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1.
Die fünf Hauptepochen
im Erdenleben der Menschheit.
Von Johann Gottlieb Fichte (1762 - 1814).
Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Dargestellt in Vorlesungen, gehalten zu Berlin im Jahre 1804-1805. (Berlin 1806). Erste Vorlesung: Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit sei der, daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte; wodurch dieses Leben in fünf Hauptepochen zerfalle.“
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Ehrwürdige Versammlung!
Wir heben hiermit an eine Reihe von Betrachtungen welche jedoch im Grunde nur Einen einzigen, durch sich selbst eine organische Einheit ausmachenden Gedanken ausdrücken. Könnte ich diesen einen Gedanken in derselben Klarheit, mit der er mir beiwohnen mußte, ehe ich an das Unternehmen ging, und mit welcher er mich leiten muß bei jedem einzelnen Worte, das ich sagen werde, auch Ihnen sogleich mitteilen: so würde von dem ersten Schritte an das vollkommenste Licht sich verbreiten über den ganzen Weg, den wir miteinander zu machen haben. Aber ich bin genötigt, diesen Einen Gedanken vor Ihren Augen erst allmählich aus allen seinen Teilen aufzubauen, und aus allen seinen bedingenden Ingredientien herauszuläutern: dies ist die notwendige Beschränkung, welche jedwede Mitteilung drückt; und durch dieses ihr Grundgesetz allein wird zu einer Reihe von Gedanken und Betrachtungen ausgedehnt und zerspalten, was an sich nur ein einziger Gedanke gewesen wäre.
Da dieses sich also verhält, so muß ich, zumal weil hier nicht alte bekannte Sachen nur wiederholt, sondern neue Ansichten der Dinge gegeben werden sollen, voraussetzen und darauf rechnen, daß es Sie nicht befremde, wenn im Anfange nichts diejenige Klarheit hat, die es nach dem Grundgesetze aller Mitteilung erst durch das nachfolgende erhalten kann: und ich muß Sie ersuchen, die vollkommene Klarheit erst am Schlusse, und nachdem die Übersicht des Ganzen möglich geworden, zu erwarten. Daß jedoch jedweder Gedanke an seine Stelle zu stehen komme, und diejenige Klarheit erhalte, die er an dieser ihm gebührenden Stelle erhalten kann, – es versteht sich für diejenigen, die der deutschen Büchersprache mächtig, und fähig sind einen zusammenhängenden Vortrage zu folgen, – ist die Pflicht eines jeden, der es unternimmt etwas vorzutragen; und ich werde mit ernster Mühe mich bestreben, diese Pflicht zu erfüllen.
Lassen Sie uns jetzt, E. V., nach dieser ersten und einzigen Vorerinnerung, ohne weiteren, Aufenthalt an unser Geschäft gehen.
Ein philosophisches Gemälde des gegenwärtigen Zeitalters ist es, was diese Vorträge versprechen. Philosophisch aber kann nur diejenige Ansicht genannt werden, welche ein vorliegendes Mannigfaltiges der Erfahrung auf die Einheit des Einen gemeinschaftlichen Princips zurückführt und wiederum aus dieser Einheit jedes Mannigfaltige erschöpfend erklärt und ableitet. – Der bloße Empiriker, falls er an eine Beschreibung des Zeitalters ginge, würde manche auffallende Phänomene desselben, so wie sie sich ihm in der zufälligen Beobachtung darböten, auffassen und herzählen, ohne je sicher sein zu können, daß er sie alle erfaßt hätte, und ohne je einen andern Zusammenhang derselben angeben zu können, als den, daß sie nun eben in Einer und derselben Zeit beisammen seien. Der Philosoph, der sich die Aufgabe einer solchen Beschreibung setzte, würde unabhängig von aller Erfahrung einen Begriff des Zeitalters, der als Begriff in gar keiner Erfahrung vorkommen kann, aufsuchen, und die Weisen, wie dieser Begriff in der Erfahrung eintritt, als die notwendigen Phänomene dieses Zeitalters darlegen; und er würde in dieser Darlegung die Phänomene begreiflich erschöpft, und sie in der Nothwendigkeit ihres Zusammenhanges untereinander vermittelst ihres gemeinsamen Grundbegriffs abgeleitet haben. Jener wäre der Chronikenmacher des Zeitalters, dieser erst hätte einen Historiographen desselben möglich gemacht.
Zuvörderst: hat der Philosoph die in der Erfahrung möglichen Phänomene aus der Einheit seines vorausgesetzten Begriffs abzuleiten, so ist klar, daß er zu seinem Geschäfte durchaus keiner Erfahrung bedürfe, und daß er bloß als Philosoph, und innerhalb seiner Grenzen streng sich haltend, ohne Rücksicht auf irgend eine Erfahrung und schlechthin a priori, wie sie dies mit dem Kunstausdrucke benennen, sein Geschäft treibe, und, in Beziehung auf unseren Gegenstand, die gesamte Zeit und alle möglichen Epochen derselben a priori müsse beschreiben können. Ganz eine andere Frage aber ist es, ob nun insbesondere die Gegenwart durch diejenigen Phänomene, welche aus dem aufgestellten Grundbegriffe fließen, charakterisirt werde, und ob somit das vom Redner geschilderte Zeitalter das gegenwärtige sei, falls er auch dieses behaupten sollte, wie wir z.B. das behaupten werden. Hierüber hat ein jeder bei sich selber die Erfahrungen seines Lebens zu befragen, und sie mit der Geschichte der Vergangenheit, sowie mit seinen Ahnungen von der Zukunft zu vergleichen: indem an dieser Stelle das Geschäft des Philosophen zu Ende ist, und das des Welt- und Menschenbeobachters seinen Anfang nimmt. Wir unseres Ortes gedenken hier nichts weiter zu sein, denn Philosophen, und haben uns zu nichts anderem verbunden: die letztere Beurteilung wird daher, sobald wir zur Stelle sein werden, ganz Ihnen anheimfallen. Jetzt bleiben wir bei unserem Vorhaben, unsere Grundaufgabe erst recht festzusetzen und zu bestimmen.
Sodann: jede einzelne Epoche der gesamten Zeit, deren wir soeben erwähnen, ist Grundbegriff eines besonderen Zeitalter. Diese Epochen aber und Grundbegriffe der verschiedenen Zeitalter können nur neben-und durcheinander, vermittelst ihres Zusammenhanges zu der gesamten Zeit, gründlich verstanden werden. Es ist daher klar, daß der Philosoph, um auch nur ein einziges Zeitalter, und, falls er will, das seinige, richtig zu charakterisiren, die gesamte Zeit und alle ihre möglichen Epochen schlechthin a priori verstanden und innigst durchdrungen haben müsse.
Dieses Verstehen der gesamten Zeit setzt, so wie alles philosophische Verstehen, wiederum einen Einheitsbegriff dieser Zeit voraus, einen Begriff einer vorher bestimmten, obschon allmählich sich entwickelnden Erfüllung dieser Zeit, in welcher jedes folgende Glied bedingt sei durch sein vorhergehendes; oder, um dies kürzer und auf die gewöhnliche Weise auszudrücken: es setzt voraus einen Weltplan, der in seiner Einheit sich klär]ich begreifen, und aus welchem die Hauptepochen des menschlichen Erdenlebens sich vollständig ableiten, und in ihrem Ursprunge sowie in ihrem Zusammenhange untereinander sich deutlich einsehen lassen. Der erstere, jener Weltplan, ist der Einheitsbegriff des gesamten menschlichen Erdenlebens; die letzteren, die Hauptepochen dieses Lebens, sind die eben erwähnten Einheitsbegriffe jedes besonderen Zeitalters, aus denen wiederum desselben Phänomene abzuleiten sind.
Wir haben folgendes: zuvörderst einen Einheitsbegriff des gesamten Lebens, der sich spaltet in verschiedene Epochen, die nur neben- und durcheinander begreiflich sind; sodann, jede dieser besonderen Epochen ist wiederum Einheitsbegriff eines besonderen Zeitalters, und erscheint in mannigfaltigen Phänomenen.
Erdenleben der Menschheit gilt uns hier für das gesamte Eine Leben, und die irdische Zeit für die gesamte Zeit; dies ist die Grenze, in welche die beabsichtigte Popularität unseres Vortrages uns einschränkt; indem von dem Überirdischen und Ewigen sich nicht gründlich reden läßt, und zugleich populär. Hier, sage ich, in diesen Vorträgen, gilt sie uns dafür; denn an sich und für den höheren Aufschwung der Speculation ist das menschliche Erdenleben und die irdische Zeit selbst nur eine notwendige Epoche der Einen Zeit und des Einen ewigen Lebens; und dieses Erdenleben, samt seinen Nebengliedern, läßt sich aus dem schon hienieden vollkommen möglichen Einheitsbegriffe des ewigen Lebens ableiten. Bloß unsere dermalen freiwillige Beschränkung verbietet uns, diese streng erweisende Ableitung zu unternehmen, und verstattet uns nur den Einheitsbegriff des Erdenlebens deutlich anzugeben, mit der Anmuthung au jeden Zuhörer, diesen Begriff an seinem eigenen Wahrheitsgefühle zu erproben, und ihn richtig zu finden, falls er es vermag. Erdenleben der Menschheit, haben wir gesagt, und Epochen dieses Erdenlebens der Menschheit. Wir reden hier nur vom Fortschreiten des Lebens der Gattung, keinesweges von dem der Individuen, – welches letztere durch alle diese Vorträge hindurch an seinen Ort gestellt bleibt, – und ich ersuche, daß Sie diesen Gesichtspunct sich nie verschwinden lassen.
Der Begriff eines Weltplans also wird unserer Untersuchung vorausgesetzt, den ich, aus dem angegebenen Grunde, hier keinesweges abzuleiten, sondern nur anzuzeigen habe. Ich sage daher, – und lege damit den Grundstein des aufzuführenden Gebäudes – ich sage: der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte.
Mit Freiheit, habe ich gesagt, ihre eigene, der Menschheit Freiheit, diese Menschheit als Gattung genommen; und diese Freiheit ist die erste Nebenbestimmung, unseres aufgestellten Hauptbegriffs aus der ich zu folgern gedenke, indeß ich die übrigen Nebenbestimmungen, welche wohl ebenfalls einer Erklärung bedürfen möchten, den folgenden Vorträgen überlasse. Diese Freiheit soll in dem Gesamtbewußtsein der Gattung erscheinen! und eintreten als ihre eigene Freiheit, als wabre wirkliche That und als Erzeugnis der Gattung in ihrem Leben, und hervorgehend aus ihrem Leben; daß sonach die Gattung, als überhaupt existirend, dieser ihr zuzuschreibenden That vorausgesetzt werden müßte. (Soll eine genannte Person etwas gethan haben, so wird vorausgesetzt, daß sie vor der That um den Entschluß zu fassen, und während der That, um ihn auszuführen, existirt habe; und jederman dürfte wohl den Beweis der Nichtexistenz derselben zu der Zeit, zugleich für den Beweis des Nichtgethanhabens zu derselben Zeit, gelten lassen. Gleichermaßen – soll die Menschheit, als Gattung, etwas gethan haben und erscheinen, als es gethanhabend, so muß dieser That notwendig die Existenz der Gattung in einer Zeit, da sie es noch nicht gethan hatte, vorausgesetzt werden.)
Durch diese Bemerkung zerfällt zuvörderst, nach dem aufgestellten Grundbegriffe, das Erdenleben des Menschengeschlechts in zwei Hauptepochen und Zeitalter: die eine, da die Gattung lebt und ist, ohne noch mit Freiheit ihre Verhältnisse nach der Vernunft eingerichtet zu haben; und die andere, da sie diese vernunftmäßige Einrichtung mit Freiheit zu Stande bringt.
Um unsere weitere Folgerung von der ersten Epoche anzuheben – daraus, daß die Gattung noch nicht mit freier That ihre Verhältnisse nach der Vernunft eingerichtet, folgt nicht, daß diese Verhältnisse überhaupt sich nicht nach ihr richten; und es soll darum durch das erstere keineswegs das letztere zugleich mitgesagt sein. Es wäre ja möglich, daß die Vernunft durch sich selber und ihre eigene Kraft, ohne alles Zuthun der menschlichen Freiheit, die Verhältnisse der Menschheit bestimme und ordnete. Und so verhält es sich denn wirklich. Die Vernunft ist das Grundgesetz des Lebens einer Menschheit, so wie alles, geistigen Lebens; und auf diese, und keine andere Weise soll in diesen Vorträgen das Wort Vernunft genommen werden. Ohne die Wirksamkeit dieses Gesetzes kann ein Menschengeschlecht gar nicht zum Dasein kommen, oder, wenn es dazu kommen könnte, es kann ohne diese Wirksamkeit keinen Augenblick im Dasein bestehen. Demnach, wo, wie in der ersten Epoche, die Vernunft noch nicht vermittelst der Freiheil wirksam sein kann, ist sie als Naturgesetz und Naturkraft wirksam; doch also, daß sie im Bewußtsein, nur ohne Einsicht der Gründe, somit in dem dunklen Gefühle (denn also nennen wir das Bewußtsein ohne Hinsicht der Gründe) eintrete und sich wirksam erzeige.
Kurz und auf die gewöhnliche Weise dieses ausgedrückt: der Vernunft wirkt als dunkler Instinkt, wo sie nicht durch die Freiheit wirken kann. So wirkt sie in der ersten Hauptepoche des Erdenlebens der menschlichen Gattung; und hierdurch wäre denn diese erste Epoche näher charakterisirt und genauer bestimmt.
Durch diese genauere Bestimmung der ersten Epoche ist, vermittelst des Gegensatzes, zugleich auch die zweite Hauptepoche des Erdenlebens näher bestimmt. Der Instinkt ist blind, ein Bewußtsein ohne Einsicht der Gründe. Die Freiheit, als der Gegensatz des Instinktes, ist daher sehend und sich deutlich bewußt der Gründe ihres Verfahrens. Aber der Gesamtgrund dieses Verfahrens der Freiheit ist die Vernunft; der Vernunft sonach ist sie sich bewußt, deren der Instinkt sich nicht bewußt war. Demnach tritt zwischen beides, die Vernunftherrschaft durch den bloßen Instinkt, und die Herrschaft derselben Vernunft durch die Freiheit, noch ein uns bis jetzt neues Mittelglied ein: das Bewußtsein oder die Wissenschaft der Vernunft.
Aber weiter: der Instinkt, als blinder Trieb, schließt die Wissenschaft aus; darum setzt die Erzeugung der Wissenschaft die Befreiung von des Instinkts dringendem Einflusse als schon geschehen voraus, und es tritt zwischen die Herrschaft des Vernunftinstinkts und die Vernunftwissenschaft abermals ein drittes Glied in die Mitte: die Befreiung vom Vernunftinstinkte.
Aber wie könnte doch die Menschheit von dem Gesetze ihres Lebens, welches mitgeliebter und verborgener Gewalt sie beherrscht, vom Vernunftinstinkte sich befreien auch nur wollen; oder wie könnte im menschlichen Leben die Eine Vernunft, welche im Instinkte spricht, und die im Triebe, sich von ihm zu befreien gleichfalls thätig ist, mit sich selber in Streit und Zwiespalt geraten? Offenbar nicht unmittelbar; es müßte daher abermals ein neues Mittelglied eintreten zwischen die Herrschaft des Vernunftinstinkts und den Trieb, sich von ihm zu befreien. Dieses Mittelglied ergiebt sich also: die Resultate des Vernunftinstinkts werden von den kräftigeren Individuen der Gattung, in denen eben darum dieser Instinkt sich am lautesten und ausgedehntesten ausspricht, aus der so natürlichen, als voreilenden Begierde, die ganze Gattung zu sich zu erheben, oder vielmehr sich selber als Gattung aufzustellen, zu einer äußerlich gebietenden Autorität gemacht, und mit Zwangsmitteln aufrecht erhalten; und nun erwacht bei den übrigen die Vernunft zuvörderst in ihrer Form als Trieb der persönlichen Freiheit, welcher nie gegen den sanften Zwang des eigenen Instinkts, den er liebt, wohl aber gegen das Aufdringen eines fremden Instinkts, der in sein Recht eingreift, sich auflehnt; und zerbricht bei diesem Erwachen die Fessel, nicht des Vernunftinstinkts an sich, sondern des zu einer äußeren Zwangsanstalt verarbeiteten Vernunftinstinkts fremder Individuen. Und so ist die Verwandlung des individuellen Vernunftinstinkts in eine zwingende Autorität das Mittelglied, welches zwischen die Herrschaft des Vernunftinstinkts und die Befreiung von dieser Herrschaft in die Mitte tritt.
Und um endlich diese Aufzählung der notwendigen Glieder und Epochen des Erdenlebens unserer Gattung zu vollenden: – durch die Befreiung vom Vernunftinstinkte wird die Wissenschaft der Vernunft möglich, haben wir oben gesagt. Nach den Regeln dieser Wissenschaft sollen nun durch die freie That der Gattung alle ihre Verhältnisse eingerichtet werden. Aber es ist klar, daß zur Ausführung dieser Aufgabe die Kenntnis der Regel, welche allein doch nur durch die Wissenschaft gegeben werden kann, nicht hinreiche, sondern daß es dazu noch einer eigenen Wissenschaft des Handelns, die nur durch Übung zur Fertigkeit sich bildet, mit Einem Worte, daß es dazu noch der Kunst bedürfe. Diese Kunst, die gesamten Verhältnisse der Menschheit nach der vorher wissenschaftlich aufgefaßten Vernunft einzurichten (denn in diesem höheren Sinne werden wir uns hier immer des Wortes Kunst, wenn wir es ohne Beisatz aussprechen, bedienen), – diese Kunst wäre nun vollständig auf alle Verhältnisse der Menschheit anzuwenden und durchzuführen, so lange bis die Gattung als ein vollendeter Abdruck ihres ewigen Urbildes in der Vernunft dastände und sodann wäre der Zweck des Erdenlebens erreicht, das Ende desselben erschienen, und die Menschheit beträte die höheren Sphären der Ewigkeit.
Wir haben soeben, E. V., das gesamte Erdenleben durch seinen Endzweck begriffen, – eingesehen, warum unser Geschlecht überhaupt in dieser Sphäre sein Dasein beginnen sollte, und so das gesamte dermalige Leben der Gattung beschrieben; und dieses eben wollten wir, und es war unsere nächste Aufgabe. Es giebt, zufolge dieser Auseinandersetzung, fünf Grundepochen des Erdenlebens; deren jede, da sie doch immer von Individuen ausgehen, aber, um Epoche im Leben der Gattung zu sein, allmählich alle er greifen und durchdringen muß, eine geraume Zeit dauern, und so das Ganze zu sich scheinbar durchkreuzenden und zum Teil nebeneinander fortlaufenden Zeitaltern ausdehnen wird. 1) Die Epoche der unbedingten Herrschaft der Vernunft durch den Instinkt: der Stand der Unschuld des Menschengeschlechts. 2) Die Epoche, da der Vernunftinstinkt in eine äußerlich zwingende Autorität verwandelt ist: das Zeitalter positiver Lehr- und Lebenssysteme, die nirgends zurückgehen bis auf die letzten Gründe, und deswegen nicht zu überzeugen vermögen, dagegen aber zu zwingen begehren, und blinden Glauben und unbedingten Gehorsam fordern: der Stand der anhebenden Sünde. 3) Die Epoche der Befreiung, unmittelbar von der gebietenden Autorität, mittelbar von der Botmäßigkeit des Vernunftinstinkts und der Vernunft überhaupt in jeglicher Gestalt: das Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit, und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit. 4) Die Epoche der Vernunftwissenschaft: das Zeitalter, wo die Wahrheit als das Höchste anerkannt, und am höchsten geliebt wird: der Stand der anhebende Rechtfertigung. 5) Die Epoche der Vernunftkunst: das Zeitalter, da die Menschheit mit sicherer und unfehlbarer Hand sich selber zum getroffenen Abdrucke der Vernunft aufbauet: der Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung. – Der gesamte Weg aber, den zufolge dieser Aufzählung die Menschheit hienieden macht, ist nichts anderes, als ein Zurückgehen zu dem Puncte, auf welchem sie gleich anfangs stand, und beabsichtigt nichts, als die Rückkehr zu seinem Ursprunge. Nur soll die Menschheit diesen Weg auf ihren eigenen Füßen gehen; mit eigener Kraft soll sie sich wieder zu dem machen, was sie ohne alles ihr Zuthun gewesen; und darum mußte sie aufhören es zu sein. Könnte sie nicht selber sich machen zu sich selber, so wäre sie eben kein lebendiges Leben; und es wäre sodann überhaupt kein Leben wirklich geworden, sondern alles in todtem, unbeweglichem und starrem Sein verharret. – Im Paradiese, – daß ich eines bekannten Bildes mich bediene – im Paradiese des Rechtthuns und Rechtseins ohne Wissen, Mühe und Kunst, erwacht die Menschheit zum Leben. Kaum hat sie Muth gewonnen, eigenes Leben zu wagen, so kommt der Engel mit dem feurigen Schwerte des Zwanges zum Rechtsein, und treibt sie aus dem Sitze ihrer Unschuld und ihres Friedens. Unstät und flüchtig durchirrt sie nun die leere Wüste, kaum sich getrauend, den Fuß irgendwo festzusetzen, in Angst, daß jeder Boden unter ihrem Fußtritte versinke. Kühner geworden durch die Noth, baut sie sich endlich dürftig an, und reutet im Schweiße ihres Angesichts die Dornen und Disteln der Verwilderung aus dem Boden, um die geliebte Frucht des Erkenntnisses zu erziehen. Vom Genusse derselben werden ihr die Augen aufgethan und die Hände stark, und sie erbauet sich selber ihr Paradies nach dem Vorbilde des verlorenen; der Baum des Lebens erwächst ihr, sie streckt aus ihre Hand nach der Frucht und ißt, und lebet in Ewigkeit.
Dies, E. V., ist die für unseren Zweck hinreichende Schilderung des Erdenlebens im Ganzen, und in allen seinen einzelnen Epochen. – So gewiß das uns gegenwärtige Zeitalter ein Teil des Erdenlebens ist, was wohl keiner bezweifeln wird; so gewiß ferner keine anderen Teile dieses Lebens möglich sind, als die angegebenen fünf, wie ich dieses erwiesen habe: so gewiß steht unser Zeitalter in einem der angegebenen Puncte. In welchem nun unter den fünfen, wird meine Sache sein, nach meiner Weltkenntnis und Weltbeobachtung anzuzeigen, und die notwendigen Phänomene des aufgestellten Princips zu entwickeln; und die Ihrige, sich zu erinnern, und um sich zu blicken, ob Ihnen nicht diese Phänomene ihr ganzes Leben hindurch innerlich Und äußerlich aufgestoßen sind und noch aufstoßen; und dieses ist das Geschäft unserer künftigen Vorträge.
Das gegenwärtige Zeitalter im Ganzen meine ich; denn da oben bemerkt worden, daß gar füglich ihrem geistigen Princip nach verschiedene Zeitalter in eine und derselben chronologischen Zeit in mehreren Individuen sich durchkreuzen und nebeneinander fortfließen können: so läßt sich erwarten, daß dasselbe auch in unserem Zeitalter der Fall sein möge, daß daher unsere, das apriorische Princip auf die Gegenwart anwendende Welt- und Menschenbeobachtung nicht gerade alle dermalen lebende Individuen, sondern nur diejenigen betreffen möge, die da wirklich Producte ihrer Zeit sind, und in denen diese Zeit sich am klarsten ausspricht. Es kann einer hinter seinem Zeitalter zurück sein, weil er während seiner Bildung nie mit einer sattsamen Masse der allgemeinen Individualität in Berührung gekommen, der enge Cirkel aber, in welchem er sich gebildet, noch ein Überrest der alten Zeit ist. Es kann ein anderer seinem Zeitalter vorgeeilt sein, und in seiner Brust schon den Anfang, der neuen Zeit tragen, indeß rund um ihn her die für ihn alle, in der Wahrheit aber wirkliche, dermalige und gegenwärtige herrscht. Die Wissenschaft endlich setzt über alle Zeit und alle Zeitalter hinweg, indem sie die Eine, sich selber gleiche Zeit als den höheren Grund aller Zeitalter erfaßt, und ihrer freien Betrachtung unterwirft. Von allen dreien ist, in der Schilderung irgend einer gegenwärtigen Zeit, nicht die Rede.
Es ist nunmehr die Aufgabe unserer gesamten Vorträge, in diesem Winter und in diesen Stunden, genau bestimmt, und, wie es mir scheint, klar ausgedrückt und angekündigt; und dies war der Zweck unserer heutigen Rede. Bloß über die äußere Form dieser Vorträge erlauben Sie mir noch einige Worte.
Wie auch immer unser Urteil über das Zeitalter ausfallen möge, und in welche Epoche wir auch dasselbe zu stellen uns gedrungen fühlen möchten, so erwarten Sie doch hier weder den Ton der Klage, noch den der Satire, zumal der persönliche. Nicht den der Klage: das ist eben die süßeste Belohnung der philosophischen Betrachtung, daß, da sie alles in seinem Zusammenhange ansieht, und nichts vereinzelt erblickt, sie alles notwendig, und darum gut findet, und das, was da ist, sich gefallen läßt, so wie es ist, weil es, um des höheren Zweckes willen, sein soll. Auch ist es unmännlich, mit Klagen über das vorhandene Übel eine Zeit zu verlieren, die man weiser anwendete, um, so viel in unseren Kräften steht, das Gute und Schöne zu schaffen. Nicht den der Satire: ein Gebrechen, das die ganze Gattung trifft, ist kein Gegenstand des Spottes eines Individuums, das zu dieser Gattung gehört, und welches, wie es sich auch stellen möge, doch einmal auch durch dieses Gebrechen hindurchgemußt hat. Individuen aber verschwinden nun vollends vor dem Blicke des Philosophen, und fallen ihm alle zusammen in die Eine große Gemeine. Seine Charakteristik faßt jedes Ding in einer Schärfe und Consequenz auf, zu der es das ewige Schwanken in der Wirklichkeit nie kommen läßt; sie trifft darum keine Person, und nie herabfallend bis zum Porträt; bleibt sie in der Sphäre des idealisirten Gemäldes. Über den Nutzen von Betrachtungen dieser Art wird es schicklicher sein, Sie selber, besonders sodann, wenn Sie einen beträchtlichen Teil davon schon hinter sich haben werden, urteilen zu lassen, als Ihnen im voraus vieles darüber zu preisen. Niemand ist entfernter, als der Philosoph, von dem Wahne, daß durch seine Bestrebungen das Zeitalter sehr merklich fortrücken werde. Jeder, dem es Gott verlieh, soll freilich alle seine Kräfte für diesen Zweck anstrengen, sei es auch nur um sein selbst willen, und damit er im Zeitenflusse denjenigen Platz behaupte, der ihm angewiesen ist. Übrigens geht die Zeit ihren festen, ihr von Ewigkeit her bestimmten Tritt, und es läßt in ihr durch einzelne Kraft sich nichts übereilen, oder erzwingen. Nur die Vereinigung, aller, und besonders der inwohnende ewige Geist der Zeiten und der Welten vermag zu fördern.
Was meine gegenwärtigen Bestrebungen betrifft, so wird es mir ein schmeichelhafter Lohn sein, wenn ein gebildetes und verständiges Publicum sich während einiger Stunden dieses halben Jahres auf eine anständige und seiner würdige Weise unterhalten, und so lange in eine über die Geschäfte so wie Erholungen des gewöhnlichen Lebens erhebende, freiere und reinere Stimmung, und in einen geistigeren Aether sich hineinversetzt finden sollte. Durfte es sich zumal zutragen, daß in irgend ein junges kräftiges Gemüth ein Funken fiele zu fortdauerndem Leben, der aus meinen vielleicht schwachen Gedanken bessere und vollkommenere entwickelte, und die rüstige Entschließung, sie zu realisiren, anzündete: so würde mein Lohn vollkommen sein.
In diesem Geiste, E. V., habe ich es über mich vermocht, Sie auf Vorträge, wie der gegenwärtige, einzuladen; in diesem Geiste beurlaube ich mich jetzt von Ihnen, um es Ihrer eigenen Überlegung zu überlassen, ob Sie noch ferner gemeinschaftlich mit mir zu denken begehren.
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