres Schauspiel bürgerlichen Wetteifers hat die Welt nicht gesehen, als wenn zu des Dionysos Ehren die Festchöre aufzogen, welche die reichen Bürger Athens im Namen der Stämme, denen sie angehörten, ausgestattet und eingeübt hatten. Hier traten alle Geisteskräfte, mit denen die Hellenen gesegnet waren, alle Künste, die in Athen blühten, in brüderlichem Wetteifer zusammen. Die Baukunst empfing die Bürger und Gäste in ihren Marmorhallen und schmückte die Bühne mit Hilfe der Malerei und Plastik; die Orchestik ordnete die Tänze, die Musik beseelte die Chorlieder, der Schauspieler dachte sich in die Seele der Heroen hinein, deren Thaten und Leiden er dem Volke vorführte – alles aber diente wetteifernd der königlichen Kunst, der Poesie, die das Ganze leitend zusammenhielt. Wenn in solchem Geiste nach dem Höchsten gerungen wurde, so begreift man, daß die Athener ihrem von Land- und Seesiegen heimkehrenden Helden keine größere Ehre zu erweisen wußten, als daß sie ihm zwischen den wetteifernden Chören des Äschylos und Sophokles das Urteil des Preisrichters anheimgaben.

Alle Kunst der Griechen war an unmittelbare Anerkennung von Seiten des Volks gewöhnt. Der Geschichtschreiber las dem Volke seine Geschichte vor, die Meister und Schüler der bildenden Kunst wetteiferten in Darstellung der Götter und Heroen vor dem Volke. Das ganze Volk wurde überall in die Interessen der Kunst hereingezogen; es wurden alle zum Prüfen, zum Urteilen gewöhnt und lernten von Jugend an durch begeisterte und selbstthätige Teilnahme den Genuß erhöhen. So wurde die Kunst, so namentlich das Theater den Griechen eine Volksschule im höchsten Sinne des Worts.

So sehr es aber auch der freie Wettkampf der Kräfte war, der wie der belebende Hauch durch die gesamte Thätigkeit, durch alle Leistungen der Griechen hindurchwehte, so waren sie doch weit entfernt, den Trieb, welchen der Wetteifer anregt, seiner natürlichen Beschaffenheit zu überlassen, in welcher er mehr zum Schlechten als zum Guten führt. Sie haben den wilden Trieb gezähmt, sie haben ihn gesittigt und veredelt, indem sie ihn der Religion dienstbar gemacht haben.

An sich scheint die Religion, in welcher Form sie sich auch darstellen mag, am wenigsten geeignet und berufen zu sein, den Trieb des Wetteifers zu erwecken. Im Gefühle des Unvermögens wurzelnd, demütigt sie den Menschen der Gottheit gegenüber und anstatt ihn zu eigenwilligen Kraftäußerungen und neuen Erwerbungen anzuspornen, verpflichtet sie ihn am Gegebenen festzuhalten und in selbstverleugnender Treue den väterlichen Überlieferungen anzuhangen. Wie sehr die Hellenen diese Bedeutung der Religion zu würdigen wußten, beweist die musterhafte Treue, welche sie mitten in der ruhelosen Bewegung ihres bürgerlichen Lebens den überlieferten Ordnungen des Gottesdienstes bewahrt haben, und wenn die Propheten des alten Bundes ihre immer wankelmütigen Landsleute auf die Heiden hinweisen: Gehet hin in die Inseln Chitim und schauet, ob es daselbst so zugehe, ob die Heiden ihre Götter ändern! – so findet dies auf alle Hellenen, namentlich auf die Athener Anwendung; es hat in religiösen Dingen kein konservativeres Volk gegeben.

Indessen tritt ja das Volk nicht bloß im Gefühle der Machtlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit seinen nationalen Göttern gegenüber, sondern auch beim Opfer des Danks für den empfangenen Erntesegen, und es scheint die freudige Anerkennung und Aneignung desselben vor den Göttern die natürlichste Form des Dankes zu sein. Darum finden wir bei Hellenen wie bei Barbaren die Opfer mit Opfermahlzeiten, mit frohen Festen und Lustbarkeiten verknüpft. Hier aber tritt uns gerade die Eigentümlichkeit des hellenischen Wesens recht deutlich entgegen. Bei den andern Völkern besteht die Festfreude im Vollgenuße der irdischen Güter; die Hellenen kannten eine höhere Freude, und diese fanden sie in der durch jugendlichen Wetteifer gesteigerten und durch Teilnahme des ganzen Volks begeisterten Übung ihrer Seelen- und Körperkräfte. Denn um ihre Götter zu ehren, glaubten sie nicht nur die Erstlingsfrüchte der Felder, die kräftigsten Tiere ihrer Herden, sondern vor allem die Blüte der Jugend in ihrer Gesundheit und Kraft den Göttern darstellen zu müssen, und zwar nicht bloß in feierlichen Aufzügen, in festlichen Tänzen, sondern auch in freudigem Wettkampfe sollten ihre Jünglinge zeigen, daß sie die reichlich empfangenen Gottesgaben zu voller Entwickelung zu fördern nicht träge gewesen seien. So sind die Wettkämpfe ein Opfer des Danks, dessen die Götter sich freuen.

Darum sind alle regelmäßigen Wettkämpfe, die wir in geschichtlicher Zeit nachweisen können, an Götterfeste geknüpft; ihre Schauplätze sind ursprünglich die Tempelhöfe, die eigentlichen Zuschauer die Götter. Ihnen wird ja alles verdankt, was zum Wettkampfe befähigt, die Spannkraft der Muskeln, die im Laufe ausdauernde Brust, die Harmonie der Glieder, die Stimme des Gesangs wie die geistbeseelte Rede – was also immer an Ehre und Gewinn dadurch erworben wird, gebührt von Rechtswegen der Gottheit. Der Mensch hat neben ihr keinen Anspruch. Die gewonnenen Dreifüße werden also zum dauernden Schmucke um das Haus des Gottes aufgestellt, und wer den goldenen Siegespreis, den er mühevoll genug errungen hat, etwa heimtragen wollte, der würde dem Gotte das Seine nehmen, er würde der Strafe des Tempelraubes verfallen, und die Gemeinde, welche ihn schützen wollte, müßte aus der Genossenschaft des gottesdienstlichen Vereins ausgestoßen werden.

Je deutlicher sich die Hellenen in ihrem Volksbewußtsein von den Barbaren unterscheiden lernten, um so lauterer und eigentümlicher haben sie die Idee des Wettkampfes entwickelt, und diejenigen unter ihnen, welche jenen Gegensatz am kräftigsten darzustellen berufen waren, die Dorier, haben am entschiedensten dahin gewirkt, jede Rücksicht auf Eigennutz und alle unreinen Beimischungen zu entfernen. Die Wertpreise verschwinden, damit keiner, den schnöder Gewinn anlockt, an den heiligen Schauspielen sich beteilige. Der Kranz von Blättern, der Laubzweig, die wollene Binde haben ja keinen andern Wert, als daß sie Symbole des Sieges sind, die von den Göttern selbst – wie die dem Timoleon von der Tempeldecke auf das Haupt fallende Binde – oder in der Gottheit Namen von den stellvertretenden Preisrichtern vor den Augen des Volks ausgeteilt werden.

Der Kranz ist vom Baume, welcher dem Gotte heilig ist. Wer mit dem Kranze angethan wird, stellt sich dadurch als ein dem Gotte Zugehöriger dar; er wird ihm zugeeignet und gleich wie das Opfertier bekränzt wird, damit es als göttliches Eigentum gegen jede unheilige Menschenhand sicher gestellt werde, wie Häuser, Straßen, Plätze durch ihre Bekränzung den Göttern sinnbildlich zugeeignet werden, deren Laub sie tragen – so wurde auch der Sieger, wie ein den Göttern wohlgefälliges Opfer mit Binden geschmückt, mit Kränzen geweiht. Auf alten Vasenbildern sehen wir den stolzen Sieger, dem das beneidenswerteste Erdenglück zu Teil geworden ist, dargestellt, wie er sich demütig den starken Arm umbinden läßt, um dann im Tempel vor den Augen des Gottes Palmzweig und Kranz zu empfangen. Auch die Kränze pflegte der Sieger nicht als Eigentum mitzunehmen, sondern im Heiligtume der heimatlichen Gottheit, die seine Jugend gnädig behütet hatte, aufzuhängen.

Damit steht noch ein anderes in nahem Zusammenhange, nämlich daß in den Schranken nicht gestattet war mit roher Kraft zuzufahren oder nach eigenen Gelüsten den Kampf zu führen. Es wurde ja niemand zugelassen, welcher nicht nach hellenischem Brauche kunstmäßig seine Kraft ausgebildet hatte, und keiner empfing den Siegerkranz, welcher sich nicht allen feierlich beschworenen Normen des Kampfes willig unterworfen hatte.

So haben die Hellenen durch einfache Bräuche und Satzungen den Menschen auf des Glückes Gipfel demütig zu halten gewußt; sie haben den Sporn des Wetteifers angewendet, um sich gegen des Fleisches Trägheit zu schützen, aber sie haben den Eifer von allem Selbstischen zu klären gesucht, sie haben den wilden Trieb des Ehrgeizes geordnet und veredelt durch die Zucht des Gesetzes und der Religion.

Was sie als Ziel erstrebten, liegt deutlich vor uns; in diesem Streben offenbart sich uns der Geist der Hellenen auf der Höhe seiner sittlichen Kraft, und die Anerkennung desselben sollen wir uns nicht etwa durch den Gedanken verleiden lassen, daß jenes Streben in Wirklichkeit ein durch Leidenschaft vielfach getrübtes, durch Schwäche gehemmtes gewesen sei. Das ist freilich leicht zu erkennen und nachzuweisen. Aber wenn ein Mann, mit herrlichen Gaben geschmückt, segensreich in unserer Mitte gewirkt hat, so werden wir doch, wenn wir sein Leben und Wirken darstellen, nicht bei den Mängeln und Schwächen verweilen, welche er mit allen Wesen seiner Art teilte, sondern vorzugsweise bei dem Großen und Ausgezeichneten, bei der besonderen Kraft, die Gott in ihm uns hat offenbaren wollen. Ebenso dürfen und sollen wir auch die Völker des Altertums betrachten. Dieser Idealismus ist das schönste Vorrecht der klassischen Philologie. Denn was ein einzelner, was ein Volksstamm in der Blüte seiner Kraft, im höchsten Aufschwunge seiner Natur, in seinen besten Tagen und Stunden ist, das ist er wirklich und ganz, und das sollen wir zur Erinnerung unserem Gemüte einprägen.

So lange die Hellenen in dieser Weise um den Kranz kämpften, waren sie ein mächtiges, ein unüberwindliches Volk; so wie ihre Schwungkraft ermattete, verlor der Kranz seine Bedeutung und blieb nur als eitler Schmuck in Geltung. Die Kirchenväter eiferten gegen die Bekränzung, weil sie in ihr nur eins der auffallendsten Zeichen heidnischer Götterverehrung sahen. Uns aber soll der hellenische Kranz kein Ärgernis sein, sondern das Symbol eines auch für uns vorbildlichen Strebens.

Dieser Standpunkt ist durch die ehrwürdigste Autorität unserer Kirche vertreten. Denn derselbe Mann, der auf dem Areopag den unbekannten Gott verkündete und statt des Kranzes das Kreuz mit der Dornenkrone in Hellas aufrichtete – wie sehr liebt er es sich selbst in seinem Ringen und Laufen einem Wettkämpfer zu vergleichen, wie eindringend ermahnt er seine Korinther, ihren isthmischen Kampfhelden nachzueifern, wie treffend hebt er in seinen Briefen die vorbildliche Bedeutung der hellenischen Agonistik hervor! Diese findet er zunächst in der Enthaltsamkeit, der sich der Kämpfer befleißigen muß, um seinen Leib leicht und kampfrüstig, seine Glieder schwungkräftig zu erhalten; zweitens ist es der Gehorsam der gefordert wird, die Verleugnung aller selbstsüchtigen Willkür, die Anerkennung einer festen Ordnung, in welcher dem Kleinode nachgejagt werden soll; es ist endlich – wie es die Alten in den Erzbildern ihrer Olympioniken unnachahmlich darzustellen wußten – das Sich- vorwärts-strecken des ganzen Menschen nach Einem Ziele, zu dem alle berufen werden, zu dem viele laufen, aber nur wenige gelangen.

So sollen also auch wir das Große, das im Altertume offenbar geworden ist, nicht bloß erkennen und schön finden; wir sollen nicht schwärmen in bewundernder Erinnerung an das hohe Streben der Hellenen, sondern wir sollen das, was daran ewig gültig ist, der Vergangenheit entreißen und uns mit kräftigem Entschlusse aneignen. Denn nicht für sich, sondern für alle kommenden Geschlechter haben die Hellenen den Barbaren alter und neuer Zeit gegenüber die Wahrheit an das Licht gebracht, daß nicht das Besitzen und Genießen, sondern das Ringen und Streben bis ans Ende des Menschen Beruf und seine einzige wahre Freudenquelle sei.

Man hat den Deutschen wohl die Ehre erwiesen, ihnen ein besonderes Verständnis des hellenischen Wesens zuzutrauen. Gewiß ist, daß unser Volk in seiner ganzen Entwickelung durch eine Reihe wichtiger Analogien auf die Geschichte der Hellenen hingewiesen ist. Die Geschichte beider Völker ist nicht nur aus der ihrer Stämme erwachsen, sondern hat den Charakter einer solchen länger festgehalten als bei anderen Völkern der Fall ist. In Hellas wie in Deutschland hat sich das lebendige Sonderbewußtsein der Stämme gegen den Abschluß einer ausgleichenden Staatsordnung gesträubt und alle Versuche vereitelt, die gemeinsame Volkstümlichkeit in allgemein gültigen und dauerhaften Staatsformen auszuprägen. Hier wie dort ist die nationale Einheit ein geistiger, ein innerlicher Besitz geblieben, eine über den einzelnen Stämmen und Staaten schwebende Idee. Um so mehr ist die geistige Verwirklichung derselben ein Gegenstand des Wetteifers geworden, indem von den begabteren Stämmen jeder nach seiner Weise in Glauben und Sitte, in Kunst und Wissenschaft das nationale Bewußtsein auszubilden gestrebt hat, und was in diesem großen Wettkampfe der Kräfte Gutes und Schönes gelungen ist, das ist bei den Deutschen wie bei den Griechen des ganzen Volkes Gesamtbesitz geworden, und wer kann verkennen, wie viel auch unsere Bildung, unsere Litteratur diesem Wettkampfe verdankt!

Zur Teilnahme an diesem Wettkampfe, der uns die frische Strömung und den Reichtum des inneren Volkslebens verbürgt, sind vor allen die Universitäten unseres Vaterlandes berufen; ja sie sollen diesen Kampf in seiner reinsten Form, in seiner vollen Idealität darstellen. Nirgends sollte lebendiger als hier der gemeinsame Besitz vaterländischer Bildung als das teuerste Erbe, das wir von den Vätern empfangen haben, erkannt und erfaßt werden; hier soll es mit treuen Händen gepflegt und mit Hinblick auf das gemeinsame Ziel unverdrossen erweitert werden. Andererseits hat aber auch jede einzelne der deutschen Hochschulen nach ihrer örtlichen Lage, ihren Verhältnissen und ihrer eigenen Vergangenheit ihren besonderen Beruf, ihre eigentümliche Bahn. Jeder ist die Freiheit, jeder die Pflicht gegeben nach dem höchsten Kranze zu ringen.

Aber ist nicht auch jede unserer Universitäten für sich berufen, ein Kampfplatz des Wetteifers zu sein? Werden nicht die Männer, denen das Lehramt anvertraut ist, je brüderlicher sie im Gefühle des gemeinsamen, hohen Berufs zusammenstehen, um so lebendiger mit einander wetteifern in Erweckung der Jugend, in Förderung der Wissenschaft? Ja dieser Wetteifer erstreckt sich weit über die Grenze des zeitlichen Zusammenlebens; denn die geistigen Genossenschaften gehen durch Generationen hindurch, und wenn die Hellenen ihre Heldengräber mit Kampfspielen ehrten, um zu zeigen, daß die Tugenden der Väter nicht mit ihnen in das Grab gesunken seien, so feiern wir das Gedächtnis der teuern Männer, die uns angehört haben, durch den Eifer ihre Tugenden fortzupflanzen, ihr Andenken lebendig zu erhalten und in ihre Arbeit rüstig einzutreten. Die Jugend aber – wie könnte sie aus so vielen Städten und Gauen des Vaterlandes hier zusammenströmen, ohne daß dadurch die in den einzelnen schlummernden Kräfte zu gemeinsamem Streben geweckt, zum freudigen Wetteifer begeistert werden sollten!

An Eifer und Wetteifer fehlt es freilich nirgends unter den Menschen und von Jahr zu Jahr rennen sie mit steigender Ungeduld durcheinander, damit einer dem andern den Preis abjage. Aber da handelt es sich um Gewinn und Besitz, um Ehre und Einfluß oder eitlen Sinnengenuß; unser gemeinsamer Beruf fordert einen Wetteifer, wie ihn die Hellenen geübt haben, den Wetteifer, welcher in der freien Entfaltung aller Kräfte, im selbstverleugnenden Streben nach dem höchsten Ziele seine volle Befriedigung findet.

Daß ich am heutigen Tage gerade diese Richtung meinen Gedanken gegeben habe, kann Sie nicht befremden. Denn ich darf ja im Namen einer Universität reden, deren Gründung von dem hochherzigen Gedanken ausgegangen ist, daß ein deutscher Staat durch Zuwachs an Macht und Ehre zugleich die Verpflichtung empfange, in der Förderung deutscher Wissenschaft mit allen Nachbarstaaten zu wetteifern, einer Universität, welche den Gedanken ihres königlichen Gründers unter Gottes sichtlichem Segen verwirklicht, die, seit sie in die Schranken eingetreten ist, viel unverwelkliche Ehrenkränze gewonnen hat und mit den auserwähltesten Namen deutscher Nation verwachsen ist.

Ich brauche um so weniger zu besorgen, daß ich Fernliegendes zum Gegenstande dieser Rede gewählt habe, wenn ich bedenke, wie der König, welcher dem Gründer der Georgia-Augusta auch in der Liebe zu ihr nachgefolgt ist, seinen Geburtstag uns für alle Zeiten zum Festtage gemacht hat. Denn indem er diesen Tag zur Austeilung der erworbenen Preise wie zur Verkündigung neuer Preisaufgaben bestimmt hat, konnte er dabei doch keine andere Absicht haben, als die Idee des geistigen Wettkampfs, so zu sagen, mitten in unser Leben hineinzustellen und in jährlicher Feier immer von neuem uns vor die Seele zu führen.

Wenn nun der Gedanke des königlichen Gründers sich also vererbt und in seinem erhabenen Hause sich bis heute so lebendig erhalten hat, wie wir es alle hier mit ehrerbietigem Danke anerkennen, wenn eine erleuchtete Regierung den Ruhm der Georgia-Augusta wie das kostbarste Vermächtnis zu hüten und auf alle Weise zu fördern als eine ihrer heiligsten Verpflichtungen ansieht, so liegt es also nur an uns, daß die Zukunft unserer Universität ihrer Vergangenheit entspreche und daß wir dazu alle, jung und alt, in freudigem Wetteifer das Unsere beitragen.