Hermann Samuel Reimarus
1694 - 1768
Von Duldung der Deisten:Fragment eines Ungenannten
1774
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[Lessings Vorwort]
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[197] | Die hauptsächlichste Betrachtung, auf welche Neusers Geschichte einen denkenden Leser führet, brauche ich wohl nicht erst lange anzugeben. Sie ist es aber, die mich an Fragmente eines sehr merkwürdigen Werks unter den allerneuesten Handschriften unserer Bibliothek, und besonders an eines derselben, so lebhaft erinnert, daß ich mich nicht enthalten kann, von ihnen überhaupt ein Wort hier zu sagen, und dieses eine als Probe daraus mitzutheilen.Es sind, sage ich, Fragmente eines Werks: aber ich kann nicht bestimmen, ob eines wirklich einmal vollendet gewesenen und zerstörten, oder eines niemals zu Stande gekommenen Werks. Denn sie haben keine allgemeine Aufschrift; ihr Urheber wird nirgends angegeben; auch habe ich auf keine Weise erfahren können, wie und wann sie in unsere Bibliothek gekommen. Ja sogar, daß es Fragmente Eines Werks sind, weiß ich nicht mit Gewißheit, sondern schließe es nur daher, weil sie alle Einen Zweck haben, alle sich auf die geoffenbarte Religion beziehen, und vornehmlich die biblische Geschichte prüfen.Sie sind mit der äussersten Freymüthigkeit, zugleich aber mit dem äussersten Ernste geschrieben. Der Untersucher vergißt seine Würde nie; Leichtsinn scheint nicht sein Fehler gewesen zu seyn; und nirgends erlaubt er sich Spöttereyen und Possen. Er ist ein wahrer gesetzter Deutscher, in seiner Schreibart und in seinen Gesinnungen. [198] Er sagt seine Meinung gerade zu, und verschmähet alle kleine Hülfsmittel, den Beifall seiner Leser zu erschleichen.Da, nach der Hand und der äussern Beschaffenheit seiner Papiere zu urtheilen, sie ohngefähr vor dreyssig Jahren geschrieben seyn mögen; da aus vielen Stellen eine besondere Kenntniß der Hebräischen Sprache erhellet; und der Verfasser durchgängig aus Wolffischen Grundsätzen philosophiret: so haben mich alle diese Umstände zusammen an einen Mann erinnert, welcher um besagte Zeit hier in Wolfenbüttel lebte, und hier, unter dem Schutze eines einsichtsvollen und gütigen Fürsten, die Duldung fand, welche ihn die wilde Orthodoxie lieber in ganz Europa nicht hätte finden lassen; an Schmid, den Wertheimschen Uebersetzer der Bibel.Doch, ohne mich bey Vermuthungen über den Verfasser aufzuhalten, hier ist die Stelle, in welcher sich meine Leser mit seinem Geiste näher bekannt machen können. Sie ist aus einer Art von Einleitung genommen, in welcher er von der Vortrefflichkeit und Hinlänglichkeit der natürlichen Religion überhaupt handelt. |