BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Charlotte von Stein

1742 - 1827

 

Dido, ein Trauerspiel

in fünf Aufzügen.

 

Vierter Aufzug.

 

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Zweite Scene.

Der Einsiedler kommt aus seiner Hütte.

 

Einsiedler.

Warum, o Schlaf, verließest du mich heute so frühe? Du ruhig stiller Gefährte! eben in dem Genuß fröhlicher Erscheinungen, die du mir in der schönsten Dichtkunst von Traumbildern darstelltest. Zwar genieße ich auch so meine wachenden Tage, und ein Hauch der freudigen Natur durchglüht immer mein Inneres, dir, himmlisches Licht, zum Dank! O wenn werde ich sie fassen, alle die Freuden, mit denen ich gelebt? Wenn werde ich gebildet sein, um mich in das Unendliche von Ordnung ohne den Uebergang vom Dunkeln einzuweben! – – – Eine innere Stimme sagt mir, heute sei mein glücklichster Tag! – Wie kann mir aber ein Glück werden, da ich alles besitze, nichts bedarf? denn die Natur hat mir die Augen zu ihren besten Schätzen geöffnet! – Das muß mein Sterbetag sein.

(Die Königin, die aus der Grabhöhle hervortritt, schlägt den Schleier um sich und reicht dem Einsiedler die Hand.)

 

Einsiedler (erstaunt).

Ja, ich verstehe dich! Aus meiner Grabhöhle trittst du hervor, mein guter Genius, und reichst mir anmuthsvoll die Hand, daß ich dir folgen soll.

 

Königin.

Bei dir will ich einkehren.

 

Einsiedler.

Willig nehm' ich dich auf; du freundlicher Todesengel, sei mir willkommen!

 

Königin (hebt den Schleier auf).

Guter Alter! Kennst du mich nicht mehr?

 

Einsiedler (nach einer Pause).

Ja, ich kenne dich! du bist eine von den lieblichen Menschengestalten – aber von den Göttern geschickt, zu den letzten wankenden Schritten mir deine Hülfe zu reichen. Führe mich in mein Grab – denn heute ist mein Sterbetag! – und reiche beim Hinabsteigen mir deine Hand, daß ich mich anständig niederlege.

 

Königin.

Aber, ehrwürdiger Mann, warum bin ich dir denn ein Bote des Todes?

 

Einsiedler.

Die lange Einsamkeit hat mein Inneres auf einen Grad geschärft, daß sich mir zu Augenblicken die Zukunft öffnet. – – – Auch dein Schicksal ist mir nicht verborgen. Höre es! Der Unedlen Entwürfe werden willige Aufnehmer finden! Die Raserei 1) wird die Thorheit leiten, und so stürzt ein berühmtes Reich in den Abgrund der Dunkelheit, daß es durch Jahrhunderte die Geschichte nicht mehr nennen wird; deine erhabne Tugend aber wird durch Jahrtausende 2) aufgezeichnet bleiben.

 

Königin.

Du bist ein wunderbarer Mann! Offenbare mit deinen Namen und die Schicksale deines Lebens, wenn du mich dessen werth hältst.

 

Einsiedler.

Ich habe keine, und von dem Buch meines Lebens sind die Blätter unbeschrieben geblieben; auch sogar meinen Namen habe ich durch die vielen Jahre, wo kein lebendes Geschöpf die Luft zu diesen Sylben bildete, vergessen. Von meiner ersten Jugend ergriff ich nur den Geist der Dinge, so daß ohne die von Sonn= und Mondlicht hingeworfenen 3) Schatten ich in einer an Wahnsinn grenzenden Ungewißheit war, welche von beiden Erscheinungen, Körper oder Geist, ich für die wahre halten sollte. Dadurch wurde ich wie verwaist unter den Menschen, aber ich genoß eine Seligkeit, die selten ein Erdenbewohner begreift, und da ich vom Körperlichen immer getrennt blieb, so gehe ich weiter in andere Sphären und werde nie eine Bildung dieser Erde wieder erfassen.

 

Königin.

Erkläre mir noch dieses!

 

Einsiedler.

Jahrtausende gehen vorüber, ehe diese seltsame Bildung einmal vorkommt; sie macht sich auch nur durch Jahrtausende, ehe sie die Millionen Bande vom Geiste löst, um sie in feinere 4) zu knüpfen, und so bevölkert sich nach und nach von diesen hier da über unserem Erdenball eine andere Welt.

 

Königin.

Aber diese Fäden zu lösen, hängt wohl nicht von uns ab?

 

Einsiedler.

Wie freudig wird mir's? es trennt sich mein letztes Band. Hier meinen Abschied!

Erde, du meine Mutter! und

du mein Vater, der Lufthauch!

und du Feuer, mein Freund! du

mein Verwandter, der Strom!

und mein Bruder, der Himmel! – ich

sag' euch allen mit Ehrfurcht

freundlichen Dank! Mit euch hab' ich

hienieden gelebt,

und gehe jetzt zur andern Welt,

euch gerne verlassend.

Lebt wohl, Brüder und Freund, Vater und

Mutter, lebt wohl. – 5)

(Die Königin unterstützt ihn; er verlangt nach der Höhle zu gehen durch ein Zeichen; sie führt ihn hinein.)

 

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1) So schrieb Frau von Stein statt «Residenz». 

2) Von Frau von Stein statt des verschriebenen «Jahrhunderte» gesetzt. 

3) Die Handschrift hat «hingeworfene». 

4) So schrieb Frau von Stein selbst statt «sie feiner». 

5) Die Worte sind als Verse geschrieben, nur daß am Anfange der Zeilen keine große Buchstaben eintreten.