BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hermann Samuel Reimarus

1694 - 1768

 

Ein Mehreres

aus den Papieren des Ungenannten,

die Offenbarung betreffend

 

1777

 

____________________________________________________________________

 

 

 

[Gegensätze des Herausgebers (Lessing)]

 

Und nun genug dieser Fragmente! – Wer von meinen Lesern mir sie aber lieber ganz geschenkt hätte, der ist sicherlich furchtsamer, als unterrichtet. Er kann ein sehr frommer Christ seyn, aber ein sehr aufgeklärter ist er gewiß nicht. Er kann es mit seiner Religion herzlich gut meynen: nur müßte er ihr auch mehr zutrauen.

Denn wie vieles läßt sich noch auf alle diese Einwürfe und Schwierigkeiten antworten! Und wenn sich auch schlechterdings nichts darauf antworten ließ: was dann? Der gelehrte Theolog könnte am Ende darüber verlegen seyn: aber auch der Christ? Der gewiß nicht. Jenem höchstens könnte es zur Verwirrung gereichen, die Stützen, welche er der Religion unterziehen wollen, so erschüttert zu sehen; die Strebepfeiler so niedergerissen zu finden, mit welchen er, wenn Gott will, sie so schön verwahret hatte. Aber was gehen dem Christen dieses Mannes Hypothesen, und Erklärungen und Beweise an? Ihm ist es doch einmal da, das Christenthum, welches er so wahr, in welchem er sich so selig fühlet. – Wenn [495] der Paralyticus die wohlthätigen Schläge des Elektrischen Funkens erfährt: was kümmert es ihn, ob Noller, oder ob Franklin, oder ob keiner von beyden Recht hat? –

Kurz: der Buchstabe ist nicht der Geist; und die Bibel ist nicht die Religion. Folglich sind Einwürfe gegen den Buchstaben, und gegen die Bibel, nicht eben auch Einwürfe gegen den Geist und gegen die Religion.

Denn die Bibel enthält offenbar Mehr als zur Religion gehöriges: und es ist bloße Hypothes, daß sie in diesem Mehrern gleich unfehlbar seyn müsse. Auch war die Religion ehe eine Bibel war. Das Christenthum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten. Es verlief eine geraume Zeit, ehe der erste von ihnen schrieb; und eine sehr beträchtliche, ehe der ganze Kanon zu Stande kam. Es mag also von diesen Schriften noch so viel abhängen: so kann doch unmöglich die ganze Wahrheit der Religion auf ihnen beruhen. War ein Zeitraum, in welchem sie bereits so ausgebreitet war, in welchem sie bereits sich so vieler Seelen bemächtiget hatte, und in welchem gleichwol noch kein Buchstabe aus dem von ihr aufgezeichnet war, was bis auf Uns gekommen: so muß es auch möglich seyn, daß alles, was Evangelisten und Apostel geschrieben haben, wiederum verloren gänge, und die von ihnen gelehrte Religion doch bestände. Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist. Aus ihrer innern Wahrheit müssen die schriftlichen Ueberlieferungen erklärt werden, und alle [496] schriftliche Ueberlieferungen können ihr keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat.

Dieses also wäre die allgemeine Antwort auf einen grossen Theil dieser Fragmente, – wie gesagt, in dem schlimmsten Falle. In dem Falle, daß der Christ, welcher zugleich Theolog ist, in dem Geiste seines angenommenen Systems, nichts Befriedigendes darauf zu antworten wisse. Aber ob er das weiß, woher soll er selbst die Erfahrung haben, woher sollen wir es ihm zutrauen, wenn es nicht erlanbt seyn soll, alle Arten von Einwürfen frey und trocken herauszusagen? Es ist falsch, daß schon alle Einwürfe gesagt sind. Noch falscher ist es, daß sie alle schon beantwortet wären. Ein großer Theil wenigstens ist eben so elend beantwortet, als elend gemacht worden. Seichtigkeit und Spötterey der einen Seite, hat man nicht selten mit Stolz und Naserümpfen auf der andern erwiedert. Man hat sich sehr beleidiget gefunden, wenn der eine Theil Religion und Aberglauben für eins genommen: aber man hat sich kein Gewissen gemacht, Zweifel für Unglauben, Begnügsamkeit mit dem, was die Vernunft sagt, für Ruchlosigkeit auszuschreyen. Dort hat man jeden Gottesgelehrten zum Pfaffen, hier jeden Weltweisen zum Gottesleugner herabgewürdiget. So hat der eine und der andere seinen Gegner zu einem Ungeheuer umgeschaffen, um ihn, wenn er ihn nicht besiegen kann, wenigstens vogelfrey erklären zu dürfen.

Wahrlich, er soll noch erscheinen, auf beiden Seiten soll er noch erscheinen, der Mann, welcher die Religion so bestreitet, und der, welcher die Religion so vertheidiget, [497] als es die Wichtigkeit und Würde des Gegenstandes erfodert. Mit alle den Kenntnissen, aller der Wahrheitsliebe, alle dem Ernste! – Stürme auf einzelne Bastionen wagen und abschlagen, heißt weder belagern noch entsetzen. Und gleichwol ist bisher noch wenig mehr geschehen. Kein Feind hat noch die Feste ganz eingeschlossen; keiner noch einen allgemeinen Sturm auf ihre gesammten Werke zugleich gewagt. Immer ist nur irgend ein Aussenwerk, und oft ein sehr unbeträchtliches angegriffen, aber auch nicht selten von den Belagerten mit mehr Hitze als Klugheit vertheidiget worden. Denn ihre gewöhnliche Maxime war, alles Geschütz auf den einzigen angegriffenen Ort zusammen zu führen; unbekümmert, ob indeß ein anderer Feind an einem andern Orte den entblößten Wall übersteige oder nicht. Ich will sagen: ein einzelner Beweis ward oft, zum Nachtheil aller andern, ja zu seinem eigenen, überspannt; Ein Nagel sollte alles halten, und hielt nichts. Ein einzelner Einwurf ward oft so beantwortet, als ob er der einzige wäre, und oft mit Dingen, die ihren eignen Einwürfen noch sehr ausgesetzt waren. Noch ein unbesonneneres Verfahren war es, wenn man das angegriffene Werk ohne alle Gegenwehr verließ, dem Feinde mit Verachtung Preis gab, und sich in ein anderes zog. Denn so hat man sich nach und nach aus allen Werken nicht vertreiben, sondern verscheuchen lassen, und wird nun bald genöthiget seyn, sich wieder in das zuerst verlassene zu werfen. Wer in den neuesten Schriften für die Wahrheit der christlichen Religion ein wenig belesen ist, dem werden die Exempel zu jedem Gliede dieser Allegorie leicht beyfallen. [498]

Wie nahe unser Verfasser dem Ideale eines echten Bestreiters der Religion gekommen, läßt sich aus diesen Fragmenten zwar einigermaaßen schliessen, aber nicht hinlänglich erkennen. Raum genug scheinet er mit seinen Laufgräben eingenommen zu haben, und mit Ernst gehet er zu Werke. – Möchte er bald einen Mann erwecken, der dem Ideale eines echten Vertheidigers der Religion nur eben so nahe käme!

Und nicht diesem Manne vorzugreifen, sondern blos urtheilen zu lassen, wie vieles nun Er erst zu sagen haben würde, und hiernächst dem ersten Panischen Schrecken zu steuren, das einen kleinmüthigen Leser befallen könnte, eile ich, jedem Fragmente insbesondere einige Gedanken beyzufügen, die sich mir aufgedrungen haben. Wenn ich aber damit mehr thue, als ich gleich anfangs thun zu dürfen um Erlaubniß bat, so geschieht es, weil ich den Ton der Verhöhnung verabscheue, in den ich leicht fallen könnte, wenn ich nur jenes thun wollte. Freylich giebt es der Männer genug, welche itzt die Religion so vertheidigen, als ob sie von ihren Feinden ausdrücklich bestochen wären, sie zu untergraben. Allein es wäre Verleumdung der Religion, wenn ich zu verstehen geben wollte, daß gleichwol diese Männer nur noch allein vor dem Riß stünden. Ja woher weiß ich, ob nicht auch diese Männer die besten Absichten von der Welt haben? Wann sie nicht ihre Absichten schützen sollen, was wird mich schützen, wenn ich das Ziel eben so weit verfehle? [499]