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Titelkupfer des vierten Teils
So wie nun Reiser die Thürme von H... aus dem Gesicht verlohren hatte, und mit schnellen Schritten vorwärts ging, athmete er freier, seine Brust erweiterte sich – die ganze Welt lag vor ihm – und tausend Aussichten eröfneten sich vor seiner Seele.
Er dachte sich den Faden seines bisherigen Lebens gleichsam wie abgeschnitten – er war nun aus allen Verwickelungen auf einmal befreiet – denn hätte er auch die Universität in G... bezogen, so hätte ihn auch dort sein Schicksal hin verfolgt; die ganze Zeitgenossenschaft seiner Jugend hätte auch dort wieder auf ihn gedrückt, und sein Muth hätte ganz erliegen müssen.
Denn so lange wie er in jenen Kreis hingebannt war, konnte er kein Zutrauen zu sich selber fassen – und wenn sein Muth sich erholen sollte, so mußte er sobald die Menschen nicht wieder sehen, die vielleicht unvorsetzlich ihm die Tage seiner Jugend verbittert hatten.
Nun war er aus diesem Kreise ganz geschieden. – Der Schauplatz seiner Leiden, die Welt, worin er die Schicksale seiner Jugend durchlebt hatte, lag hinter ihm – er entfernte sich mit jedem Schritt von ihr, und konnte, so wie er sich eingerichtet hatte, acht Tage wandern, ohne daß ihn ein Mensch vermißte.
Nun fand er eine unbeschreibliche Süßigkeit in dem Gedanken, daß außer Philipp Reiser niemand um sein Schicksal, und um den Ort seines Aufenthalts wußte, daß selbst dieser einzige Freund sich bei seinem Abschiede nicht sehr bekümmert hatte; daß er nun außer allen Verhältnissen, und allen Menschen zu denen er kam, völlig gleichgültig war.
Wenn das gänzliche Hinscheiden aus dem Leben durch irgend einen Zustand kann vorgebildet werden, so muß es dieser seyn. –
So wie nun die Hitze des Tages sich legte, die Sonne sich neigte, und die Schatten der Bäume länger wurden, verdoppelte er seine Schritte, und machte denselben Nachmittag die drei Meilen bis Hildesheim ununterbrochen, wie einen Spatziergang; auch betrachtete er es völlig, wie einen Spatziergang; denn er war nun in Hildesheim, so gut, wie in H... zu Hause.
Als er an das Stadtthor kam, schlug er sich vorher den Staub von den Schuhen, brachte sein Haar in Ordnung, nahm eine kleine Gerte in die Hand, mit der er im Gehen spielte, und schlenderte auf die Weise langsam über die Brücke, auf der er zuweilen stehen blieb, als ob er jemanden erwartete; oder nach etwas sich umsah. – Und da er überdem in seidenen Strümpfen ging, so hielt ihn niemand in diesem Aufzuge für einen Reisenden, der über vierzig Meilen zu Fuß zu wandern im Begrif ist.
Keine Schildwache fragte ihn, und er wanderte mit den Einwohnern der Stadt, die auch von ihren Spatziergängen zurückkehrten, in die Thore von Hildesheim. – Und der Gedanke war ihm wiederum äußerst beruhigend und angenehm, daß er diesen Leuten gar nicht als fremd auffiel, niemand nach ihm sich umsah, sondern daß er gleichsam zu ihnen mitgerechnet wurde, ohne doch zu ihnen zu gehören. –
Da ihn nun niemand von allen diesen Menschen kannte, und niemand sich um ihn bekümmerte, so verglich er sich auch mit keinem mehr; er war, wie von sich selbst geschieden; seine Individualität, die ihn so oft gequält und gedrückt hatte, hörte auf, ihm lästig zu seyn; und er hätte sein ganzes Leben auf die Weise ungekannt und ungesehen unter den Menschen herumwandeln mögen.
Als er nicht weit vom Thore einen Gasthof suchte, kam ihm die Straße bekannt vor, und er erinnerte sich wieder an die Zeit als er vor vier Jahren, mit dem Rektor bei dem er wohnte, am Frohnleichnamsfeste hier war, und an die ängstliche und peinliche Lage in der er sich damals befand, weil er von der Gesellschaft mit der er ging weder ausgeschlossen war, noch eigentlich dazu gehörte. – Es wälzte sich ihm wie ein Stein vom Herzen weg, da er sich das alles nun als gänzlich vergangen dachte.
In dem Gasthofe, worin er nun einkehrte, empfing und bewirthete man ihn nach seiner Kleidung, und er hatte nicht den Muth es von sich abzulehnen, sondern ließ es sich gefallen, daß man ihm ein Abendessen zubereitete, ein Bette zum Schlafen anwies, und ihm am andern Morgen seinen Kaffee brachte. – Den trank er noch in Ruhe und las im Homer dazu, als er auf einmal, wie aus einer Art von Betäubung erwachte, da er sich lebhaft vorstellte, daß er mit seiner Baarschaft, die aus einem einzigen Dukaten bestand, nicht nur über vierzig Meilen weit reisen, sondern nothwendig an Ort und Stelle noch etwas davon übrig haben müßte.
Er bezahlte schnell seine Zeche, die ihn um nicht weniger als den sechsten Theil seines ganzen Vermögens ärmer machte; erkundigte sich nach der Straße, die auf Seesen führte, und wanderte mit sorgenvollen Gedanken, und schwerem Herzen aus dem Thore von Hildesheim.
Es war noch früh am Tage – der Weg führte ihn durch eine angenehme Gegend, wo Wald und Flur miteinander abwechselten, und der Gesang der Vögel ihm entgegen tönte, indeß die Morgensonne auf die grünen Wipfel der Bäume schien. –
So wie er nun schneller vorwärts ging, fühlte er auch nach und nach wieder sein Gemüth erleichtert, heitere Gedanken, reizende Aussichten, und kühne Hoffnungen stiegen allmählig wieder in seiner Seele auf, und nun entstand in ihm ein Vorsatz, der ihn auf einmal über alle Sorgen hinwegsetzte, und der ihn auf seiner ganzen Wanderung reich und unabhängig machte.
Er durfte nur seine ganze Nahrung auf Brodt und Bier einschränken, auf der Streu schlafen, und niemals wieder in einer Stadt übernachten, um seinen Unterhalt während der Reise mit wenig mehr als einem Groschen täglich zu bestreiten. Auf diese Weise konnte er länger als einen Monat unterwegens seyn, und war am Ende der Reise doch noch nicht ganz entblößt.
Sobald er diesen Vorsatz, den er von dem Tage an standhaft ausführte, gefaßt hatte, fühlte er sich wieder frei und glücklich wie ein König – selbst diese freiwillige Entsagung aller Bequemlichkeiten, und diese Einschränkung auf die allernöthigsten Bedürfnisse – gab ihm eine Empfindung ohne Gleichen; er fühlte sich nun beinahe wie ein Wesen, das über alle irdische Sorgen hinweggerückt ist; und lebte deswegen auch ungestört in seiner Ideen- und Phantasienwelt, so daß dieser Zeitpunkt, bei allem anscheinenden Ungemach, einer der glücklichsten Träume seines Lebens war.
Unmerklich aber schlich sich denn doch ein Gedanke mitunter, der sein gegenwärtiges Daseyn, damit es nicht ganz zum Traume würde, wieder an das vorige knüpfte. Er stellte sich vor, wie schön es seyn würde, wenn er nach einigen Jahren in dem Andenken der Menschen, worin er nun gleichsam gestorben war, wieder aufleben, in einer edlern Gestalt vor ihnen erscheinen, und der düstere Zeitraum seiner Jugend alsdann vor der Morgenröthe eines bessern Tages verschwinden würde.
Diese Vorstellung blieb immer fest bei ihm – sie lag auf dem Grunde seiner Seele, und er hätte sie um alles in der Welt nicht aufgeben können; alle seine übrigen Träume und Phantasien hielten sich daran, und bekamen dadurch ihren höchsten Reiz. – Der einzige Gedanke, daß er dieselben Menschen, die ihn bis jetzt gekannt hätten, niemals wiedersehen würde, hätte damals alles Interesse aus seinem Leben hinweggenommen, und ihm die süßesten Hoffnungen geraubt.
Als nun der Mittag herannahte, so kehrte er in einem Dorfe in einem geringen Wirthshause ein, wo er ohnedem ausser Bier und Brodt auch für Geld nichts hätte haben können, und also der Fall nicht eintrat, daß man ihm eine bessere Bewirthung angeboten, und er sie hätte ablehnen müssen.
Es machte ihm nun unbeschreiblich Vergnügen, daß er für wenige Pfennige ein so großes Stück schwarzes Brodt erhielt, welches ihn den ganzen Tag gegen den Hunger sicher stellte. Er brockte sich einen Theil davon ins Bier, und hielt auf die Weise das erste Mittagsmahl nach seinen eigenen strengen Gesetzen, von welchen er von nun an, während der Reise, nicht abging.
Er eilte denn aber, daß er schnell wieder aus der dumpfigen Gaststube ins Freie kam, wo er unter einem schattigten Baum sich niedersetzte, und zur Mittagserholung in Homers Odyssee las. –
Mochte nun dies Lesen im Homer eine zurückgebliebene Idee aus Werthers Leiden seyn, oder nicht, so war es doch bei Reisern gewiß nicht Affektation, sondern machte ihm würkliches und reines Vergnügen – denn kein Buch paßte ja so sehr auf seinen Zustand, als grade dieses, welches in allen Zeilen den vielgewanderten Mann schildert, der viele, Menschen, Städte und Sitten gesehen hat, und endlich nach langen Jahren in seiner Heimath wieder anlangt, und dieselben Menschen, die er dort verlassen hat, und nimmer wieder zu sehen glaubte, auch endlich noch wieder findet.
Der Weg ging nun immer Berg auf, Berg ab. – Die Hitze war ziemlich groß, und Reiser löschte seinen Durst, so oft er einen klaren Bach antraf, aus welchem ihm umsonst zu schöpfen frei stand.
In dem Dorfe, wo er die erste Nacht blieb, war die Gaststube voller Bauern, die einen großen Lerm machten, so daß es ihm nicht möglich war, zu lesen; er beschäftigte sich also mit seinen Gedanken; und eine steinalte Frau, die im Lehnstuhle saß, und mit dem Kopfe bebte, zog seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. –
Diese Frau war hier erzogen, hier gebohren, hier alt geworden, hatte immer die Wände dieser Stube, den großen Ofen, die Tische, die Bänke gesehen – nun dachte er sich nach und nach in die Vorstellungen und Gedanken dieser alten Frau so sehr hinein, daß er sich selbst darüber vergaß, und wie in eine Art von wachenden Traum gerieth, als ob er auch hier bleiben müste, und nicht aus der Stelle könne. – Ein solcher Traum war bei der plötzlichen Veränderung, die sein Zustand gelitten hatte, sehr natürlich – und als seine Gedanken sich sammleten, fühlte er das Vergnügen der Abwechselung, der Ausdehnung, der unbegrenzten Freiheit doppelt wieder – er war wie von Fesseln entbunden, und die alte Frau, mit bebendem Haupte, war ihm wieder ein gleichgültiger Gegenstand.
Diese Art aber sich in die Vorstellungen anderer Menschen hineinzudenken, und sich selbst darüber zu vergessen, klebte ihm von Kindheit an – es war einer seiner kindischen Wünsche, daß er nur einen Augenblick aus den Augen eines andern Menschen, den er vor sich sahe, möchte heraussehen, und wissen können, wie dem die umstehenden Sachen vorkämen.
Zum erstenmale legte er mit weitaussehenden Gedanken auf die Streu sich nieder; seinen Degen legte er neben sich, und deckte sich mit seinen Kleidern zu. – Seine Gedanken aber ließen ihm keine Ruh, die Zukunft wurde immer glänzender und schimmernder vor seinen Blicken; die Lampen waren schon angezündet, der Vorhang aufgezogen, und alles voll Erwartung, der entscheidende Moment war da. –
Darüber kam bis nach Mitternacht kein Schlaf in seine Augen, und als er am Morgen erwachte, war auf einmal der Schauplatz ganz verändert; die öde Gaststube, die Bierkrüge, das schwarze Brodt, und erschlaffende Müdigkeit – hier rächten sich seine reizenden Phantasien an ihm mit schrecklichem Unmuth und Lebensüberdruß, der über eine Stunde währte.
Er legte sich mit dem Kopf auf den Tisch, und suchte vergeblich wieder einzuschlummern, bis die ermunternden Strahlen der Sonne, die ins Fenster schienen, ihn wieder zum Leben weckten, und sobald er sich nur erst auf den Weg gemacht hatte, und aus der dumpfigen Gaststube war, verschwand auch schnell sein Unmuth wieder, und das reizende Ideenspiel begann von neuem.
Er lebte auf die Weise gleichsam ein doppeltes Leben, eins in der Einbildung und eins in der Wirklichkeit. Das Wirkliche blieb schön und harmonirte mit dem Eingebildeten, bis auf die Gaststube, das Gelerm der Bauern, und die Streu – dieß aber wollte sich nicht recht dazu reimen – denn es war auf die unbegrenzte Freiheit am Tage, eine zu große Beschränkung am Abend; weil er doch nun bis zum andern Morgen in keiner andern Umgebung seyn konnte, als in dieser.
Freilich hatten die äußern Gegenstände einen immerwährenden Einfluß auf die inneren Gedankenreihen; mit dem Horizonte erweiterten sich auch gemeiniglich seine Vorstellungen, und an die Aussicht in eine neue Gegend knüpfte sich immer gern eine neue Aussicht in das Leben.
Einmal war er lange mühsam bergan gestiegen, als auf einmal eine weite Ebene vor ihm da lag, und er in der Ferne ein Städtchen, an einem See erblickte – dieser Anblick frischte auf einmal alle seine Gedanken und Hoffnungen wieder auf. – Er konnte seine Augen von dem Gewässer in der Ferne nicht verwenden, das ihn mit neuem Muth beseelte, die Ferne aufzusuchen. –
Seine Reiseroute von Hildesheim ging nehmlich über Salzdethfurth, Bockenem, und Seesen, auf Duderstadt, von wo er denn über Mühlhausen geradezu nach Erfurt, und von dort auf Weimar gehen wollte, welches das Ziel seiner Wünsche war.
Dort glaubte er nehmlich die Eckhoffsche Schauspielergesellschaft vorzufinden, und seine Schauspielerlaufbahn sollte dort beginnen. – Nun spielte er unterwegens auf seinen Wanderungen alle die Rollen in Gedanken durch, die ihn dereinst mit Ruhm und Beifall krönen, und seinen mannigfaltigen Kummer belohnen sollten. –
Er glaubte es könne ihm nicht fehlschlagen, weil er jede Rolle tief empfand, und sie in seiner eigenen Seele vollkommen darzustellen und auszuführen wußte – er konnte nicht unterscheiden, daß dies alles nur in ihm vorging, und daß es an äußerer Darstellungskraft ihm fehlte. – Ihm däuchte, die Stärke womit er seine Rolle empfand, müsse alles mit sich fortreißen, und ihn seiner selbst vergessen machen. –
Dies geschahe auch wirklich, wenn während dem Gehen seine Einbildungskraft immer erhitzter wurde – und er denn endlich auf dem Felde, wo er sich ganz allein glaubte, mit Beaumarchais laut zu toben, mit Guelfo zu rasen anfing.
Dieser Guelfo aus Klinger's Zwillingen war vor seiner Abreise aus H... eine seiner Lieblingsrollen geworden; denn er fand sein Hohngelächter über sich selber, seinen Selbsthaß, seine Selbstverachtung und Selbstvernichtungssucht, dennoch mit Kraft vereint, in dem Guelfo wieder. Und der Akt, wo Guelfo nach dem Brudermord, den Spiegel in welchem er sich sieht, zerschmettert, war Reisern ein wahres Fest. – Alle dies überspannte Schreckliche hatte ihn gleichsam berauscht – er taumelte in dieser Trunkenheit über Berg und Thal – und wo er ging, da war sein Schauplatz unbegrenzt. –
Klavigo, der ihm so viel Thränen gekostet hatte, war ihm nun zu kalt, und Beaumarchais trat an seine Stelle. – Dann kamen Hamlet, Lear, Othello, an die Reihe, die damals noch auf keiner deutschen Bühne vorgestellt wurden, und die er seinem Philipp Reiser ganz allein in schauervollen Nächten vorgelesen, und alle diese Rollen selbst durchgespielt, selbst durchempfunden hatte.
Nun gesellte sich hierzu die Dichtkunst; so sanft und melodisch floß sein Vers dahin, und so bescheiden und doch voll edlen Stolzes war seine Muse, daß sie die Zuneigung aller Herzen ihm sicher gewinnen mußte. – Er wußte zwar noch nicht eigentlich, was dieß nun für ein Gedicht seyn sollte, aber im Ganzen war es das schönste und harmonischste, was er sich denken konnte, weil es getreuer Ausdruck seiner vollen Empfindung war.
Mitten in einem solchen lyrischen Schwunge seiner Gedanken war es, als er dicht bei Seesen, einen Fußpfad ging, der ihn von der Straße ab, über eine Wiese führte, wo gerade ein Scheibenschießen war, das allen seinen schimmernden Aussichten in die Zukunft beinahe ein plötzliches Ende gemacht hätte: denn eine Flintenkugel saußte ihm dicht vor dem Kopfe vorbei, während daß alles ihm zuschrie, er solle von dort weggehen – er eilte schnell durch Seesen durch, und wanderte ruhig weiter, bis er in einem kleinen Dorfe wieder übernachtete.
Am zweiten Tage seiner Wanderung kam nun Reiser über einen Theil des Harzgebürges, und es war noch früh am Tage, als er zur Rechten an der Heerstraße, die Mauren einer zerstörten Burg auf einer Anhöhe liegen sah; er konnte sich nicht enthalten hier hinauf zu steigen, und als er oben war, verzehrte er sein Stück schwarzes Brodt, das er sich zum Frühstücke mitgenommen, in den Ruinen dieses alten Rittersitzes, und sah dabei auf die Heerstraße durch den Wald hinunter. –
Daß er nun als ein Wanderer in diesem alten zerstörten Gemäuer wieder sein Morgenbrodt verzehrte, und an die Zeiten dachte, wo hier noch Menschen wohnten, die auch auf diese Heerstraße durch den Wald hinunter sahen – dieß machte ihm einen der glücklichsten Momente – es schallte ihm immer wie eine Prophezeihung aus jenen Zeiten, daß diese Mauren einst öde stehen, daß der Wanderer sich dabei ausruhen und an die Tage der Vorzeit sich erinnern würde.
Sein Stück schwarzes Brodt, war ihm hier oben eine festliche Mahlzeit – er stieg gestärkt wieder hinunter, und wanderte frohen Muthes seine Straße fort, indem er die höhern Harzgebürge linker Hand liegen ließ.
Das Wandern ward ihm nun so leicht, daß der Boden unter ihm eine Welle schien, auf der er sich hob, und sank, und daß er so von einem Horizont zum andern sich fortgetragen fühlte – er verhielt sich bloß leidend, und immer stieg eine neue Scene vor seinem Blick empor.
Die Mittagseinkehr in der unangenehmen Gaststube war bald vorüber, und er befand sich wieder in der freien offenen Natur. – Diese Einkehr aber war ihm doch beschwerlich, und er dachte schon darauf, sich auch von dieser zu befreien, als er einmal über ein Kornfeld ging, und ihm die Jünger Christi einfielen, welche am Sonntage Ähren aßen.
Er machte sogleich den Versuch eine Handvoll Körner aus den Ähren herauszustreifen, aus welchen Körnern er das Mehl sog, und die Hülsen ausspuckte. Indes aber blieb das Nahrungsmittel doch immermehr ein Zeitvertreib, als daß es ihm eigentlich das Einkehren hätte ersparen sollen – Das Angenehme dieses Nahrungsmittels lag vorzüglich in der Idee davon, welche den Begriff von Freyheit und Unabhängigkeit noch vermehrte.
Da er nun wieder eine Tagereise vollendet hatte, kehrte er ohnweit Duderstadt in einem kleinem Dorfe ein, wo in dem Wirthshause niemand zu Hause war.
Es war noch vor der Dämmerung – der Thorweg zum Hofe bei dem Wirthshause stand offen – und auf dem Hofe war eine Laube, in welcher ein Tisch aber weder Stuhl noch Bank stand. –
Reiser, um sich auszuruhen, legte sich also auf den Tisch, und weil er zum lesen noch sehen konnte, so laß er in der Odyssee die Stelle von den Menschenfressern, die in dem ruhigen Hafen, die Schiffe des Ulysses zerschmettern, und seine Gefährten ergreifen und verzehren. –
Auf einmal war der Wirth zu Hause gekommen, und sahe, da es schon anfing dunkel zu werden, einen Menschen in seinem Hofe in der Laube auf dem Tische liegen, und in einem Buche lesen.
Er redete Reisern erst ziemlich unsanft an, da dieser sich aber aufrichtete, und der Wirth in ihm einen wohlgekleideten Menschen sah, so fragte er ihn sogleich, ob er ein Jurist sey, welches in diesen Gegenden die gewöhnliche Benennung für einen Studenten ist, weil die Theologen größtentheils in Klöstern studiren, und schon als Geistliche betrachtet werden.
Dem Wirth war seine Frau gestorben, und außer ihm war niemand im ganzen Hause. Der Mann war aber gesprächig, und Reiser hielt seine Abendmahlzeit, die wie gewöhnlich aus Bier und Brodt bestand, in seiner Gesellschaft.
Der Mann erzählte ihm von vielen sogenannten Juristen, die bei ihm logirt hätten, und Reiser ließ ihn dabei, daß er auch im Begriff sey nach Erfurt zu gehen, um dort zu studiren.
Alle dergleichen Unterredungen, die an sich unbedeutend gewesen wären, erhielten in Reisers Idee einen poetischen Anstrich, durch das Bild von dem homerischen Wanderer, welches ihm immer vor der Seele schwebte, und selbst die Unwahrheiten in seinen Reden hatten etwas übereinstimmendes mit seinem poetischen Vorbilde, dem Minerva zur Seite steht und wegen seiner wohl überdachten Lüge ihm Beifall zulächelt.
Reiser dachte sich seinen Wirth nicht bloß als den Wirth einer Dorfschenke, sondern als einen Menschen, den er nie gekannt, nie gesehen hatte, und nun auf eine Stunde lang mit ihm zusammentraf, an einem Tische mit ihm saß, und Worte mit ihm wechselte.
Dasjenige, was durch die menschlichen Einrichtungen und Verbindungen gleichsam aus dem Gebiete der Aufmerksamkeit herausgedrängt, gemein und unbedeutend geworden ist, trat, durch die Macht der Poesie, wieder in seine Rechte, wurde wieder menschlich, und erhielt wieder seine ursprüngliche Erhabenheit und Würde.
Der Mann war nicht einmal eingerichtet, eine Streu zu machen, weil selten jemand hier übernachtete; und Reiser schlief auf dem Heuboden, der ihm ein angenehmes Lager gewährte.
Am andern Morgen früh setzte er seine Reise weiter fort, und der Auffenthalt in diesem Hause mit dem Wirth ganz allein, blieb ihm eine seiner angenehmsten Erinnerungen.
An diesem Tage gieng es in seiner innern Gedankenwelt besonders lebhaft zu – Er hatte sich nun um ein merkliches seinem Ziele genähert, und die Besorgniß trat doch nun bei ihm ein, was er auf den Fall thun würde, wenn seine Aussichten zu unmittelbarem Ruhm und Beifall ihm mißlingen, und die Entwürfe zu seiner theatralischen Laufbahn gänzlich scheitern sollten.
Nun traten auf einmal die Extreme auf, ein Bauer oder Soldat zu werden, und auf einmal war das poetische und theatralische wieder da, denn seine Ideen vom Bauer und Soldat wurden wieder zu einer theatralischen Rolle, die er in seinen Gedanken spielte.
Als Bauer entwickelte er nach und nach seine höhern Begriffe, und gab sich gleichsam zu erkennen; die Bauern horchten ihm aufmerksam zu, die Sitten verfeinerten sich allmälig, die Menschen um ihn her wurden gebildet.
Als Soldat fesselte er die Gemüther seiner Schicksalsgenossen allmälig durch reizende Erzählungen; die rohen Soldaten fingen an, auf seine Lehren zu horchen: das Gefühl der höhern Menschheit entwickelte sich bei ihnen; die Wachtstube ward zum Hörsaale der Weisheit.
Indem er also glaubte, daß er gerade auf das Entgegengesetzte vom Theater sich gefaßt gemacht habe, war er erst recht in vollkommen theatralische Aussichten und Träume wieder hineingerathen.
Es lag aber für ihn eine unbeschreibliche Süßigkeit in dem Gedanken, wenn er Bauer oder Soldat werden müßte, weil er in einem solchen Zustande weit weniger zu scheinen glaubte, als er wirklich wäre.
Während er sich mit diesen Gedanken beschäftigte, kam er durch Stadt Worbes, wo ihm einige Franziskanermönche aus dem dasigen Kloster begegneten, die ihn freundlich grüßten.
Als er vor dem Kloster vorbeiging, hörte er inwendig den Gesang der Mönche, die da nun von der Welt abgeschieden, ohne Sorgen, Pläne und Aussichten lebten, und alles das, was sie seyn wollten, auf einmal waren.
Dieß machte zwar einigen Eindruck auf sein Gemüth, aber lange nicht so stark, als nachher der erste Anblick eines Kartheuserklosters, dessen Einwohner durch ihre Mauern gänzlich von der Welt geschieden, auch nie mit einem Fuße den Schauplatz wieder betreten, den sie einmal verlassen haben.
Durch die wandernden Franziskanermönche aber wurde die Idee von Abgeschiedenheit kleinlicht und abgeschmackt. – Der schnelle Gang vertrug sich nicht mit dem Ordenskleide, und das Ganze hatte auch nicht einmal poetische Würde.
übrigens tönte die hochdeutsche Sprache der Leute in diesen Gegenden immer angenehm in Reisers Ohren, weil dadurch die Idee seiner nunmehrigen Entfernung von dem plattdeutschen Lande immer lebhaft wieder in ihm erweckt wurde.
Nun war diesen Tag auch sehr schönes Wetter gewesen, und Reiser kehrte den Abend in einem Dorfe, Nahmens Orschla ein, um den andern Morgen von dort aus nach der Reichsstadt Mühlhausen seinen Weg fortzusetzen.
Das Dorf ist katholisch; und als er an den Gasthof kam, stand eine Menge Leute vor der Thüre, unter denen sich der Schulmeister des Orts befand, welcher ihn mit den Worten anredete: esne litteratus? (ob er nicht ein Gelehrter wäre?)
Reiser bejahte dieß wieder in lateinischer Sprache, und auf befragen wohin er ginge, sagte er wieder: er ginge nach Erfurt, um dort die Theologie zu studiren; denn dieß schien ihm immer das sicherste zu seyn.
Während der Zeit standen die Bauern umher, und horchten zu, wie ihr Schulmeister mit dem fremden Studenten lateinisch sprach. Der Sohn des Schulmeisters kam auch dazu, der in Hildesheim studirt hatte, und jetzt seinem Vater adjungirt war.
Reiser ging nun in die Stube, und legte zu noch mehrerem Beweise, daß er ein Litteratus sey, seinen Homer auf den Tisch, welchen denn auch der Schulmeister gleich kannte, und den Bauern auf deutsch sagte, daß das der Homer wäre.
Mit Reisern aber fuhr er immer fort Latein zu sprechen, so gut es gehen wollte, wobei denn viel komisches mit unter lief; da er sehr viel von seinem gelehrten Unterricht sprach, so fragte ihn Reiser, ob er auch mit seinen Schülern die Kirchenväter läse? worüber er erst ein wenig in Verlegenheit gerieth, sich aber doch bald wieder faßte, und sagte: alternatim.
Er nahm nun Abschied von Reisern, der den andern Morgen früh schon weiter gehen wollte, und warnte ihn, sich vor den Kaiserlichen und Preußischen Werbern in diesen Gegenden in Acht zu nehmen, und sich durch keine Drohungen schrecken zu lassen, wenn sie etwa äußerten, daß sie ihn mit Gewalt nehmen wollten.
Reiser legte sich auf seine Streu ruhig schlafen – als er aber am andern Morgen erwachte, regnete es so stark, daß er in seiner Kleidung mit Schuhen und seidenen Strümpfen, nicht aus dem Hause gehen, viel weniger seine Reise fortsetzen konnte; da überdem hier ein leimigter Boden ist, der bei jeder Nässe das Gehen auf der Landstraße ganz außerordentlich beschwerlich macht.
Dieß war nun freilich etwas Unvermuthetes für Reisern – er hatte dem Wetter in dieser Jahrszeit zuviel zugetrauet, und war auf diesen Fall nicht vorbereitet, da er weder mit Stiefeln, noch sonst mit Kleidung zum Regenwetter versehen war, und sein beständiger Anzug auch seinen ganzen Kleidervorrath ausmachte.
Hier war also nichts zu thun, als auszuharren, bis der Himmel sich wieder aufklären, und das Erdreich sich wieder trocknen würde. – Es hörte aber diesen und den folgenden Tag nicht auf, zu regnen. –
Nun kam schon in aller frühe ein Kaiserlicher Unteroffizier in die Gaststube, der in diesem Orte auf Werbung lag, sich mit seinem Krug Bier ganz vertraulich neben Reisern an den Tisch setzte, und vom Soldatenleben erst von weitem mit ihm zu sprechen anfing, bis er nach und nach immer zudringlicher wurde, und ihm endlich geradezu versicherte, daß er doch vor den Preußischen und Kaiserlichen Werbern nicht über Mühlhausen kommen würde, und sich also lieber nur gleich von ihm für sieben Gulden Handgeld anwerben lassen möchte – so daß es den Anschein hatte, als wenn nun der Soldat in Reisers Phantasie, eher als er gedacht hatte, realisirt werden könnte.
Als der Soldat hinausgegangen war, trat der Schulmeister wieder herein, der Reisern einen guten Morgen bot, und ihn heimlich warnte, sich vor dem Werber in Acht zu nehmen, ob er gleich selbst das Soldatenleben für so schlimm nicht hielte; denn sein Sohn sey auch zwei Jahr in Maynzischen Diensten gewesen, und wer keinen Paß habe, könne hier schwerlich durchkommen.
Reiser versicherte ihm, daß er alles Nöthige um sich zu legitimiren bei sich habe. Dieß war nehmlich der lateinische Anschlagbogen, von dem Schulaktus in Hannover, da er am Geburtstage der Königin von England eine Rede hielt, und worauf sein Nahme nicht Reiser sondern Reiserus gedruckt stand. Und außerdem noch den gedruckten Prolog zu dem Deserteur aus Kindesliebe, worauf sein Nahme als Verfertiger stand, nebst einem Gedicht auf die Einführung eines Lehrers, wo sein Nahme unter den übrigen Primanern gedruckt mit aufgeführt war.
Er wollte diese sonderbaren Dokumente zuerst nicht gerne vorzeigen, bis es ihm äußerst nahe gelegt wurde, und man ihm nicht undeutlich merken ließ, daß man ihn für einen Landstreicher hielte.
Nun brachte er seine gedruckten Zeugnisse zum Vorschein, die eine bessere Wirkung thaten, als er anfänglich geglaubt hatte, weil er sie nach und nach vorlegte.
Zuerst legte er den großen lateinischen Anschlagbogen auseinander, und zeigte auf seinen Nahmen Reiserus. – Der Schulmeister hatte hier wieder Gelegenheit, seine Stärke in der Latinität zu zeigen, indem er den Anschlagbogen ins Deutsche übersetzte; und so hatte Reiser schon viel bei ihm gewonnen.
Darauf zog er den Prolog hervor, und wieß die Anwesenden auf seinen deutsch gedruckten Nahmen; dieß stimmte also überein, und der Schulmeister erzählte bei der Gelegenheit, daß er auch auf der Jesuitenschule mit Komödie gespielt, und sein Nahme gedruckt worden sey.
Zuletzt legte Reiser noch das Gedicht vor, wo sein Nahme aufs Neue in der Liste aller seiner Mitschüler gedruckt erschien, und nun vollends aller Zweifel verschwand, daß er der nicht wirklich wäre, der seinen Nahmen so oft, und auf so verschiedene Weise gedruckt aufzeigen konnte. Der Werber selbst wurde stille, und schien vor Reisern einigen Respekt zu bekommen.
Dieß verschafte ihm Ruhe. Er ließ sich Feder und Papier geben, und fing an, eine von den Hymnen des Homers in deutsche Hexameter zu übersetzen. Den Abend kam der Schulmeister wieder, und unterhielt sich mit ihm: so ging dieser Tag vorüber, und Reiser legte sich ruhig schlafen.
Als er aber am andern Morgen erwachte, den Himmel wieder eben so trübe wie gestern sahe, und den Regen ans Fenster schlagen hörte, fing ihm an der Muth zu sinken. –
Er stand von seiner Streu auf, und setzte sich traurig an den Tisch; es wollte mit den homerischen Hymnen nicht vorwärts gehen – er stellte sich ans Fenster, und sahe zu, ob der Himmel sich noch nicht ein wenig aufklären wollte, als der Soldat schon wieder hereintrat, um ihm seine Morgenvisite zu machen.
Da nun Reiser sich ankleidete, und sein Haar in einen Zopf flochte, fing der Kriegesmann wieder an, ihm über seine Größe, und über die Länge seines Haars sehr viele Komplimente zu machen, und wie Schade es um ihn sey, daß er nicht in den Kriegsstand treten wolle.
Der Schulmeister kam nun auch dazu; sie hatten seit gestern überlegt, daß alle die vorgezeigten Dokumente kein Siegel gehabt hatten, und brachten nun diesen Umstand gegen Reisern vorzüglich in Anregung, daß er doch vor den Werbern nicht durchkommen würde, und daß er sich also lieber dem gönnen sollte, der doch die ersten Ansprüche auf ihn hätte.
So dauerte es nun den ganzen Tag über, welcher für Reisern, der nicht fort konnte, einer der traurigsten war, bis es gegen Abend sich aufklärte, und auf einmal sein Muth wieder erwachte.
Er nahm alle seine Überredungskraft zusammen, um die Leute durch die nachdrücklichsten Vorstellungen zu überzeugen, daß es wirklich sein Vorsatz sey, in Erfurt zu studiren, wovon ihn nichts in der Welt abbringen könne, daß diese ihm endlich zu glauben schienen.
Der Schulmeister sagte ihm auf lateinisch, wenn er Morgenfrüh auf Mühlhausen zureißte, so würde ihm der Wirth von diesem Gasthofe begegnen, der auch lateinisch spräche, und verreißt gewesen sey, um die seinigen (suos) zu hohlen.
Der Soldat aber versprach Reisern, zu seinem Schrecken, ihn den andern Morgen zu begleiten, und ihn durch ein Gehölz auf den Weg zu bringen.
Den andern Morgen in aller Frühe war der Soldat schon wieder da, um ihn zu begleiten, und wollte im Gasthofe Reisers Zeche bezahlen, welches dieser aber mit Gewalt nicht zugab.
Sie gingen nun aus dem Dorfe Orschla auf Hähnichen zu eine Anhöhe herauf, der Soldat sprach kein Wort, und da sie durch ein Gehölz kamen, so erwartete nun Reiser jeden Augenblick die Entscheidung seines Schicksals, dem er doch nicht entgehen könnte.
Auf einmal stand der Soldat still, und hielt an Reisern eine ordentlich pathetische Anrede, er sollte sich noch einmal prüfen, ob er sich wirklich getraute, nicht in die Hände anderer Werber zu fallen; denn das Einzige würde ihn nur ärgern, wenn er hörte, daß Reiser doch Soldat geworden wäre, und ihn also gleichsam betrogen hätte: wenn es aber sein wirklicher Vorsatz sey zu studiren, und nicht Soldat zu werden, so wünsche er ihm Glück zu seinem Vorhaben, und eine glückliche Reise.
Hiermit ging er fort, und Reiser traute immer noch nicht recht, bis er erst eine ganze Strecke gegangen war, und ihm nichts auffallendes begegnete, ausser einem pucklichten Mann, der zwei Schweine vor sich hertrieb, und ihn lateinisch anredete, weil er ihn für einen Studenten hielt.
Dieß war der Gastwirth aus Orschla, wovon der Schulmeister gesagt hatte, daß er (suos) die Seinigen holte, welcher aber (sues) Schweine geholt hatte, die der Schulmeister in Orschla nach der zweiten Deklination deklinirt, und sie dadurch zu den Seinigen erhoben hatte.
Sobald sich nun Reiser wieder im Freien sahe, und niemand gewahr wurde, der ihm aufgelauert hätte, so war ihm dieß ein unerwartetes Glück – die Gefahr aber, welcher er entronnen war, machte doch, daß er im Gehen sehr ernsthaft über sein künftiges Leben nachdachte.
Er erwog, daß es ihm bei allen Leuten ein ehrliches Ansehn gab, wenn er sagte, daß er auf die Universität gehen und studiren wolle. Die Idee war ihm auch selber nicht zuwider; dieß dauerte aber nur so lange, bis die Kulissen mit den Lichtern in seiner Einbildungskraft wieder hervortraten, und alle andern Aussichten weichen mußten.
Er wanderte bis gegen Mittag auf eine ziemlich unbequeme Weise, weil der Boden noch nicht trocken war, wobei nun zu seinem Schrecken seine Schuh zu leiden anfingen, die unter seinen Umständen gewissermaßen einen unersetzlichen Theil seines Selbst ausmachten.
Er fühlte den drohenden Verlust mit jedem Schritte den er that, als um die Mittagsstunde der Himmel sich wieder mit Wolken umzog, die einen neuen Regenguß prophezeieten, welcher sich auch sehr bald einstellte, und Reisers Wanderschaft zum zweitenmal unterbrach.
Zum Glück erreichte er bald ein Jägerhaus, das mitten auf einem rund umher mit Wald umgebenen Felde lag, und wo er eben so voller Zutraun einkehrte, als er höflich und gut aufgenommen und bewirthet wurde.
Es war, als ob sein Empfang schon vorbereitet wäre, so freundschaftlich nahmen ihn die Leute in dieser einsamen Wohnung auf.
Es war, als ob es sich bei diesen Leuten von selbst verstände, daß man in einem solchen Wetter einen Wanderer aufnehmen müsse. Es hörte den ganzen Tag nicht auf zu regnen, und die Leute nöthigten ihn selber, die Nacht zu bleiben.
Als sie ihn nun zum Abendessen nöthigten, verbat es sich Reiser, weil er nicht hinlänglich mit Gelde versehen sey, um diese Bewirthung zu bezahlen; indem er eine weite Reise vor sich habe, und sich außerordentlich einschränken müsse; worauf der Jäger aber mit einer Art von Unwillen ihn an den Tisch zog.
Es war für Reisern ein Gefühl ohne Gleichen, sich von ganz unbekannten Menschen so wohl aufgenommen zu sehen.
Er fand sich hier, wie zu Hause; man wieß ihm die Nacht ein gutes Bette an, das ihm nun zum erstenmale auf seiner Wanderung wieder geboten wurde.
Am andern Morgen weckte man ihn zum Frühstück, und nöthigte ihn, den ganzen Tag da zu bleiben, weil es noch immerfort regnete.
Der Mann ging ins Holz, und verwieß Reisern auf seine Bibliothek, daß er sich während der Zeit damit unterhalten sollte.
Diese Bibliothek bestand aus einer großen Sammlung von alten Kalendern, Todtengesprächen, der Geschichte eines göttingschen Studenten, und einem Erfurtischen Wochenblatt, der Bürger und der Bauer, wo der Bauer im Thüringschen Dialekt sprach, und der Bürger ihm in hochdeutscher Sprache antwortete.
Reiser amüsirte sich herrlich mit diesen Sachen, und gab von Zeit zu Zeit wieder seinen Gedanken Raum; denn sein gütiger Wirth und Wirthin waren von wenigen Worten, und nicht im Geringsten neugierig, sondern fragten ihn nicht einmal, wohin er ginge, und woher er käme, so daß er also durch nichts in seinen Gedanken gestört wurde.
Diese gastfreundliche Stube mit dem kleinen Fenster, wodurch man weit übers Feld nach dem Holze sahe, indeß der Regen sich draußen stromweise ergoß, blieb eins der angenehmsten Bilder in Reisers Gedächtniß.
Am dritten Morgen hatte sich der Himmel aufgeklärt; und als Reiser nun von seinen Wohlthätern Abschied nahm, suchten sie ihm sogar noch den Dank zu ersparen, indem sie eine nicht nennenswerthe Kleinigkeit an Gelde, als eine Bezahlung für die dreitägige Bewirthung von ihm annahmen, und da er wegging nicht einmal nach seinem Nahmen fragten.
Das Andenken an diese Leute machte Reisern während dem Gehen noch manche frohe Stunde, und gab ihm zugleich wieder Muth und Zutrauen zu den Menschen, unter die er sich nun, wie in einem Ocean, verlor.
Der Weg war zuerst von dem gestrigen Regen noch ziemlich beschwerlich; weil aber die Sonne heiß schien, so trocknete der Boden bald wieder, und Reiser erreichte noch gegen Mittag die Reichsstadt Mühlhausen, welche nun als ein neuer ungewohnter Anblick, mit ihren Thürmen vor ihm lag.
Hier stand ihm nun, wie er gewarnt war, die meiste Gefahr von den Werbern bevor. – Er gab sich also diesmal alle mögliche Mühe, ehe er ins Thor ging, sorgfältig seine Toilette zu machen; und die schon einmal versuchte Rolle eines unbefangnen Spatziergängers gelang ihm auch dießmal wieder eben so gut, wie in Hildesheim, so daß er, ohne von einer Schildwache befragt zu werden, glücklich durchs Thor in die Stadt kam.
Durch die Stadt eilte er so schnell wie möglich, erkundigte sich nach dem Thore aus welchem der Weg nach Erfurt geht, und verdoppelte seine Schritte, so oft er etwas einer Soldatenkleidung ähnliches nur von fern erblickte.
Wie froh schüttelte er den Staub von seinen Füßen über diese Stadt, als er den letzten Schlagbaum zurückgelegt hatte, und keinen preußischen Werber hinter noch neben sich sahe.
Die grünen Thurmspitzen blieben das einzige Bild, was er von diesem Häuserhaufen mit sich nahm; alles übrige war verloschen; so schnell war seine Einbildungskraft über die Gegenstände hinweggegleitet.
Er näherte sich nun immer mehr dem Ziele seiner Reise, und betrachtete das Zurückgelegte mit stillem Vergnügen, wobei ihm besonders seine Sparsamkeit und harte Lebensart einen süßen Triumph gewährten, da nun die Beschwerlichkeiten beinahe überstanden waren. Demohngeachtet aber fühlte er wiederum eine Art von Ängstlichkeit, je kleiner der Zwischenraum zwischen ihm und seinen ungewissen Aussichten wurde.
Denn das, was in der Einbildungskraft keinen Anstoß gelitten hatte, sollte nun zur Wirklichkeit kommen, und mit Hindernissen kämpfen, die sich schon im Voraus darstellten. Es däuchte Reisern nun viel leichter, mit schönen und angenehmen Aussichten in die weite Welt zu wandern, als an Ort und Stelle selbst zu seyn, und diese Aussichten wahr zu machen.
Drum hätte sich nun Reiser gerne das Ziel noch weiter weggewünscht, wenn er im Stande gewesen wäre, seine Wanderung weiter fortzusetzen. Eine traurige Bemerkung aber, die er an seinen Schuhen machte, deren Verlust für ihn, in den Umständen, worin er sich befand, unersetzlich war, hemmte auf einmal alle seine weiten Aussichten wieder, und machte, daß er ernsthaft über seinen Zustand nachdachte.
Es ist merkwürdig, wie die verächtlichsten wirklichen Dinge, auf die Weise in die glänzendsten Gebäude der Phantasie eingreifen und sie zerstören können, und wie auf eben diesen verächtlichen Dingen eines Menschen Schicksal beruhen kann.
Reisers Glück, das er in der Welt machen wollte, hing ietzt im eigentlichen Sinne von seinen Schuhen ab; denn von seinen übrigen Kleidungsstücken durfte er nichts veräußern, wenn er mit Anstande erscheinen wollte: und doch machten zerrissene Schuhe, die er durch neue nicht ersetzen konnte, seinen ganzen übrigen Anzug unscheinbar und verächtlich.
Dieß versetzte ihn, indem er auf dem Wege nach Langensalza begriffen war, in traurige und schwermüthige Gedanken, bis ein Bauer und ein Handwerksbursch, die eben desselben Weges giengen, sich zu ihm gesellten, und ihn mit Gesprächen unterhielten.
Der Handwerksbursch erzählte von seinen Reisen in Chursachsen, und der Bauer hatte eine Klagesache, die er selbst in Dresden bei dem Churfürsten anbringen wollte.
Es war kurz nach Mittag und eine drückende Hitze. Dem Handwerksburschen drückten seine Stiefeln – Reiser sahe mit jedem Tritte seine Schuhe sich verschlimmern, und der Bauer klagte über entsetzlichen Durst, als sie auf dem Felde einige Arbeitsleute antrafen, die einen Eimer Wasser neben sich stehen hatten, und den drei ermüdeten Wanderern zu trinken gaben.
Eine solche Scene, wo unbekannte, voneinander entfernte Menschen auf einmal sich nahe zusammenfinden, gemeinschaftliches Bedürfniß, und gemeinschaftlichen Trost und Zuspruch aneinander haben, als ob sie nie unbekannt und entfernt voneinander gewesen wären; so etwas hielt Reisern für alles Unangenehme auf seinen Wanderungen wieder schadlos, und er konnte sich mit innigem Vergnügen daran zurückerinnern.
Seine Gefährten verließen ihn vor der Stadt Langensalza, in der er sich nicht aufhielt, sondern noch den nächsten Ort zu erreichen suchte, wo er übernachten wollte.
Er kam spät in dem Gasthofe an, wo er nun die letzte Nacht vor seiner Ankunft in Erfurt zubrachte. – Als er am andern Morgen erwachte, so war sein erster Gedanke an einen Schuster; und wie groß war nun seine Freude, als er an diesem Orte einen fand, der um wenige Groschen, während daß er darauf wartete, seine Schuh wieder in dauerhaften Stand setzte, und er dadurch auf einmal aus der größten Verlegenheit befreit war.
Nun gieng er also rasch auf Erfurt zu. – So wie er gekleidet war, durfte er nun vor iedermann erscheinen, und so hatte er wieder Muth und Zutrauen zu sich selber.
In dem letzten Dorfe vor Erfurt ließ er sich einen Trunk Bier geben. – In dem Gasthofe war es sehr lebhaft. Man bemerkte schon die Nähe der Stadt, aus welcher sich viele Einwohner hier befanden, unter denen auch ein Gelehrter war, mit dem die andern von seinen Werken sprachen.
Von diesem Dorfe aus bekam denn Reiser endlich die Stadt Erfurt zu Gesichte, mit dem alten Dom, den vielen Thürmen, den hohen Wällen, und dem Petersberge. – Das war nun die Vaterstadt seines Freundes Philipp Reisers, wovon ihm dieser so viel erzählt hatte. – Auf dem Wege nach der Stadt zu waren Kirschbäume gepflanzt. – Die Hitze der Mittagssonne hatte sich schon gelegt – die Leute giengen vor dem Thore spatzieren – und als Reiser auf diesem Wege an Hannover zurückdachte, so war es ihm auch gerade, als habe er von dort bis hieher einen leichten Spatziergang gemacht, so klein däuchte ihm nun der Zwischenraum, den er zurückgelegt hatte.
Eine so große Stadt wie diese hatte er nun noch nicht gesehen; der Anblick war ihm neu und ungewohnt; er kam durch die breite und schöne Straße, welche der Anger heißt, und konnte sich nicht enthalten, noch ein wenig in der Stadt umherzugehen, ehe er seinen Stab weiter setzte; denn er wollte noch bis zum nächsten Dorfe gehen, das auf dem Wege nach Weimar liegt.
Bei diesen Wanderungen durch die Straßen von Erfurt kam er in eine der Vorstädte, und kehrte, weil es noch nicht spät war, in einem Gasthofe ein.
Hier saß der Wirth, ein dicker Mann, am Fenster, und Reiser fragte ihn, ob die Eckhoffsche Schauspielergesellschaft noch in Weimar wäre? Nichts! antwortete er, sie ist in Gotha! Reiser fragte weiter, ob Wieland noch in Erfurt wäre? Nichts! antwortete jener wieder, er ist in Weimar! Das Nichts! sprach er jedesmal mit einer Art von Unwillen aus, als ob es ihn verdrösse, Nein! zu sagen.
Und dieß harte Nichts in der Antwort des dicken Wirthes, verrückte auf einmal Reisers ganzen Plan. – Nach Weimar war eigentlich sein Sinn gerichtet – da glaubte er, würden sich unerwartete Kombinationen finden – er würde da den angebeteten Verfasser von Werthers Leiden sehen – Und nun klang auf einmal Gotha statt Weimar in seinen Ohren.
Er ließ sich aber auch dieß nicht irren, sondern stand eilig auf, um sich noch denselben Abend auf den Weg nach Gotha zu begeben, und, um von seiner strengen Regel nicht abzuweichen, im nächsten Dorfe zu übernachten.
Ehe die Sonne unterging, hatte er Erfurt schon wieder im Rücken, und ehe es ganz Nacht wurde, erreichte er noch das erste Dorf auf dem Wege nach Gotha. – Der Dom und die alten Thürme von Erfurt machten nun ein neues Bild in seiner Seele, das er mit sich heraustrug, und das ihn zur Wiederkehr in diesen Ort einzuladen schien.
In dem Dorfe aber, wo er einkehrte, hatte er noch zu guter Letzt auf seiner Streu sehr unruhige Nachbaren. Dieß waren nehmlich Fuhrleute, die von Zeit zu Zeit aufstanden, und sich in einem sehr groben Dialekt miteinander unterhielten, worin besonders ein Wort vorkam, das höchst widrig in Reisers Ohren tönte, und immer mit einer Menge von häßlichen Nebenideen für ihn begleitet war: die Bauern sagten nehmlich immer: er quam anstatt er kam. Dieses quam schien Reisern ihr ganzes Wesen auszudrücken; und alle ihre Grobheit war in diesem quam, das sie immer mit vollen Backen aussprachen, gleichsam zusammengedrängt.
Kaum daß Reiser ein wenig eingeschlummert war, so weckte ihn dies verhaßte Wort wieder auf, so daß diese Nacht eine der traurigsten war, die er je auf einer Streu zugebracht hatte. Als der Tag anbrach, sahe er die schwammigten aufgedunsenen Gesichter seiner Schlafkameraden, welche vollkommen mit dem quam übereinstimmten, das ihm noch in den Ohren gellte, als er den Gasthof schon verlassen hatte, und nun am frühen Morgen mit starken Schritten auf Gotha zuwanderte.
Weil er die Nacht wenig geschlafen hatte, waren seine Gedanken auf dem Wege nach Gotha eben nicht sehr heiter, wozu noch kam, daß mit jedem Schritte seine Aussicht nun enger wurde, und seine Phantasie weniger Spielraum hatte.
Es war an einem Sonntage, und ein Schuster, der die Woche aufs Land gegangen war, um Schulden einzufordern, kehrte mit ihm nach Gotha, und sagte ihm unter andern, daß es dort sehr theuer zu leben sey.
Diese Nachricht war für Reisern sehr bedenklich, der nun ohngefähr noch einen Gulden im Vermögen hatte, und dessen Schicksal in Gotha sich also sehr bald entscheiden mußte. –
Das Gespräch mit dem Schuster, der ihm als ein Einwohner von Gotha seine Noth klagte, war für ihn gar nicht unterhaltend, und stimmte seine Ideen sehr herab, da er nun das wirkliche Leben in so einer Stadt sich dachte, wo noch kein Mensch ihn kannte, und wo es noch sehr zweifelhaft war, ob irgend jemand an seinem Schicksal Theil nehmen, und auf seine Wünsche merken würde.
Diese unangenehmen Reflexionen machten, daß ihm der Weg noch beschwerlicher, und er mit jedem Schritt müder wurde, bis sich die beiden kleinen Thürmchen von Gotha zeigten, wovon ihm der Schuster sagte, daß der eine auf der Kirche, und der andre auf dem Komödienhause stände.
Dieser angenehme Kontrast und lebhafte sinnliche Eindruck machte, daß sein Gemüth sich allmälig wieder erheiterte, und er durch verdoppelte Schritte seinen Gefährten wieder in Athem setzte.
Denn das Thürmchen bezeichnete ihm nun deutlich den Fleck, wo der unmittelbare laute Beifall eingeerndtet, und die Wünsche des ruhmbegierigen Jünglings gekrönt würden.
Dieser Platz behauptete dort seine Rechte neben dem geweihten Tempel, und war selbst ein Tempel, der Kunst und den Musen geweihet, in welchem das Talent sich entwickeln, und alle und jede Empfindungen des Herzens aus ihren geheimsten Falten vor einem lauschenden Publikum sich enthüllen konnten. –
Da war nun der Ort, wo die erhabene Thräne des Mitleids bei dem Fall des Edlen geweint, und lauter Beifall dem Genius zugejauchzt wurde, der mit Macht die Seelen zu täuschen, die Herzen zu schmelzen wußte.
Mitleid den Todten und Ehre den Lebenden war hier die schöne Lösung – und Reiser lebte und webte schon in diesem Elemente, wo alles das, was die Vorwelt empfand, noch einmal nachempfunden, und alle Scenen des Lebens in einem kleinen Raume wieder durchlebt wurden.
Kurz, es war nichts weniger als das ganze Menschenleben, mit allen seinen Abwechselungen und mannichfaltigen Schicksalen, das bei dem Anblick des Thürmchens vom Gothaischen Komödienhause, sich in Reisers Seele wie im Bilde darstellte, und worin sich die Klagen des Schusters, der ihn begleitete, und seine eigenen Sorgen, wie in einem Meere verlohren. –
Mit seinem einzigen Gulden in der Tasche fühlte sich Reiser beglückt wie ein König, so lange dieser Reichthum von Bildern ihm vorschwebte, die die Spitze des Thürmchens in Gotha umgaukelten, und Reisern einen schönen Traum in die Zukunft aufs neue vorspiegelten.
Da sie nicht mehr weit von der Stadt waren, ließ Reiser seinen Gefährten voran gehen, und setzte sich gemächlich unter einen Baum, um so gut wie nur irgend möglich, seine Kleidung in Ordnung zu bringen, und auf eine stattliche Weise in Gotha seinen Einzug zu halten.
Dieß gelang ihm so gut, daß einige Handwerksleute, die eben vor dem Thore vor Gotha spatzieren giengen, wie vor einem vornehmen Manne den Hut vor ihm abzogen, welches Reisern nicht wenig in Verwunderung setzte, der auf seiner ganzen Reise mit den Fuhrleuten auf der Streu geschlafen, und eine gar nicht glänzende Figur gespielt hatte.
Er kam nun durch das alte Thor von Gotha in eine etwas dunkle Straße, die er hinaufgieng, und bald zur rechten Seite den Gasthof zum goldnen Kreuze ansichtig wurde, wo er denn einkehrte, weil dieser Gasthof ihm keiner der glänzendsten zu seyn schien.
Als er eben hereintrat, fand er gleich vorn in der Gaststube einen Schwarm von Handwerksburschen, die schrien und lermten; und er wollte schon wieder umkehren, als der alte Wirth zu ihm kam, der ihn freundlich anredete und fragte, ob er etwa hier logieren wolle? Reiser erwiederte: dieß sey wohl eine Herberge für Handwerksburschen? Das thäte nichts, sagte der Wirth, er solle mit seinem Logis schon zufrieden seyn, und hierauf nöthigte er Reisern in seine eigene wohleingerichtete Stube, wo ein alter Hauptmann, ein Hoflaquai, und noch einige andere wohlgekleidete Leute waren, in deren Gesellschaft Reiser von dem Wirth introduciret, und auf das höflichste behandelt wurde. Denn man that keine einzige unbescheidene oder neugierige Frage an ihn, und bewieß ihm doch dabei eine schmeichelnde Aufmerksamkeit.
In diesem Zimmer stand ein Flügel, auf welchem ein junger Mann Nahmens Liebetraut sich hören ließ. Dieser Liebetraut war auch erst vor kurzem zufälliger Weise in eben diesen Gasthof eingekehrt, und mit den alten Wirthsleuten bekannt geworden, auf deren Zureden, weil sie sich gerne in Ruhe setzen wollten, er den Gasthof in Pacht übernommen hatte, so daß er also eigentlich der Wirth war, obgleich die Alten ihm noch immer Anweisung geben, und sich mit um die Wirthschaft bekümmern mußten.
Dieser junge Liebetraut ließ sich sehr bald mit Reisern in ein Gespräch über schöne Wissenschaften und Dichtkunst ein, und zeigte sich als ein Mann von feinem Geschmack und Bildung, und was das sonderbarste war, so schien er nicht undeutlich darauf anzuspielen, daß Reiser wohl hieher gekommen sey, um sich dem Theater zu widmen.
Dieser ließ sich für ietzt nicht weiter aus, und ihm wurde nun auch eine Stube angewiesen, wo er allein seyn konnte. Hier sammelten sich nun seine Gedanken wieder, und er machte sich nun einen Plan, wie er am andern Tage seinen Besuch bei dem Schauspieler Eckhof machen, und dem sein Anliegen vortragen wollte.
Während er auf seiner Stube allein mit diesen Gedanken beschäftigt war, und am Fenster stand, kamen die Chorschüler vor das Haus und sangen eine Motette, die Reiser während seiner Schuljahre in Wind und Regen oft mitgesungen hatte.
Dieß erinnerte ihn an jenen ganzen trüben Zeitraum seines Lebens, wo immer Mißmuth, Selbstverachtung und äußerer Druck ihm ieden Schimmer von Freude raubte, wo alle seine Wünsche fehlschlugen, und ihm nichts als ein schwacher Strahl von Hofnung übrig blieb.
Sollte denn nun, dachte er, nicht endlich einmal die Morgenröthe aus jenem Dunkel hervorbrechen? – Und eine trügerische täuschende Hofnung schien ihm zu sagen, daß er dafür, daß er so lange sich selber zur Quaal gewesen, nun auch einmal werde Freude an sich selber haben, und daß die glückliche Wendung seines Schicksals nicht weit mehr entfernt sey.
Sein höchstes Glück aber war nun einmal der Schauplatz; denn das war der einzige Ort wo sein ungenügsamer Wunsch, alle Scenen des Menschenlebens selbst zu durchleben, befriedigt werden konnte.
Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte, so zog ihn jedes Schicksal, das außer ihm war, desto stärker an; daher schrieb sich ganz natürlich während seiner Schuljahre, die Wuth, Komödien zu lesen und zu sehen. – Durch jedes fremde Schicksal fühlte er sich gleichsam sich selbst entrissen, und fand nun in andern erst die Lebensflamme wieder, die in ihm selber durch den Druck von außen beinahe erloschen war.
Es war also kein ächter Beruf, kein reiner Darstellungstrieb, der ihn anzog: Denn ihm lag mehr daran, die Scenen des Lebens in sich, als außer sich darzustellen. Er wollte für sich das alles haben, was die Kunst zum Opfer fordert.
Um seinetwillen wollte er die Lebensscenen spielen – sie zogen ihn nur an, weil er sich selbst darin gefiel, nicht weil an ihrer treuen Darstellung ihm alles lag. – Er täuschte sich selbst, indem er das für ächten Kunsttrieb nahm, was bloß in den zufälligen Umständen seines Lebens gegründet war. – Und diese Täuschung, wie viele Leiden hat sie ihm verursacht, wie viele Freuden ihm geraubt!
Hätte er damals das sichere Kennzeichen schon empfunden und gewußt, daß wer nicht über der Kunst sich selbst vergißt, zum Künstler nicht gebohren sey, wie manche vergebene Anstrengung, wie manchen verlohrnen Kummer hätte ihm dieß erspart!
Allein sein Schicksal war nun einmal von Kindheit an, die Leiden der Einbildungskraft zu dulden, zwischen welcher und seinem würklichen Zustande ein immerwährender Mißlaut herrschte, und die sich für jeden schönen Traum nachher mit bittern Quaalen rächte.
Nach seiner langen Wanderschaft brachte nun Reiser wieder die erste Nacht in Gotha in sanftem Schlummer zu, und als er am andern Morgen früh erwachte, so war es als ob aus Lisuart und Dariolette ihm der Schluß aus einer Arie, welche die verwünschte Alte singt, entgegen tönte:
Vielleicht ist dieß der Morgen,
Der aller meiner Sorgen
Erwünschtes Ende bringt.
Während daß diese Zeilen ihm immer in Gedanken schwebten, zog er sich an, und erkundigte sich bei seinem jungen Wirth, wo Eckhof wohnte, dem er nun diesen Vormittag seinen Besuch machen wollte.
Zu dem Ende hielt er nun seinen gedruckten Prolog in Bereitschaft, den er in Hannover verfertigt und Ifland gesprochen hatte, und durch welchen er hier vorzüglich Eingang zu finden hoffte.
Der junge Gastwirth Liebetraut nöthigte ihn noch vorher mit ihm zu frühstücken, und schien an seinem Umgange ein besonderes Vergnügen zu finden, indem er zugleich anfing, ihn zum Vertrauten seiner Herzensgeschichte zu machen, welche darin bestand, daß er den Gasthof gepachtet habe, um ein junges Frauenzimmer, das er liebte, je eher je lieber heirathen zu können.
Reiser gieng nun zu Eckhof, und auf dem Wege dahin drängten sich alle seine Entwürfe, die er vom Anfang seiner Wanderung an gemacht, noch einmal wieder in seine Seele zusammen, da er sich so nahe am Ziel seiner Reise sahe; die Melodie und der Vers aus Lisuart und Dariolette tönten noch immer in seine Ohren, und dießmal wenigstens täuschte ihn seine Hofnung nicht. – Eckhof empfing ihn über Erwartung gut, und unterhielt sich beinahe eine Stunde mit ihm.
Reisers jugendlicher Enthusiasmus für die Schauspielkunst schien dem Greise nicht zu mißfallen – er ließ sich mit ihm über Gegenstände der Kunst ein, und mißbilligte es gar nicht, daß er sich dem Theater widmen wollte, wobei er hinzufügte, daß es freilich gerade an solchen Menschen fehlte, die aus eigenem Triebe zur Kunst, und nicht durch äußere Umstände bewogen würden, sich der Schaubühne zu widmen.
Was konnte wohl aufmunternder für Reisern seyn, als diese Bemerkung – er dachte sich schon im Geist als einen Schüler dieses vortrefflichen Meisters.
Nun zog er auch seinen gedruckten Prolog hervor, der Eckhoffs vollkommnen Beifall erhielt, und den sich derselbe sogar von ihm ausbat, und bemerkte, wie nahe das Talent zum Schauspieler und zum Dichter miteinander verwandt sey, und wie eins gewissermaßen das andere voraussetze.
Reiser fühlte sich in diesem Augenblick so glücklich, als sich ein junger Mensch nur fühlen konnte, der vierzig Meilen weit bei trockenem Brodte zu Fuße gereißt war, um Eckhof zu sehen und zu sprechen, und unter seiner Anführung Schauspieler zu werden.
Was nun sein Engagement anbeträfe, sagte Eckhof, so müsse er sich deswegen vorzüglich bei dem Bibliothekarius Reichardt melden, mit welchem er selbst auch Reisers wegen sprechen wolle.
Reiser versäumte keinen Augenblick dieser Anweisung zu folgen, und gieng von Eckhof, der in einem Beckerhause wohnte, nach dem Hause des Bibliothekarius Reichardt, der ihn zwar auch höflich empfing, aber sich doch nicht so viel wie Eckhof mit ihm einließ. Indes machte er ihm zu einer Debütrolle Hofnung, welches Reisers höchster Wunsch war, denn wenn er nur dazu käme, zweifelte er nicht, seinen Endzweck zu erreichen.
Mit Heiterkeit im Gesichte kehrte er nun zu Hause, weil er diesen Anfang seiner Unternehmung für höchst glücklich hielt, und unter diesen günstigen Umständen sich so viel zutraute, daß nun sein Wunsch ihm nicht mehr fehlschlagen könne.
Und ob er sich gleich seinem Wirth nicht ganz entdeckte, so schien dieser doch gar nicht mehr daran zu zweifeln, daß er nun in Gotha bleiben, und seine theatralische Laufbahn hier antreten würde.
Voller Zutrauen zu sich selbst und seinem Schicksale, brachte nun Reiser in der Gesellschaft des alten Hauptmanns, des Hoflaquaien und seines Wirths den Mittag höchst angenehm zu; und voll von schimmernden Aussichten, worin ihn alles bestärkte, überschritt er durch dieß Mittagsessen zum erstenmal im Taumel der Freude, den Bestand seiner Kasse, und dünkte sich nun dadurch um desto fester an diesen Ort und an die hartnäckige Verfolgung seines Plans gebunden.
Er machte nun fast täglich bei Eckhof seinen Besuch, und dieser rieth ihm, fürs erste die Proben im Schauspielhause fleißig zu besuchen, welches Reiser that, und den alten Eckhof hier ganz in seinem Elemente sahe, wie er auf jede Kleinigkeit aufmerksam war, und auch den ersten Schauspielern noch manche Erinnerung gab. Auch wurde Reisern erlaubt, die Komödie unentgeldlich zu besuchen, wo das erstemal ein gewisser Bindrim mit dem Vater in der Zaire debütirte.
Weil nun dieser keinen besondern Beifall fand, und Reiser in sich fühlte, wie bei den meisten Stellen der Ausdruck hätte ganz anders seyn müssen, so spornte ihn dieß noch mehr an, nun selber so bald wie möglich in einer Debütrolle den Schauplatz zu betreten, und er lag Eckhof dringend an, daß in einem der nächstaufzuführenden Stücke ihm eine Rolle möchte zugetheilt werden.
Und da das nächstemal die Poeten nach der Mode aufgeführt wurden, so that Reiser den Vorschlag die Rolle des Dunkel zu übernehmen, welches ihm Eckhof aber aus dem Grunde widerrieth, weil er selbst diese Rolle spiele, und es für einen angehenden Schauspieler nicht rathsam sey, sich gerade in einer Rolle zuerst zu zeigen, die man schon von einem alten geübten Schauspieler zu sehen gewohnt wäre.
So verschob sich nun sein Debüt von einem Spieltage bis zum andern, während daß seine Hofnung dazu immer genährt wurde, und auf dieser Entscheidung nun sein ganzes Schicksal beruhte.
Bei Eckhof hohlte sich nun Reiser immer Trost und neue Hofnung, so oft er anfing verzagt zu werden; denn daß dieser sich gerne mit ihm unterhielt, flößte ihm wieder Selbstzutrauen und neuen Muth ein.
Demohngeachtet waren aber auch ein paar Äusserungen von Eckhof äusserst niederschlagend für ihn; denn als einmal von seinem Engagement die Rede war, und Reiser sich auf einen jungen Menschen berief, der in den Poeten nach der Mode die Rolle des Reimreich gespielt hatte, so sagte Eckhof, man habe diesen vorzüglich seiner Jugend wegen angenommen, und schien dadurch zu verstehen zu geben, daß dieser Beweggrund bei Reisern nicht mehr statt finde; der damals doch auch erst neunzehn Jahr alt war, aber wie es schien, von jedermann für weit älter gehalten wurde; so daß bei dem Verlust aller Freuden der Jugend, auch nicht einmal der Anschein der Jugend ihm geblieben war.
Und ein andermal, als von Göthen gesprochen wurde, sagte Eckhoff, er sey ohngefähr von Reisers Statur, aber gut physionomirt, welches aber allein schon den Schauspieler in Reisern ganz vernichtet haben würde, wenn nicht Eckhof gleich darauf zufälliger Weise ihm wieder etwas Aufmunterndes gesagt hätte, indem er ihn fragte, ob er außer dem Prolog sonst nichts gedichtet habe? welches Reiser bejahte, und sobald er zu Hause kam, seine Verse, die er auswendig wußte, niederschrieb, um sie Eckhof zu überbringen.
Er brachte wohl ein paar Tage mit dieser Arbeit zu, und sein Wirth gerieth auf den Gedanken, daß Reiser ein dramatisches Werk für die Schaubühne verfertigte. – Dieß ließ er sich auf keine Weise ausreden, und wünschte Reisern schon im voraus Glück zu der glänzenden Laufbahn, die er nun betreten würde.
Als Eckhof die Gedichte gelesen hatte, bezeigte er Reisern seinen Beifall darüber, und sagte, er wolle sie auch dem Bibliothekarius Reichardt zu lesen geben. Dieß war für Reisern eine Aufmunterung ohne Gleichen, weil er sich immer noch an Eckhoffs ersten Ausspruch erinnerte, wie nahe der Schauspieler und der Dichter aneinander grenzten.
Er zweifelte nun nicht, daß diese Gedichte ihm seinen Weg zum Theater noch mehr bahnen, und ihn bald seinem Ziele näher bringen würden. Dazu kam noch, daß der Schauspieler Großmann, welcher sich damals in Gotha aufhielt, und Reisern einmal auf der Straße begegnete, ihm neuen Muth zusprach, indem er den Grund anführte, daß man ihn gewiß nicht würde so lange aufgehalten haben, wenn man nicht gesonnen sey, ihn, vielleicht ohne Debüt, für das Theater zu engagiren; denn es war nun schon in die dritte Woche, daß Reiser sich hier aufhielt.
Diese tröstenden Worte und die freundliche Anrede von Großmann waren damals ein wahrer Balsam für Reisern, der bei dem Schlosse, wo gebauet wurde, einsam auf und nieder ging, und gerade mit finsterm Unmuth über sein noch ungewisses Schicksal nachdachte.
Reiser ging nun mit guter Hofnung zu Hause, und brachte den Tag bei seinem Wirth noch sehr vergnügt zu.
Am andern Morgen ging er in die Probe, und man führte den Tag gerade die Operette, der Deserteur, auf, worin ein fremder Schauspieler, Nahmens Neuhaus, den Deserteur, und dessen Frau die Lilla spielte.
Eckhof bewieß sich bei der Probe besonders geschäftig, und Reiser stand hinter den Kulissen, und sahe mit Vergnügen zu, wie durch Anstrengung und Aufmerksamkeit eines jeden Einzelnen das schöne Werk entstand, das am Abend die Zuschauer vergnügen sollte.
Er dachte sich lebhaft die Nähe in der er sich nun bei diesen reizenden Beschäftigungen fand, und daß auf eben diesem Schauplatze mit seinem Spiele sich auch zugleich sein Schicksal entscheiden, und seine Existenz auf diesem Fleck sich entwickeln würde. –
Denn auf diesen engumschränkten Schauplatz waren nun nach der weiten Reise alle seine Wünsche beschränkt; hier sah' er sich, hier fand er sich wieder – Hier schloß die Zukunft ihren ganzen reichen Schatz von goldnen Phantasien für ihn auf, und ließ ihn in eine schöne und immer schönere Ferne blicken – –
So hatte er schon oft zwischen den Kulissen in Gedanken vertieft gestanden, und stand auch diesmal wieder so, als er auf einmal den Bibliothekarius Reichhardt auf sich zukommen sah, von dem er schon seit einigen Tagen eine entscheidende Antwort erwartet hatte.
Die Miene desselben verkündigte schon nichts Gutes, und er redete Reisern mit den trocknen Worten an, es thäte ihm leid, ihm sagen zu müssen, daß aus seinem Engagement beim Theater nichts werden, und daß er auch zur Debütrolle nicht kommen könne – Mit diesen Worten gab er Reisern die geschriebenen Gedichte zurück, indem er gleichsam zum Trost hinzufügte, es herrsche eine leichte Versifikation darin, und er solle dieß Talent ja nicht vernachlässigen.
Reiser der an Leib und Seele gelähmt war, konnte kein Wort hierauf antworten, sondern ging hin, wo das Theater mit seinem letzten Vorhange ganz am Ende an die kahle Mauer grenzt, und stützte sich verzweiflungsvoll mit dem Kopfe an die Wand. Denn er war nun wirklich unglücklich, und doppelt unglücklich –
Der eingebildete und der würkliche Mangel traten in fürchterlicher Eintracht zusammen, um sein Gemüth mit Schrecken und Grauen vor der Zukunft zu erfüllen.
Er sahe nun keinen Ausweg aus diesem Labyrinthe, in welches seine eigene Thorheit ihn geleitet hatte – hier war nun die kahle öde Mauer, das täuschende Schauspiel war zu Ende.
Er eilte vors Thor hinaus, und ging in der Allee, wo er sich schon oft mit den angenehmsten Vorstellungen beschäftiget hatte, verzweiflungsvoll auf und nieder; die Menschen gingen kalt vor ihm vorbei; niemand wußte, daß er in diesem Augenblick die einzige Hoffnung seines Lebens verlohren hatte, und einer der verlassensten Menschen war.
Und sonderbar war es, daß gerade in diesem allerverlassensten Zustande, sich ein unbekanntes Gefühl von Liebebedürfniß in ihm regte, da seine Verzweiflung in Mitleid mit seinem eigenen Zustande sich verwandelte, und ihm nun ein Wesen fehlte, das dieses Mitleid mit ihm haben könnte.
Er getrauete sich den Mittag nicht, zu Hause zu gehen, sondern aß nicht, und kehrte erst den Nachmittag wieder zurück – und am Abend ging er in die Komödie, wo nun die Operette, der Deserteur aufgeführt wurde, die ihm den Tod seiner Hoffnungen bezeichnete.
Nie aber in seinem Leben ist seine Theilnahme an einem fremden Schicksale stärker gewesen, als sie es gerade diesen Abend an dem Schicksale der Liebenden war, welche durch den drohenden Todesstreich getrennt werden sollten. Es traf bei ihm zu, was Homer von den Mädgen sagt, die um den erschlagenen Patroklus weinten, sie beweinten zugleich ihr eigenes Schicksal.
Selbst die Musik rührte ihn bis zu Thränen, und jeder Ausdruck erschütterte sein Innerstes. Am stärksten aber fühlte er sich durch die Scene bewegt, wo der Deserteur, der schon sein Todesurtheil weiß, im Gefängniß an seine Geliebte schreiben will, und sein betrunkener Kamerad ihm keine Ruhe läßt, weil er ihn ein Wort soll Buchstabiren lehren.
Reiser fühlte es hier tief, wie wenig ein Mensch den andern Menschen ist, wie wenig den andern an seinem Schicksal liegt; und sein Freund mit der Hutkokarde stand wieder vor seiner Seele da. Weswegen putzte aber jener seine Hutkokarde, als um seinem Mädgen, der Einzigen zu gefallen, die damals seine Göttin war, in der er sich wiederfinden, und wieder von ihr geliebt seyn wollte.
Das Schauspiel endigte sich froh, die Unglücklichen wurden getröstet, das Weinen verwandelte sich in Lachen, das Trauren in Frölichkeit – aber betrübt und mit schwerem Herzen ging Reiser in seine Wohnung – vor ihm war alles dunkel, und er sahe nun keinen Strahl von Hoffnung mehr.
Als er zu Hause kam, legte er sich sogleich zu Bette – seine Sinne waren stumpf – seine Gedanken wußten keinen Ausweg mehr zu finden – und der Schlaf war das einzige, was ihm übrig blieb – Es war ihm, als ob er aus diesem Schlafe nicht wieder erwachen würde – denn alle Lebensaussichten waren ihm abgeschnitten, und er hatte keine Hoffnung mehr, wozu er erwachen sollte.
Der Gedanke von Auflösung, von gänzlichem Vergessen seiner selbst, von Aufhören aller Erinnerung und alles Bewußtseyns war ihm so süß, daß er diese Nacht die Wohlthat des Schlafes im reichsten Maaße genoß – denn kein leiser Wunsch hemmte mehr die gänzliche Abspannung aller seiner Seelenkräfte; kein Traum von täuschender Hoffnung schwebte ihm mehr vor – alles war nun vorbei, und endigte sich in die ewigstille Nacht des Grabes.
So wohlthätig reicht die Natur den Hoffnungslosen auch schon die Schale dar, aus der er Vergessenheit seiner Leiden trinken, und alle Erinnerungen an irgend etwas, das er wünschte, oder wornach er strebte, aus der Seele verwischt werden sollen.
Als Reiser am andern Morgen spät aus seinem tiefem Schlafe erwachte, fühlte er sich wunderbar an Leib und Seele gestärkt – er fühlte Kraft in sich, alles zu unternehmen, um auch selbst unter diesen Umständen noch zum Ziel seiner Wünsche zu gelangen.
Es stieg ein Gedanke in ihm auf, sich hier um Unterrichtsstunden zu bewerben; sich durch seinen eigenen Fleiß zu nähren, und auf dem Theater umsonst zu dienen. – Dieser Entschluß wurde immer lebhafter bei ihm, und er traute seinen Kräften alles zu, sobald er nur wieder einen Schimmer von Hoffnung vor sich sahe, sein Ziel zu erreichen.
Während dieser Gedanken zog er sich an, und ging zu Eckhof, dem er seinen Entschluß entdeckte, und dessen Rath er sich ausbat, indem er versicherte, daß er für sich selbst leben könne, ohne doch von der Art, wie er zu leben dächte, sich etwas merken zu lassen.
Eckhof lobte und billigte seine Standhaftigkeit, und sagte ihm, er zweifle nicht, daß dieß Anerbieten werde angenommen werden. Der Bibliothekarius Reichardt, welchem Reiser eben diesen Entschluß bekannt machte, versprach, ihm den andern Tag Bescheid darauf zu geben.
Und nun kehrte Reiser voll neuer Hoffnung wieder zu Hause – sein ganzes Beginnen kam ihm nun selber noch ehrenvoller vor, weil er mit der Kunst zugleich den Fleiß in nützlichen Geschäften und nährendem Erwerb verband – und alle seine übrigen Stunden der Kunst zum Opfer brachte.
Er aß nun diesen Mittag wieder voll Zutrauen bei seinem Wirth – und fühlte in sich einen unwiderstehlichen Muth, der Kunst zu Liebe, das Härteste im Leben zu ertragen, sich auf die nothwendigsten Bedürfnisse einzuschränken, und Tag und Nacht nicht zu ruhen, um sich in der Kunst zu üben, und zugleich seine Unterrichtsstunden gehörig abzuwarten.
Mit diesen Entschlüssen, die ihm einen recht heroischen Muth einflößten, kam er am andern Morgen wieder zu Reichardt, und hörte nun sein Endurtheil, daß man sich auch auf sein Anerbieten, umsonst auf dem Theater zu dienen, nicht einlassen könne, und jezt schlechterdings kein neues Engagement bei diesem Theater mehr statt finden solle. – Wenn Reiser einige Wochen eher gekommen wäre, so hätte sich etwas für ihn thun lassen, nun aber sey alles vergeblich. –
Diese ganz unerwartete zweite abschlägliche Antwort versetzte Reisern in eine Art von innerer Erbitterung – er fing in diesem Augenblicke an, sich selbst zu hassen, und zu verachten, und fragte: ob er denn nicht etwa Soufleur, oder Rollenschreiber, oder Lichtputzer beim Theater werden könne? – Reichardt antwortete: es thäte ihm Leid, da Reiser so viel Feuer fürs Theater verriethe, daß sein Unternehmen ihm hier mißlungen wäre, indes würde es ihm vielleicht anderwärts gelingen.
Reiser ging nun in tiefen Gedanken von Reichardt weg, und ging bei dem Bau am Schlosse auf und nieder, wo einige in Schiebkarren Steine zuführten, andere sie ordneten. – Er stand wohl an eine Stunde da, und sahe immer dieser Arbeit zu – dabei entstand eine sonderbare Begierde in ihm, sein gutes Kleid auszuziehen, und mit den übrigen Tagelöhnern auch Steine zu diesem Bau auf den Schiebkarren herbei zu führen.
Es war schon gegen Mittag, und die Sonne schien immer heißer. – Die Hände der Arbeiter wurden laß – sie ruheten sich aus, und verzehrten auf der Erde ihr Mittagsmahl. – Reiser gab sich mit dem einen ins Wort, und fragte ihn, wie viel sein Tagelohn betrüge. Es war eine Anzahl Groschen, die Reiser nicht mehr in seinem Vermögen hatte; und das Geld konnte in einem Tage verdient werden.
Der Entschluß, um diesen Tagelohn zu arbeiten, war in dem Augenblicke bei Reisern schon so gewiß, daß er innerlich lachen mußte, daß der Arbeiter, während er mit ihm sprach, die Mütze vor ihm abnahm, und nicht wußte, daß sie vielleicht Morgen Kameraden seyn würden.
Das einzige, was seine Erbitterung, und Selbsthaß und Selbstverachtung mildern konnte, war dieser Entschluß, worinn er sich selbst wieder ehrte. Denn nun wollte er seinen wahren Zustand seinem Wirth entdecken, seinen Degen, sein Kleid ihm für die Bezahlung lassen, und dann beim Schloßbau Steine zuführen.
Während nun dies in seinen Gedanken vorging, glaubte er selbst, es sey sein wahrer Ernst, und wußte nicht, daß seine Einbildungskraft ihn wieder täuschte, und daß er schon wieder in Gedanken eine Rolle spielte.
Denn als Handlanger beim Schloßbau war er nun das Niedrigste, was er nur seyn konnte; diese selbst gewählte freiwillige Niedrigkeit hatte einen außerordentlichen Reiz für ihn – er lebte nun wie die übrigen von seinem Stande, ging des Sonntags fleißig in die Kirche, und war ein stiller religiöser Mensch – in einsamen Stunden ergötzte er sich denn mit Shakespear und Homer, und hatte dasjenige reelle Leben in sich, was er nicht außer sich haben konnte.
Besonders rührend war ihm bei dergleichen Vorstellungen immer der Gedanke, daß er am Sonntage fleißig in die Kirche gehen, und dem Prediger recht aufmerksam zuhören würde. – Denn hierdurch vernichtete er gleichsam sich selbst, weil er alles, was auch der schlechteste Prediger ihm sagen würde, doch für sich noch sehr lehrreich hielt, und nicht klüger als der einfältigste Mensch seyn wollte.
Er dachte sich nun wieder in dem Zustande, worin er als Hutmacherbursch gewesen war, wo er den Prediger, der ihm gefiel, wie ein Wesen höherer Art, und selbst die Chorschüler auf der Straße mit Ehrfurcht betrachtete. Vom Theater durfte er in diesem Zustande kaum einen Begriff haben – und doch war es ihm wieder, als ob eben dieser Zustand auf eine wunderbare Weise ihn seinem ersten Wunsche vielleicht wieder näher bringen könnte.
Ehe er sich nun aber um die Stelle eines Tagelöhners bei dem Bau am Schlosse wirklich bewarb, konnte er doch nicht unterlassen, noch einmal zu Eckhof zu gehen, um ihm Lebewohl zu sagen, und ihm zugleich zu erzählen, daß auch seine letzte Hoffnung gescheitert sey.
Er konnte diese Erzählung nicht ohne Beklemmung und Rührung vorbringen, weil er sich seinen ganzen nunmehrigen Zustand, und also weit mehr dabei dachte, als er sagte. –
Der gute Eckhof redete ihm zu: er solle den Muth nicht sinken lassen; drei Meilen von hier in Eisenach sey jetzt die Barzantische Truppe; es würde ihm nicht fehlen, bei dieser Truppe angenommen zu werden; er solle sich bei derselben nur erst eine Weile zu üben suchen, und dann wieder nach Gotha kommen, wo vielleicht günstigere Umstände sich für ihn ereignen, und seine Aufnahme desto leichter seyn würde, wenn er schon eine Zeitlang bei einer Truppe gestanden hätte, – er könne dieß ja leicht versuchen, und den Weg von Gotha bis Eisenach auf der Chaussee wie einen Spatziergang machen.
Mit dieser Anrede von Eckhof war auf einmal das ganze Projekt mit dem Steine zuführen, und dem Arbeiten ums Tagelohn aus Reisers Gedanken verschwunden. – Denn das Ziel, wohin er doch am Ende wollte, sahe er auf einmal wieder nahe vor sich, und alle Bedenklichkeiten hörten auf, da er sich den Weg von Gotha nach Eisenach wie einen Spatziergang dachte, wodurch er gar keine Untreue an seinem Wirth begieng, dem er von Eisenach als Schauspieler, doch eher und leichter, wie von seiner Tagelöhnerarbeit bezahlen konnte.
Er gieng also, da es hoch Mittag war, aus Eckhofs Hause, so wie er war, und ohne sich umzusehen, gerade auf Eisenach zu. Und dieser Weg wurde ihm nun auch würklich so leicht, wie ein Spatziergang. Denn alle die erstorbenen Hoffnungen waren nun auf einmal in seiner Seele wieder erneuert, und machten einen lebhaften und angenehmen Kontrast gegen die melancholischen Ideen, womit er sich an diesem Vormittage noch zum Tagelöhner hatte verdingen wollen.
Er dachte sich immer nahe bei Gotha, und wie er am andern Tage zurückkehren, und seinem Wirth eine angenehme Nachricht bringen würde. Dies machte, daß die Schönheiten der Natur ihn wieder ergötzten; er wandelte mit innigem Vergnügen durch die romantischen Thäler zwischen den Bergen hin, und als er die Thürme der alten Wartenburg, von der er schon in seiner Kindheit gehört hatte, zuerst erblickte, so umfaßte sein Gemüth die Gegenstände umher mit einer Wärme und Anschließung, die ihm alles doppelt schön machte; es war ihm, als ob er in einem süßen Traume schwebte, worin, was er ehmals gedacht hatte, eins nach dem andern sich ihm nun würklich darstellte.
Es war ihm, als ob er allenthalben seyn könnte, wo er wollte, da er sich so auf einmal in wenigen Stunden von Gotha nach Eisenach versetzt sahe, woran er den Morgen desselbigen Tages noch gar nicht gedacht hatte.
Seinen Überrock und andre Sachen, die er sonst bei sich trug, hatte er zu Hause gelassen, und wanderte, in seinem besten Anzuge, mit dem Degen an der Seite, so wie er bei Reichardt und Eckhof seinen Besuch gemacht hatte, in Eisenach ein. Zufälliger Weise steckten seine geschriebenen Gedichte, und der lateinische Anschlagbogen, worauf sein Nahme stand, noch in seiner Rocktasche, der Homer aber, und ein Theil der Wäsche, die er bei sich trug, war samt dem Überrocke zurückgeblieben.
Als er in die Stadt kam, schien ihm alles ein frohes und heiteres Ansehn zu haben; die Menschen schienen gleichsam zur Freude gestimmt zu seyn, so daß er mit lauter frohen Ahndungen in den Gasthof trat, wo er die Nacht bleiben wollte, und sich, nachdem er sich kaum niedergesetzt hatte, erkundigte, ob diesen Abend nicht etwa Komödie gespielt würde?
Welch ein Donnerschlag war es für ihn, als man ihm antwortete: Die Barzantische Schauspielergesellschaft sey gerade diesen Morgen nach Mühlhausen abgereist! – Also war es nun, als ob ein feindseeliges Schicksal ihm immer auf dem Fuße nachfolgte, und ordentlich wie mit Absicht alle seine Hoffnungen vereitelte.
Dazu kam nun wieder, daß er nicht nur in der Einbildung, sondern wirklich und doppelt unglücklich war, weil die einzige Hoffnung, seinen Unterhalt zu finden, und zugleich seine Schuld in Gotha zu tilgen, auf seiner Annahme bei der Barzantischen Truppe in Eisenach beruhte, und diese nun gerade an demselben Tage ihren Weg eben dahin genommen hatte, wo er hergekommen war.
Sein Zustand brachte ihn der Verzweiflung nahe, und machte, daß er zum erstenmal sich über sein Schicksal wegsetzte, und in eine Art von Vergessenheit seiner selbst gerieth, welche ihn dem Anscheine nach froh und aufgeräumt machte – Dabei war es ihm, als ob er durch diesen gar zu unerwarteten und hämischen Streich des Schicksals von allen Verbindungen loßgesprochen wäre, und sich nun selbst wie ein vernachlässigtes und verworfenes Wesen ansehen dürfe, das in gar keinen Betracht mehr kömmt.
Er hatte den ganzen Tag nichts genossen, und ließ sich den Abend Bier und Brodt, und auf die Nacht ein Bette geben, wo er des sanftesten Schlafes genoß, weil er auf keine Zukunft mehr rechnete, und von keinem einzigen Gedanken an die Zukunft oder an sein eigenes Schicksal mehr gestört wurde, denn nun war er mit seinen Aussichten ganz am Ende.
Am andern Morgen aber fühlte er, daß dieser wohlthätige Schlaf aufs neue seine schlummernden Kräfte erweckt hatte – er fühlte wieder statt der Lähmung einen gewissen Trotz und Erbitterung gegen das Schicksal, wodurch er Muth bekam, noch einmal alles zu dulden, und alles zu wagen, um seinen Endzweck dennoch zu erreichen: er entschloß sich, der Barzantischen Schauspielergesellschaft nachzureisen, und von Eisenach bis Mühlhausen denselben Weg, den er gekommen war, wieder zurückzugehn.
Nachdem er nun in dem Gasthofe seine Zeche bezahlt hatte, so blieben ihm von seinem ganzen Vermögen noch fünf oder sechs Dreier übrig, womit er auf die Wartenburg stieg, und von da die weite und schöne Gegend vor sich übersahe.
Der Unteroffizier auf der Wartenburg redete Reisern sehr höflich an, und fragte ihn, ob er nicht die Merkwürdigkeiten besehen wollte? worauf Reiser erwiederte: er würde den Nachmittag mit einer Gesellschaft wieder kommen, jetzt wolle er sich nur in der Gegend ein wenig umsehen.
Er fühlte sich, indem er um sich her blickte, auf diesem Standpunkte, über sein Schicksal erhaben; denn aller Widerwärtigkeiten ohngeachtet war er doch bis auf diesen Fleck gekommen, und diesen schönen Moment einer reizenden Aussicht in die umgebende Natur konnte ihm doch niemand rauben. Er sammlete sich gleichsam Stärke zu der Mühe und sorgenvollen Wanderschaft, die er nun aufs neue wieder antreten wollte.
Sein Plan, den er sich hiezu entworfen hatte, bestand in nichts Geringerm, als die wenigen Dreier, die ihm noch übrig waren, bloß zu Schlafgeld anzuwenden, und bei Tage sich von den Wurzeln auf dem Felde zu nähren, denn er hatte es auf dem Herwege von Gotha schon einmal versucht, ein paar Wurzeln auf dem Felde auszuziehen, die ihm, da er den ganzen Tag nichts genossen hatte, eine sehr angenehme Erquickung gewährten.
Hieran hatte er sich hier gleich den Morgen beim Erwachen erinnert, und dieß war es vorzüglich, was ihm den Trotz gegen das Schicksal einflößte, von dem er sich nun beinahe ganz unabhängig dachte.
Er fing noch an diesem Tage an, seinen Entschluß mit eben dem Selbstgefühl durchzusetzen, womit er auf seiner ersten Wanderung sich auf den bloßen Genuß von Bier und Brodt beschränkte, und fühlte sich nun doppelt so unabhängig wie damals; denn während, daß der Unterofficier auf der Wartenburg ihn mit der Gesellschaft zurückerwarten mochte, um ihm die Merkwürdigkeiten des Schlosses zu zeigen, verzehrte Reiser schon auf dem Felde sein Mahl von rohen Wurzeln, die er sich mit einem alten Einlegemesser, das er noch von seinem Freunde Philipp Reisern besaß, in Scheiben schnitt, und sie mit dem größten Wohlgeschmack verzehrte.
Nun war er aber, weil er sich zu lange auf der Wartenburg aufgehalten hatte, kaum erst eine Meile von Eisenach, und ihn überfiel, da er seine Wurzeln verzehrt hatte, eine unwiderstehliche Trägheit, so daß er mitten auf dem Felde einschlief, und erst am Abend bei Sonnenuntergang wieder erwachte.
Da er nun nach dem nächsten Dorfe zugehen wollte, so kam er vom rechten Wege ab, und erreichte erst spät einen Gasthof, wo er nichts verzehrte, sondern am andern Morgen bloß die Streu bezahlte.
Von diesem Dorfe aus verirrte er sich am andern Tage wieder zwischen den Feldern, wo er Wurzeln suchte, die gestrige Trägheit überfiel ihn wieder, die Hitze war drückend, und wo er den Schatten eines Baumes fand, da legte er sich nieder, und sogleich überfiel ihn der Schlaf; so daß er auf dem Wege von Eisenach bis Gotha, den er auf der Hinreise in wenigen Stunden zurückgelegt hatte, beinahe vier Tage zubrachte.
So labyrinthisch wie sein Schicksal war, wurden auch nun seine Wanderungen, er wußte sich aus beiden nicht mehr herauszufinden; vor Gotha schien sich seine Straße zurückzubiegen, und er mußte doch wieder durch, wenn er seinen Weg nach Mühlhausen fortsetzen wollte; und weil er nun die gerade Straße scheute, so war es ihm gewissermaßen lieb, wenn er sich verirrte.
Sein lateinischer Anschlagbogen half ihm auf diesem Wege zweimal durch; einmal, da man ihn für eine verdächtige Person hielt, weil er keinen Paß vorzeigen könnte; und ein andermal, da man einen Paß von ihm verlangte, daß er nicht aus einer Gegend käme, wo damals die Viehseuche herrschte; er zeigte seinen lateinischen Anschlagbogen vor, und fügte hinzu, daß er ein Student sey, und deswegen einen lateinischen Paß bei sich führe. – Der Dorfrichter oder Schulze des Orts, welcher sich gegen seine Frau, und die andern Bauren, das Ansehen geben wollte, als ob er Latein verstände, laß mit einer wichtigen Miene den Anschlagbogen durch, und sagte, es sey recht gut!
Während nun Reiser diese Tage in einer Art von Betäubung, gleichsam wie in der Irre umhergieng, herrschte bloß die Imagination in ihm; denn da er nun auf dem Felde lebte, so schien er sich an gar nichts mehr gebunden, und ließ seiner Einbildungskraft den Zügel schießen.
Nun war ihm aber sein Schicksal nicht romanhaft genug. Daß er hatte Schauspieler werden wollen, und sein Wunsch ihm mißlungen war, das war eine abgeschmackte Rolle, die er spielte – er mußte irgend ein Verbrechen begangen haben, das ihn in der Irre umhertrieb; ein solches Verbrechen dachte er sich nun aus : er stellte sich vor, daß er mit dem jungen Edelmann, den er in H... unterrichtete, die Universität in Göttingen bezogen, und von diesem im Trunk zum Zweikampf genöthigt worden wäre, wo er sich bloß vertheidigt, und jener wüthend in seinen Degen gerannt sey, worauf er die Flucht genommen habe, ohne zu wissen, ob jener todt oder lebend sey.
Diese von ihm selbst gemachte Erdichtung drängte sich ihm bei seinem Herumirren im Felde, fast wie eine Wahrheit auf, er träumte davon, wenn er einschlief; er sah seinen Gegner im Blute liegen, er deklamirte laut, wenn er erwachte, und spielte auf die Weise mit seiner Phantasie mitten auf dem Felde zwischen Gotha und Eisenach die Rollen durch, welche man ihm auf dem Theater verweigert hatte.
Und dieß allein war es, was ihn von der Verzweiflung rettete, denn hätte er sich seinen Zustand völlig so leer und abgeschmackt gedacht, wie er wirklich war, so würde er sich selbst ganz weggeworfen haben, und in Schmach versunken seyn.
Nun aber wurde ihm das Bitterste erträglich: am zweiten Tage, auf seiner Rückkehr von Eisenach nach Gotha, war es gerade Sonntag, und eine drückende Hitze. Reiser kam vom Felde durch ein Dorf und suchte Schatten, den er nicht anders finden konnte, als auf einem grünen mit Bäumen bepflanzten Platze gerade der Kirche gegenüber. Er ließ sich in einem Bauerhause erst ein Glas Wasser geben; dann legte er sich unter den Bäumen nieder, während daß in der Kirche gegenüber gesungen wurde; unter dem Singen schlief er ein, und wachte nicht eher wieder auf, als bis der Prediger aus der Kirche kam, mit dem sein Sohn gieng, der auch erst von der Universität zurückgekommen war. Beide gingen auf Reisern zu, und fragten ihn, woher er käme, und wohin er ginge? er gab verwirrte Antworten, und gestand endlich, daß er wegen eines Duells, das er in Göttingen gehabt habe, flüchtig sey. Es war ihm selber, als ob ihm dieß Geständniß äußerst schwer würde, und der Gedanke an die Unwahrheit der Sache fiel ihm fast gar nicht mehr bei: denn da er einmal bloß in der Ideenwelt lebte, so war ihm ja alles das wirklich, was sich einmal fest in seine Einbildungskraft eingeprägt hatte, ganz aus allen Verhältnissen mit der wirklichen Welt hinausgedrängt, drohte die Scheidewand zwischen Traum und Wahrheit bei ihm den Einsturz.
Der Prediger nöthigte ihn in sein Haus, und wollte ihn bewirthen. – Reiser aber, gleichsam wie von Angst getrieben, entfernte sich sobald wie möglich wieder. – Denn er mußte in seinem imaginirten Zustande die Gesellschaft der Menschen fliehen. –
Nahe vor Gotha nöthigte ihn wiederum ein Prediger in sein Haus, der sich wohl einen halben Tag lang mit ihm unterhielt, und ihm erzählte, daß vor ein paar Jahren auch so zu Fuße, und wohlgekleidet, ein reisender Gelehrter hier durchgekommen, der sich lange mit ihm unterhalten, er habe sich den Tag im Kalender bemerkt, und zweifele fast nicht, daß es der Doktor Barth gewesen sey.
Nun erzählte dieser Prediger Reisern seine Geschichte, wie er sich erst lange als Hofmeister herumgetrieben, und hier nun endlich in dieser alten Pfarre eine Ruhestätte gefunden habe, wo er dem, was in der Welt vorginge, nur so ganz von ferne zusähe.
Reiser erzählte nun dem Prediger auch seine eigene imaginirte unglückliche Geschichte, wobei ihm der Prediger in einem Caffeeschälchen einige Erfrischungen von eingemachtem Obst vorsetzte; und ihm dabei Muth zusprach, daß er sein Verbrechen vielleicht noch wieder gut machen könne; dabei sah er auf die weisse Scheide von dem Degen, welchen Reiser trug, und fragte ihn, ob eine solche Degenscheide denn wirklich das Zeichen der Freimäurer, und ob Reiser nicht in diesem Orden sey? – Jemehr dieser es verneinte, desto fester glaubte der Prediger, demohngeachtet einen Freimaurer vor sich zu sehen, der sich ihm nur in diesem Punkt nicht entdecken wollte.
Dieser Prediger betrachtete Reisern manchmal vom Kopf bis zu Fuß, und schien sich überhaupt sonderbare Vorstellungen von ihm zu machen. – Er hielt ihn für einen Menschen, der viel mehr verschwieg, als er sagte, und mit dem er nicht recht wußte, wie er dran war. – Demohngeachtet konnte er nicht unterlassen, immer noch Fragen an ihn zu thun, bis Reiser endlich, da die Sonne sich schon zum Untergange neigte, von ihm Abschied nahm, und der Prediger ihm noch die Ermahnung mit auf den Weg gab, vorzüglich sein Verbrechen durch Reue zu büßen.
Durch die lange Unterhaltung mit dem Prediger und durch dessen Ermahnungen war Reisers Imagination noch mehr erhitzt. – Er kam in der Abenddämmerung in Gotha an, und ging in einer Art von hartnäckiger Betäubung und Fühllosigkeit, dicht vor dem goldnen Kreuze vorbei, wo er logirt hatte, aus dem Thore wieder heraus, in welches er das erstemal nach Gotha gekommen war, und nahm wieder den Weg auf Erfurt zu, um dann von da nach Mühlhausen zu gehen, und endlich die Barzantische Schauspielergesellschaft zu erreichen.
Denn als er nur erst wieder durch Gotha war; verschwand auch allmälig die imaginirte Geschichte, die ihn drei Tage vor Gotha in der Irre herumgetrieben hatte, die erste Aussicht öfnete sich noch einmal wieder; Gotha lag wieder hinter ihm, und war wieder der Mittelpunkt seiner Bestrebungen; so wie von Eisenach, hoffte er auch von Mühlhausen, und zwar mit besserm Glück, dorthin zurückzukehren.
Nun war es aber schon dunkel, ehe er ein Dorf erreichen konnte, und er verirrte sich, und ging beinahe eine Meile um, indes kam er zuletzt doch wieder auf die rechte Straße, und langte in demselben Gasthofe an, wo er auf seiner Hinreise von Erfurt nach Gotha, eine der widerwärtigsten Nächte, in der Gesellschaft von den groben Fuhrleuten zugebracht hatte, deren Quam ihm noch in frischem Andenken war.
In diesem Gasthofe fand er noch alles lebhaft, und einen Handwerksburschen unter den Bauern auf dem Flur sitzend, denen er seine Reisen in Chursachsen erzählte. Gerade als Reiser in den Gasthof kam, trat der Wirth herzu, und gebot dem Erzähler Stillschweigen, weil es schon spät in die Nacht, und Zeit sey, sich schlafen zu legen.
Der Handwerksbursch und die Bauern legten sich nun auf die Streu, die schon zubereitet war, und worauf auch Reiser Platz nahm. – Der Handwerksbursch konnte sich über die Grobheit des Wirths gar nicht zufrieden geben, und gar nicht darüber einschlafen, indem er unzähligemal versicherte, daß ihm in ganz Chursachsen noch keine solche Grobheit von irgend einem Wirth wiederfahren sey.
Als Reiser nun hier am andern Morgen seinen Dreier Schlafgeld bezahlt hatte, war sein Vermögen bis auf neun Pfennige geschmolzen; und nun fieng er an, auf einmal sich so erschöpft zu fühlen, da rohe Wurzeln schon seit mehrern Tagen seine einzige Kost gewesen waren, daß der Gedanke an eine Meile, die er gehen sollte, ihn mit Schrecken erfüllte; denn er fühlte sich diesen Morgen wie gelähmt, und der Raum zwischen Mühlhausen und hier kam ihm wie eine furchtbare Wüste vor, durch die er ohne einen Labetrunk und ohne Stärkung reisen sollte.
Der Handwerksbursch, der den Abend vorher von seinen Reisen in Chursachsen bis in die späte Nacht erzählt hatte, machte sich nun auf den Weg nach Erfurt, und fragte Reisern ob er auch des Weges ginge? dieser bejahte es, und sie wanderten in einem nicht übereilten Schritt mit einander fort.
Der Handwerksbursch, welcher ein Buchbindergeselle und schon ziemlich betagt war, fragte Reisern nach seiner Profession, und dieser antwortete: er sey ein Schuhknecht, und fand ordentlich eine Art von Würde darin, indem er sich einen Schuhknecht nannte; denn als ein solcher war er doch etwas, als einer der ein bloßes Blendwerk seiner Phantasie verfolgte, war er nichts.
Der Buchbindergeselle schien seiner Erzählung nach schon seit vielen Jahren, aus dem Reisen ein eigenes Geschäft gemacht zu haben, und war gegen seinen Gefährten mit seinen Erfahrungen nicht zurückhaltend, indem er ihn unterrichtete, wie man, besonders im Sommer und in der Obstzeit, mit einem halben Gulden sehr weite Touren machen könne, ohne doch dabei Noth zu leiden.
Obst, meinte er, würde einem nirgends versagt, und Brodt auch nicht leicht, auf die Weise brauche man des Tages oft nur wenige Pfennige zu verzehren. – So sey er schon mehrmalen ganz Chursachsen durchgereist, und habe sich wohl dabei befunden; kurz er hielt Reisern würdig, in seinen Orden initiirt zu werden, dessen Vorzüge und Annehmlichkeiten er ihm auf die reizendste Art beschrieb, weil es ein Leben voll immerwährender Veränderung und Unabhängigkeit war. –
Reiser aber fühlte seine Knie wanken, und seine Müdigkeit nahm so sehr bei jedem Schritte zu, daß er in diesem Augenblick, das einförmigste und abhängigste Leben sich gerne hätte gefallen lassen, wenn sich ein ruhiger Aufenthalt ihm dargeboten hätte.
Sein Gefährte schien seinen Kummer zu merken, und suchte ihm Muth und Trost einzusprechen, als sie schon nahe vor Erfurt an einen kühlen und klaren Quell kamen, der dem Buchbindergesellen schon bekannt war, und wo sie bei der drückenden Hitze beide ihren Durst löschten.
Nicht leicht kann diese wohlthätige Quelle, die den Einwohnern von Erfurt wohl bekannt ist, für einen Wanderer erquickender gewesen seyn, als sie es für Reisern war, der sich ganz erschöpft daran niederwarf, und den Labetrunk, den er oft von Menschen kaum zu fordern wagte, nun unmittelbar, aus dem Schatz der Natur empfing. –
Und dann erhielt so etwas für Reisern einen doppelten Werth, weil er das Poetische mit hinzutrug, das nun bei ihm wirklich wurde, und wovon man sagen könnte, daß es die einzige Schadloshaltung für die nothwendigen Folgen seiner Thorheit war, für die er selbst nicht konnte, weil sie nach natürlichen Gesetzen in sein Schicksal von Kindheit auf sich nothwendig einflechten mußte.
Als nun die alten Thürme von Erfurt wieder aus dem Thale emporstiegen, und Reiser nun hoffnungslos dahin zurückwanderte, wo er noch vor kurzem mit dem jugendlichen Schimmer der ersten Hoffnung ausgereist war, so fiel es ihm sonderbar auf, da sein Gefährte der Buchbindergeselle auf einmal zu ihm sagte: er glaube nicht, daß Reiser ein Schuhknecht sey, sondern hielte ihn für einen Studenten, der auf der Universität in Erfurt studiren wolle.
Reiser der schon wieder bis zum Hinsinken ermattet war, fühlte sich durch diese zufälligen Worte des Buchbindergesellen wie ins Leben zurückgerufen.
Sobald er in dieser Stadt, die so nahe vor ihm lag, studiren und bleiben wollte, war sie das Ende seiner mühseeligen Wanderung; sie war der Endzweck, das Ziel seiner Reise, das er nun so nahe vor sich sahe, und wo er noch dazu auf eine ehrenvolle Weise, mit seinem Plane umwechseln konnte. Jemehr seine Müdigkeit zunahm, je reizender und wünschenswerther wurde ihm der Gedanke an den Aufenthalt in dieser weiten Stadt, worin doch auch, wie er dachte, noch wohl ein Plätzchen für ihn sich finden würde.
Dieser hoffnungslose traurige Zustand des Umherirrens, worin er sich nun schon seit mehrern Tagen befand, konnte durch keinen Reiz einer angespannten erhitzten Einbildungskraft mehr übertragen werden, sondern der Gedanke der gänzlichen Hülflosigkeit ermüdete ihn mit jedem Schritte noch mehr, und die Müdigkeit vermehrte wieder den Gedanken der Hülflosigkeit, die vorzüglich aus dem Sinken seines Muthes und aus der Erschöpfung seiner Kräfte entstand.
Sie kamen nun in die Stadt, vor einem Bäckerhause vorbei, wo auf dem Laden eine Menge Brodte aufgethürmt lagen: Reiser wollte sich eins darunter aussuchen, und als er es kaum berührt hatte, schoß beinahe der ganze Haufe von Brodten auf die Straße herunter. – Die Leute im Hause fingen einen großen Lärm an, und Reiser mußte mit seinem Gefährten sich nur schnell um eine Ecke wenden, um den Schmähungen zu entgehen. So verfolgte Reisern sein widriges Geschick bis aufs äußerste.
Sie kehrten nun in einem Gasthofe ein, wo Reiser dem Durst nicht widerstehen konnte und für die letzten neun Pfennige, die er noch übrig hatte, sich Bier geben ließ. Für diesen einen Trunk hatte er also sein Schlafgeld auf noch drei künftige Nächte ausgegeben, und ihm blieb nichts weiter übrig, als ganz unter freiem Himmel zu wohnen.
Bei diesem Gedanken war es ihm, als ob er nun mit dem Trunk Bier die Vergessenheit alles Künftigen und Vergangenen trinke, und von allem Kummer auf einmal befreiet werden sollte. Denn nun gab er sich ganz seinem Schicksale hin, und betrachtete sich wieder wie ein fremdes Wesen, für das er nicht mehr denken könnte, weil es unwiederbringlich verlohren war; so schlummerte er ein, und schlief eine Stundelang.
Als er erwachte, war es noch eine Stunde vor Mittage, sein Gefährte war weggegangen, und er saß, den Kopf auf die Hand gestüzt, in stummer Verzweiflung da, als ein Mann, der gerade gegen ihm über saß, ihn anredete, und sich erkundigte, ob er nicht ein fremder Student sey?
Als dies bejahet wurde, erzählte der Mann, gleichsam, als ob er um Reisers Zustand gewußt hätte; daß der jetzige Prorektor der Universität, der Abt vom Benediktinerkloster auf dem Petersberge ein äußerst menschenfreundlicher Mann sey, der erst vor Kurzem, einem jungen Manne, der auch mit Nichts hiehergekommen sey, sogleich Unterstützung verschaft, und sich seiner auf das menschenfreundlichste angenommen habe. Wenn Reiser diesen Prälaten besuchen wollte, so solle er nur dreist zu ihm gehen; er würde gewiß eine gütige Aufnahme bei ihm finden. Hierauf kamen andere Leute, mit denen der Mann sich ins Gespräch gab.
Reiser aber, den die gänzliche Erschlaffung aller seiner Seelen- und Körperkräfte, und der wohlthätige Schlummer, der hievon eine Folge war, schon wieder etwas gestärkt hatten, fühlte sich auf einmal wieder mit neuer Hoffnung und neuem Muth beseelt, da er sich den Prälaten im Benediktinerkloster auf dem Petersberge dachte.
Er machte sich sogleich auf den Weg, und erkundigte sich nach dem Petersberge; ein junger Student der ihm begegnete; gab ihm nicht nur höflich Bescheid, sondern begleitete ihn sogar eine Strecke, um ihn gehörig zurechtzuweisen. Dieß war ihm ein gutes Omen. Er stieg den befestigten Petersberg hinauf, und die Wachen ließen ihn ungehindert durch. –
Er kam in der Wohnung des Prälaten an, dessen Bedienter ihn mit einem freundlichen Gesicht empfing, und sobald er sagte, daß er ein Student sey, ihn sogleich bei dem Prälaten zu melden versprach. –
Er ward eine Treppe hoch in einen großen Saal geführt, in welchem Gemählde hingen, unter denen das eine den Petrus vorstellte, wie er sich in des Hohenpriesters Hause am Feuer wärmt. –
Indem Reisers Blicke noch auf dies Gemählde geheftet waren, trat der Prälat in seiner schwarzen Ordenskleidung mit dem Brevier in der Hand heraus, und Reiser richtete eine kurze lateinische Anrede an ihn, die er sich beim Hinaufsteigen auf den Petersberg ausgedacht hatte, und deren Inhalt war, daß er vom widrigen Glück umhergetrieben, nach Erfurt gekommen sey, und hier einige Unterstützung zu finden hofte, um auf irgend eine Weise sein angefangenes Studium hier fortzusetzen.
Der Prälat fragte ihn mit großer Leutseeligkeit wieder in lateinischer Sprache, ob er katholisch sey oder sich zur Augspurgischen Konfession bekenne, und als Reiser das letztere bejahte, so antwortete ihm der Prälat fast mit seinen eigenen Worten wieder: es thäte ihm zwar leid, daß Reiser vom widrigen Glück umhergetrieben sey, doch sähe er noch kein Mittel, wie er gerade auf dieser Universität Unterstützung finden würde? Indes wolle er ihm die Hoffnung nicht dazu benehmen.
Hierauf fragte er nach Reisers Geburtsort, und da dieser Hannover nannte, so fuhr der Prälat fort: er gäbe ihm den Rath sich an den Doktor Froriep zu wenden, weil dieser gewissermaßen sein Landsmann sey. Bei dem möchte er sich also melden, und dann wieder zu ihm kommen. Mit diesen Worten drückte er Reisern ein Stück Silbergeld in die Hand, und fügte hinzu: er möchte mit diesem kleinen Mittagsmahl vorlieb nehmen.
Wenn ja etwas den Muth des Zerschlagenen wieder aufrichten, und den völlig Gesunkenen von der Verzweiflung retten kann, so ist es die Mine und der Ton, womit der Prälat Günther damals Reisers Bitte beantwortete, und ihm seinen Rath ertheilte.
Von dieser Behandlung beinahe bis zu Thränen gerührt, eilte Reiser fort, und glaubte zu träumen, da er wieder draussen vor der Thüre stand, sein Stück Geld besahe und sich auf einmal wieder im Besitz von einem halben Gulden sahe; da es ihm kurz vorher noch an einem Dreier für ein Nachtlager fehlte. – Dieser halbe Gulden dünkte ihm jezt ein unschätzbarer Reichthum, und war es auch würklich für ihn, weil er ihm wieder den Muth einflößte, woran sein ganzes Schicksal hing.
Er ging nun nach einem Speisehause, und genoß zum erstenmale wieder warmes Essen. Gleich nach Tische aber erkundigte er sich nach der Kaufmannskirche, bei welcher der Doktor Froriep wohnte. Er traf ihn gerade, da er eben um zwei Uhr des Nachmittags ein Kollegium lesen wollte, und redete ihn auf eine ähnliche Weise, wie den Abt Günther, lateinisch an.
Da der Doktor Froriep von Reisern hörte, daß er aus Hannover sey, nahm er ihn außerordentlich freundlich auf, und führte ihn mit sich in seinen Hörsaal, wo die Studenten schon mit den Hüten auf den Köpfen saßen, welches für Reisern ein ganz ungewohnter Anblick war; um so vielmehr, da er merkte, daß man sich über ihn aufhielt, weil er nicht auch bedeckt blieb.
Er sahe sich also nun auf einmal in Erfurt, in dem Hörsaale eines Professors, mitten unter Studenten sitzen, da er am Morgen eben dieses Tages noch weiter nichts als das offne Feld, das er durchwanderte, zu seinem Aufenthalt vor sich sahe.
Der Doktor Froriep las Kirchengeschichte, wobei auch manche lustige Anekdote mit unterlief, die das Auditorium aufmunterte, und von den Musensöhnen oft mit einem schallenden Gelächter begleitet wurde. Dieß alles war Reisern noch wie ein Traum. Er erinnerte sich an die Jahre seiner Kindheit, wo ihm der Hörsaal der Schule schon heilig war, und itzt fand er sich auf einmal in einem akademischen Hörsaale, über dem nun nichts Höhers mehr war.
Als das Kollegium zu Ende war, nahm der Doktor Froriep Reisern mit sich auf seine Stube, und fragte ihn um seine Geschichte, der er nun die neue Wendung gab, daß er sich in Hannover durch eine Schrift, die übel ausgedeutet sey, den Haß eines vornehmen Mannes zugezogen, und von dort habe weggehen müssen. – Da er nun weiter keine Aussicht gehabt, so sey er auf die Gedanken gekommen sich dem Theater zu widmen, nach reiflicher Überlegung aber habe er diesen Entschluß fahren lassen, weil er wohl einsehe, daß er sich auf immer für die Zukunft durch diesen Schritt schaden würde; und darum habe er nun gedacht, sich in Erfurt aufs neue dem Studiren zu widmen.
Nun war es merkwürdig, wie Reiser diese Lüge, die er sich während dem Kollegium des Doktor Frorieps ausgedacht, sich selbst, ehe er sie sagte, in Wahrheit zu verwandeln suchte, und wie jesuitisch er dabei sich selber täuschte. Er suchte sich nehmlich in seinen Gedanken zu überzeugen, daß er nun wirklich die Thorheit seines Unternehmens vollkommen einsehe, und daß er nun ganz freiwillig seinen Entschluß geändert habe, und fest bei diesem Vorsatz bleiben würde, wenn sich ihm auch gleich jetzt die beste Gelegenheit, den Schauplatz zu betreten von selbst darböte.
Und was die erste Hälfte seiner Lüge anbetraf, so suchte er sich einzubilden, daß in seiner Rede, die er an der Königin Geburtstage gehalten, wirklich einige verfängliche Stellen wären, die wohl jemand zu seinem Nachtheil ausgedeutet haben könnte. Ob dieß nun wirklich geschehen sey, das berührte er nun nicht weiter, sondern beruhigte sich dießmal bei der Möglichkeit, weil er sich nicht anders zu helfen wußte.
Denn er durfte nicht sagen, daß er aus Neigung zum Theater aus Hannover gegangen sey, wenn sein Trieb zum Studiren wahrscheinlich bleiben sollte, und die Duellgeschichte paßte hier auch nicht her.
Der Doktor Froriep schien ihm zwar nicht recht zu glauben, allein er faßte eine höhere Idee von Reisern, als dieser erwarten konnte, indem er ihn für einen Sohn angesehener Eltern hielt, mit denen er sich entzweiet habe, und deren Nahmen er nur verschwiege. Reiser fand es für sich schmeichelhaft, daß man eine solche Meinung von ihm hegen konnte, die ihm um desto lieber war, weil sie auf die gefälligste Art seine Lüge zudeckte, indem der Doktor Froriep die Unwahrheit, welche er selbst nicht glaubte, doch am besten entschuldigte.
Und was nun kam, war über alle seine Erwartung. – Der Doktor Froriep redete ihm zu, er möchte nur gutes Muthes seyn; er wolle fürs erste Tisch und Wohnung für ihn besorgen. Reiser der am Morgen eben dieses Tages sich noch von aller Welt verlassen sahe, trauete den tröstenden Worten kaum, die er jetzt vernahm, und glaubte in dem Doktor Froriep in dem Augenblick seinen Schutzengel vor sich zu sehen. –
Dieser schrieb ihm nun ein paar Zeilen, womit er am andern Morgen wieder zu dem Abt Günther gehen sollte, der ihn auf Frorieps Bitte, umsonst als Student immatrikuliren würde.
Ein so glücklicher Wechsel des Schicksals versetzte Reisern in einen Zustand, der ihn aller seiner Widerwärtigkeiten vergessen machte, so daß ihn seine Wanderung auf das Ungewisse gar nicht mehr gereuete, da sie ihn einen solchen Zeitpunkt erleben ließ, von dem sich wohl niemand eine vollkommne Vorstellung machen kann, der nicht auch einmal in seinem Leben von aller Hülfe entblößt, und an Körper und Seele gelähmt ohne Aussicht und ohne Hoffnung war.
In der Freude seines Herzens eilte er in den Gasthof, wo er die Nacht bleiben wollte, ließ sich Papier holen, und fing an, seine eigenen Gedichte, die er auswendig wußte, nacheinander wieder aufzuschreiben, um sie am andern Tage dem Doktor Froriep zu bringen, und sich dadurch einigermaßen seiner Aufmerksamkeit werth zu zeigen.
Er schrieb bis in die Nacht, und wurde mit einigen Heften fertig. Am andern Morgen früh stieg er nun wieder voll ganz anderer Gedanken, als gestern, den Petersberg hinauf; und der gutmüthige Abt Günther freute sich, ihn wieder zu sehen, gewährte ihm gern seine Bitte, und fertigte ihm sogleich die Matrikel aus, wobei er ihm die akademischen Gesetze gedruckt übergab, und deren Befolgung durch einen Handschlag sich angeloben ließ.
Diese Matrikel, worauf stand: Universitas perantiqua, die Gesetze, der Handschlag, waren für Reisern lauter heilige Dinge, und er dachte eine Zeitlang, dieß wolle doch weit mehr sagen, als Schauspieler zu seyn. Er stand nun wieder in Reihe und Glied, war ein Mitbürger einer Menschenklasse, die sich durch einen höhern Grad von Bildung vor allen übrigen auszuzeichnen streben. Durch seine Matrikel war seine Existenz bestimmt: kurz er betrachtete sich, als er wieder vom Petersberge hinunterstieg, wie ein anderes Wesen.
Gegen Mittag zeigte er dem Doktor Froriep die erhaltene Matrikel vor, und brachte ihm zugleich seine Gedichte, die dießmal weit mehr Glück machten, als er erwartet hatte. In Erfurt war nehmlich das Studium der schönen Wissenschaften unter den Studenten noch etwas seltenes, und dem Doktor Froriep war es lieb, einen mehr zu haben, der in diesem Fache den andern einigermaßen zum Beispiel diente.
Diese Gedichte bewürkten also, daß Reisers neuer Gönner sich nun noch weit mehr für ihn interessirte, und ihn keine Nacht mehr im Gasthofe ließ, sondern sogleich dem Universitätsquartiermeister, der zugleich Fechtmeister war, den Auftrag gab, ihm ein Logis zu verschaffen. Dieser quartierte ihn dann fürs erste bei einem alten Studiosus Medicinae ein, welcher bei ihm im Hause wohnte, und weil er zugleich die Besorgung des Freitisches für die Studenten hatte, so zog er ihn fürs erste an seinen eigenen Tisch.
Bei diesen glücklichen Umständen wurde nun Reiser wieder auf manche Stunde lang, der unglücklichste Mensch von der Welt, weil ihn seine Erziehung, und der Kummer von seinen Schuljahren drückten. Die Idee von den Freitischen, die er als Schüler hatte genießen müssen, lag wie eine Last auf ihm, und er fühlte sich im Grunde weit unglücklicher, wie er nun an den Tisch des Fechtmeisters gehen sollte, als wie er auf dem Felde zwischen Gotha und Eisenach rohe Wurzeln aß.
Dieß machte, daß er bei den Studenten, welche auch mit ihm bei dem Fechtmeister aßen, für einen timiden und blöden Menschen gehalten wurde; und da sein Wirth, der mit Studenten nach ihrer Art umging, auch nicht viel Umstände mit ihm machte, so wurde dadurch sein Zustand noch unerträglicher; er schien sich auf einmal aus der unbegrenzten Freiheit in die niederträchtigste Abhängigkeit wieder versunken zu seyn.
Ohngeachtet seines scheuen Wesens aber war man schonend gegen ihn, und dieß hatte er wiederum seinen aufgeschriebenen Gedichten zu danken, wovon der Doktor Froriep zu verschiedenen Leuten gesprochen hatte, und die ihm, ohne daß er es selbst wußte, unter den Studenten in Erfurt schon einen gewissen Nahmen gemacht hatten, so daß man nun sein sonderbares Wesen auf Rechnung seiner Dichtergabe schrieb.
Es fehlte ihm nun gänzlich an Wäsche, und hätte er einiges Zutrauen zu den Menschen gehabt, so hätte er auch itzt diesen Mangel sehr leicht ersetzen können. Allein es war ihm unmöglich diesen Mangel zu gestehen, der ihm am drückendsten war, und im Grunde seine meiste Traurigkeit verursachte, die er aber immer selbst auf etwas anders schob, worüber er zu trauren gegen sich selbst affektirte, weil ihm der Mangel an Wäsche ein zu kleiner und unpoetischer Gegenstand schien.
Der Fechtmeister wieß ihm nun ein bleibendes Quartier bei einem Studenten Nahmens R... an, bei dem er auch auf der Stube wohnen mußte, und der sogleich eine Wochenschrift mit ihm gemeinschaftlich herausgeben wollte, weil er sich von Reisers Dichter- und Schriftstellertalent schon große Vorstellungen gemacht hatte. Reiser dachte auch bald einen Plan zu einer Wochenschrift aus, welche sich mit einer Satyre auf diese Art Schriften anheben, und die lezte Wochenschrift heissen sollte; als aber sein neuer Stubengenosse merkte daß er kein Geld bei sich führe, und auch keine sehr bestimmte Aussicht habe, welches zu erhalten, fing er an ziemlich kalt gegen ihn zu werden, und rieth ihm fürs erste seinen Degen zu versetzen, welches Reiser that, und nun auf einmal wieder freundlichere Blicke erhielt. Denn der Hr. R..., der ein sehr ordentlicher Mann war, wollte bei ihrer beiderseitigen litterarischen Unternehmung nicht gerne Auslagen machen.
Sie gingen nun beide hin zu einem Buchdrucker in Erfurt, Nahmens G... und brachten den Plan ihrer neuen Wochenschrift zum Vorschein: Dieser stellte ihnen aber sehr nachdrücklich vor, wie mißlich ein solches Unternehmen, und wie viel sicherer es sey, seine Aufsätze in ein Blatt zu geben, welches schon einmal bekannt und vom Publikum beliebt wäre, wie z. E. die Wochenschrift der Bürger und der Bauer, welche er selbst herausgab, und die von Betteljungen in den Bierhäusern in Erfurt herumgetragen wurde.
Das war also eben der Bürger und Bauer, den Reiser auf seiner ersten Wanderung bei dem Jäger nicht weit von Mühlhausen vorgefunden hatte, und zu dessen Mitarbeiter er nun nebst seinem Stubengenossen von dem Verleger und Herausgeber erwählt wurde. Beide mußten nun den Abend bei dem Buchdrucker speisen, und es wurden Rettig und eine Art sehr harter länglichter kleiner Käse, die in Erfurt gewöhnlich sind, aufgetragen, wovon die beiden Mitarbeiter unaufhörlich aßen, während daß die Frau des Buchdruckers manchmal darzu sehr sauer sahe.
Der erste Aufsatz, den nun der Student R... in die Wochenschrift der Bürger und der Bauer lieferte, war eine prosaische Nachahmung von dem Beatus ille des Horaz. Und der erste Aufsatz von Reiser, war sein steifes Gedicht über die Welt, das er schon in Hannover auf der Schule gemacht hatte.
Da nun aber für diese Aufsätze weiter kein Honorar erfolgte, und der Plan des Studenten R... durch eine Wochenschrift, die er mit Reisern herausgeben wollte, ein Ansehnliches zu gewinnen, auf die Weise ins Stecken gerieth, so hatte auch Reiser weiter kein Interesse mehr für ihn; welches ihm nicht zu verdenken war, da Reiser wegen seiner Melancholie, die vorzüglich bei ihm aus dem Mangel an Wäsche, und nun auch wieder von dem schlechten Zustande seiner Schuhe entstand, nur ein trauriger Gesellschafter seyn konnte.
Der Student R... suchte also Reisern nach Verlauf von acht Tagen, die er bei ihm gewohnt hatte, schon wieder in einem andern Logis unterzubringen. – Dieß war auf der Kirschlache, in der Wohnung eines Brauers, wo noch ein Student logirte, und der Sohn im Hause ebenfalls die Schule besuchte.
Hier bekam Reiser nun wiederum kein Zimmer für sich allein, sondern mußte, so wie der andre Student mit der Familie zusammenwohnen. – Das Haus aber hatte eine angenehme Lage – es stand in einer Reihe kleiner Häuser, vor denen ein schmales Gewässer vorbeifließt, dessen diesseitiges Ufer mit Bäumen bepflanzt ist.
Es war also keine ganz eingeengte Straße, sondern das vorüberfließende Wasser, und selbst die Kleinheit der Häuser trugen dazu bei, dieser Gegend der alten Stadt ein freies ländliches Ansehn zu geben.
Hinter dem Hause war gleich die alte Stadtmauer, von welcher man die Aussicht nach dem Kartheuserkloster hatte. Die Mauer war oben zum Theil mit Gras bewachsen, und an verschiedenen Orten halb eingefallen, so daß man bequem hinaufsteigen, und alsdann die große Pläne von Gärten, womit Erfurt noch innerhalb seiner Mauren umgeben ist, übersehen konnte.
Während dieser Zeit erhielt nun Reiser auch den ordentlichen Freitisch von der Universität, und die Idee des ruhigen Bleibens behielt nun auf einmal wieder so sehr bei ihm die Oberhand, daß er jetzt, da er neunzehn Jahr alt war, an seinen Freund in H... schrieb, er hoffe und wünsche nunmehr den Rest seiner Tage in Erfurt zu beschließen.
Seine lernende Laufbahn sollte nehmlich hier unmittelbar in die lehrende übergehn, und so sollte das Ziel aller seiner Wünsche und Hoffnungen dann erreicht sein. – Auf alles übrige Glänzende glaubte er nun Verzicht gethan zu haben, und alle die schimmernden Theaterphantasien schienen auf eine Zeitlang aus seinem Kopfe verschwunden zu seyn.
Er war nun doch auf einmal in eine neue Welt versetzt, und hatte gegen seinen Aufenthalt in H... immer erstaunlich viel gewonnen.
Wenn er auf den Wällen von Erfurt um die Stadt spatzieren gieng, so fühlte er lebhaft, daß er durch eigne Anstrengung sich aus seinem unerträglichen Zustande gerissen, und seinen Standpunkt in der Welt aus eigner Kraft verändert hatte.
Wenn er dann die Glocken von Erfurt läuten hörte, so wurden allmälig alle seine Erinnerungen an das Vergangene rege – der gegenwärtige Moment beschränkte sein Daseyn nicht – sondern er faßte alles das wieder mit, was schon entschwunden war.
Und dies waren die glücklichsten Momente seines Lebens, wo sein eigenes Daseyn erst anfing ihn zu interessiren, weil er es in einem gewissen Zusammenhange, und nicht einzeln und zerstückt betrachtete.
Das Einzelne, Abgerissene und Zerstückte in seinem Daseyn, war es immer, was ihm Verdruß und Ekel erweckte.
Und dieß entstand so oft, als unter dem Druck der Umstände seine Gedanken sich nicht über den gegenwärtigen Moment erheben konnten. – Dann war alles so unbedeutend, so leer und trocken, und nicht der Mühe des Denkens werth. –
Dieser Zustand ließ ihn immer die Ankunft der Nacht, einen tiefen Schlummer, ein gänzliches Vergessen seiner Selbst wünschen – ihm kroch die Zeit mit Schneckenschritten, fort – und er konnte sich nie erklären, warum er in diesem Augenblicke lebte.
Im Anfange seines Aufenthalts in Erfurt waren dieser Augenblicke nur wenige – er übersah das Leben immer mehr im Ganzen – die Ortsveränderung war noch neu – seine Einbildungskraft war durch das Immerwiederkehrende noch nicht gefesselt. –
Dies Immerwiederkehrende in den sinnlichen Eindrücken scheint es vorzüglich zu seyn, was die Menschen im Zaum hält, und sie auf einen kleinen Fleck beschränkt. – Man fühlt sich nach und nach selbst von der Einförmigkeit des Kreises, in welchem man sich umdreht, unwiderstehlich angezogen, gewinnt das Alte lieb, und flieht das Neue – Es scheint eine Art von Frevel, aus dieser Umgebung hinauszutreten, die gleichsam zu einem zweiten Körper von uns geworden ist, in welchen der erstere sich gefügt hat.
Reisers Wohnung auf der Kirschlache schien auch gerade dazu gemacht zu seyn, um seine Einbildungskraft aufs neue wieder zu fesseln.
Die Aussicht über die Gärten nach dem Karthäuserkloster hin hatte nehmlich so etwas Romantisches, das Reisern unwiderstehlich anzog, und seine Blicke auf jenen stillen Sitz der Einsamkeit heftete, nach welcher er eine heimliche Sehnsucht empfand. –
Da das Gebäude seiner Phantasie gescheitert war, und er die geräuschvollen Weltscenen weder im wirklichen Leben, noch auf dem Theater hatte durchspielen können, so fiel er nun, wie es gemeiniglich zu geschehen pflegt, mit seiner ganzen Empfindung auf das andere Extrem.
Ganz von der Welt vergessen, von Menschen abgeschieden, in der stillen Einsamkeit seine Tage zu verleben, hatte einen unaussprechlichen Reiz für ihn – und diese Abgeschiedenheit erhielt in seinen Gedanken einen desto höhern Werth, je größer das Opfer war, das er brachte. – Denn das worauf er Verzicht that, waren seine liebsten Wünsche, die in sein Wesen eingewebt schienen. –
Die Lampen und Kulissen, das glänzende Amphitheater war verschwunden, die einsame Zelle nahm ihn auf. –
Die hohe Mauer welche das Karthäuserkloster umschließt, das Thürmchen auf der Kirche, die einzelnen Häuschen, die innerhalb der Mauer in einer Reihe nacheinander stehn, und wovon jedes durch eine Mauer vom andern abgesondert, ein eigenes Fleckchen zum Garten hat; dieß alles macht einen sehr interessanten Anblik, und diese Höhe der Mauer, diese einzelnen Häuser, und diese Gärtchen dazwischen, bezeichnen sehr auffallend und bedeutend die Einsamkeit und Abgeschiedenheit der Bewohner dieses Orts.
So oft die Glocke auf dem Thürmchen angezogen wurde, tönte sie in Reisers Ohren, wie die Sterbeglocke aller irrdischen Wünsche und Aussichten, in die Zukunft dieses Lebens. –
Denn hier war nun das Ziel von allem – nie durfte der Fuß des Eingeweihten wieder aus dem Bezirk dieser Mauren treten – er fand hier seine immerwährende Wohnung, und sein Grab. –
Das Geläute der Karthäuser wird noch mehr durch die Art mit der es geschieht, und durch seine Langsamkeit traurig und melancholisch. –
So wie nehmlich die Karthäuser sich auf dem Chor versammlen, thut jeder nach der Reihe einen Zug an der Glocke, und nimmt darauf seinen Platz ein, bis alle, vom Ältesten bis zum Jüngsten hereingetreten sind.
Nun horchte Reiser auf den Schall dieser Glocke zuweilen in der stillen Mittagsstunde, zuweilen um Mitternacht, oder bei frühem Morgen, und jedesmal erneuerte sich der Eindruck davon so lebhaft in seinem Gemüthe, daß immer das ganze Bild der Einsamkeit und Stille des Grabes mit erwachte. –
Es kam ihm vor, als ob diese abgeschiedenen Menschen ihren eigenen Tod überlebten, in ihren Gräbern umherwandelten, und sich einander die Hände reichten. –
Mit dieser Idee wurde er nach und nach so vertraut, und sie wurde ihm so lieb, daß er sie manchmal um die angenehmsten Aussichten in das Leben nicht hätte vertauschen mögen.
Er hatte nun auch wieder einen Brief von Philipp Reiser aus Hannover erhalten, der eben so, wie ehemals die Gespräche desselben, statt einer besondern Theilnehmung an seines Freundes Schicksale, eine etwas weitläuftige Schilderung seiner damaligen Liebe enthielt, und wie weit er nun schon in dieser Liebe gekommen sey, und was ihm noch für Hindernisse im Wege ständen.
Demohngeachtet trug Reiser diesen Brief beständig bei sich, und las ihn zum öftern durch, weil Philipp Reiser doch sein einziger Freund war.
Ohnweit der Kirschlache war ein angenehmer Spatziergang, wo zwischen grünem Gebüsch im Thale sich ein klarer Bach ergoß. – Die Aussicht war rund umher gehemmt, und man befand sich in einer reizenden Einsamkeit. –
Hier brachte Reiser manche Stunde auf dem grünen Rasen am Ufer des Baches zu, und dachte über sein Schicksal nach, und wenn er zu denken müde war, so las er den Brief seines Freundes durch, den er, so wenig ihn auch der Inhalt interessirte, am Ende fast auswendig lernte – denn er hatte doch einmal nichts zu lesen, was ihm näher gewesen wäre, als dieser Brief.
Dazu kam noch der Umstand, daß Philipp Reiser aus Erfurt gebürtig war; sie hatten also beide ihre Vaterstädte vertauscht – und Anton Reiser befand sich nun auf demselbigen Fleck, wo sein Freund die ersten Tage seiner Jugend verlebt, und die ersten Eindrücke von der ihn umgebenden Welt erhalten hatte.
Er durchlebte hier in Gedanken Philipp Reisers Kinderjahre, und verdoppelte sich in ihm, wenn er in dem Thal am Bache saß, und seinen Brief las, der ihm denn sein ganzes Wesen wieder in Erinnerung brachte.
Darum war ihm unter den Studenten auch O... so lieb, der Philipp Reisern in Erfurt noch gekannt hatte, und mit dem er sich am öftersten von ihm unterredete.
Dieser O... war damals ein junger liebenswürdiger Schwärmer, vor seiner Phantasie schwebte noch der jugendliche Lebensreiz, und ihn beseelten hohe Freundschaftsgefühle – zuweilen lief ein klein wenig Affektation mit unter, im Grunde aber hatte er wirklich ein gefühlvolles Herz.
An ihm fand Reiser seinen Mann, und ruhte nicht eher, bis er an einem Sonntage mit ihm in die Karthäuserkirche gieng; denn allein hatte er sich, weil es ihm zu auffallend schien, noch nicht getraut, hereinzugehen.
Sie hatten sich unterwegens von der Nichtigkeit und Kürze des Lebens unterhalten, wobei zu bemerken ist, daß Reiser damals neunzehn und O... zwanzig Jahr alt war, und wusten nicht, was sie mit dem Rest ihrer Tage anfangen sollten, als sie in dem Kloster anlangten, und in die Kirche traten, welche schon durch ihre leeren weißen Wände, und den einsamen Chor die Stille des Grabes predigte.
Die Kirche wird nehmlich außer den Karthäusern selber fast von niemand besucht, und weil keine Gemeinde dazu gehört, so ist hier weder Kanzel noch Stühle oder Bänke, sondern nichts als die leeren Wände und der flache Boden, welches dieser Kirche, bei dem dämmernden Lichte, das von oben durch die Fenster fällt, ein sehr ernstes und melancholisches Ansehn giebt.
O... und Reiser knieten ganz allein an einem Pult vor dem Chore, als die weißgekleideten Mönche einer nach dem andern hereintraten, und jeder sich bückend seinen Zug an der Glocke that.
Sie setzten sich an ihre Pulte auf dem Chor und stimmten ihren Bußgesang in tiefen, traurigen Tönen an – bald standen sie auf und sangen Hymnen, die traurig zurück erschallten; dann fielen sie auf ihr Angesicht, und flehten in tiefen klagenden Tönen um Erbarmung. –
Ganz an dem einen Ende des halben Zirkels stand ein Jüngling mit blassen Wangen von ausnehmend schöner Bildung. – Reiser konnte seine Augen nicht von den seinigen wenden, die er andachtsvoll gen Himmel schlug. –
O... kannte diesen Unglücklichen, der in den Orden der Karthäuser getreten war, weil der Blitz seinen Jugendfreund an seiner Seite erschlagen hatte – und Reisern schwebte das Bild dieses Jünglings von nun an beständig vor der Seele. –
Halbe Tage brachte er auf der alten Mauer hinter seiner Wohnung zu, und sehnte sich in den Bezirk jener stillen Mauren hin, die seiner Meinung nach eine ganze Welt mit allen ihren Täuschungen und Blendwerken ausschlossen. –
Mit jenem Jüngling wollte er dort verblühen, und dem Grabe zuwelken – dort wollte er selber sein einsames Gärtchen bauen, – den sanften Strahl der Abendsonne in seiner Zelle begrüßen – und allen irrdischen Wünschen und Hoffnungen entnommen mit Ruhe und Heiterkeit dem Tode entgegen sehen.
In dieser Stimmung machte er nun auf den alten eingefallnen Mauern hinter seiner Wohnung, folgendes Gedicht:
Du stille geweihte Behausung, des Grabes rührendes Vorbild,
Welch eine geheime Empfindung heftet mein Auge voll Thränen,
Auf deine einsamen Hütten? Ehrwürd'ger Greis, du Bewohner
Des Orts der Stille und der Andacht, Heil dir! vom leeren Gewimmel
Der gaukelnden Eitelkeit fern, und fern vom Geräusche des Stolzes,
Kannst du mit eignen Händen dein einsames Gärtchen dir bauen,
Und deine Seele, die oft, mit edlem Unwillen strebet,
Aus ihrem Kerker zu fliehen, mit jedem kommenden Tage,
Dem Himmel würdiger machen – Heil dir! genieße die Seegen
Der göttlichen Einsamkeit ganz, daß dein von Erdegedanken
Schon lang entwöhnter Geist, in Engelgefühlen zerfliesse
Und zu seinem ewigen Ursprung sich jauchzend emporschwinge – herrlich,
O Greis, war so das Loos deiner Tage! Du aber, dem Jahre,
Voll Kummer des Lebens durchlebt, noch nicht die sinkende Scheitel
Bereiften, rüst'ger Mann, und du starker, blühender Jüngling,
Der, für die Freuden des Lebens, die einsame Zelle sich wählte;
O warst du vielleicht das Ziel der Verachtung des höhnenden Stolzes?
Betrog dich vielleicht ein falscher Freund? oder fühltest du lebhaft,
Wie alle die Wünsche der Menschen und ihre Hoffnungen alle
So nichtig und doch so stolz sind? War's verbitternder Ekel
Vor diesen schaalen unschmackhaften Freuden des Lebens, der dir einst
Den blumigten Schauplatz der Welt zur traurigen Einöde machte;
Dann wohl auch dir! daß du eine sichere Freistadt vor allen
Den list'gen Ränken der Bosheit fand'st, und vor dem Geräusche
Der Thoren, und vor der Verführung des schön gleißenden Lasters,
Und vor des Lebens betrüglichen Freuden fand'st ! – Doch was seh ich?
Im Aug' eine stumme Zähre zittert langsam die Wange
Des Jünglings herab, der abgehärmt und bleich sein gebrochnes,
Hinsterbendes Leben verweinet, und wie die lechzende Blume
In schwülen Tagen dahinwelkt. – Der du im geheiligten Kerker,
Von keinem Strahl erquickt, aus Zwang oder Unbedacht schmachtest,
O weine, Jüngling, weine! Dein Gott vergiebt dir die Zähren,
Die der unschuldige Wunsch der Natur aus der Seele dir preßte !
O könnt' ich doch meine Thränen mit deinen Thränen vermischen,
Und sanften lindernden Trost in deine Seele hinweinen!
Sanftlächelnd geht die Sonn' am Frühlingsabend dir unter,
Noch röthet ihr letzter Strahl mitleidig dein einsames Fenster,
Du legst dich hin auf dein Lager, und träumst von künftigen Tagen,
Voll glänzender Aussichten, schwimmst in Wonnegefühlen, verlierst dich
In Labyrinthen von Freuden, erwachst vom glücklichen Schlummer,
Und siehest – ach, deiner traurigen Zelle öde vier Wänd', und
Kein Strahl von Hoffnung lächelt hinein – o säuselt Zephire
Um dieses Jünglings Haus, liebkoset und trocknet mitleidig
Vom Aug' die Zähr' ihm! Blühet ihr Blumen, in seinem Garten,
Und um seine Fenster erschalle, dein tröstendes Lied, Philomele!
Bis der Allliebende einst, von des Lebens quälenden Banden
Die leidende Seele befreit, dann wirst du voll zärtlicher Wehmuth,
Noch oft in durchthaueten Nächten um seine Grabstätte klagen.
Reiser war wirklich so mit ganzer Seele bei den Karthäusern, daß er anfing im Ernst darauf zu denken, wie er auch so abgeschieden von der Welt seine Tage zubringen könnte, und dann von allem was ihn drückte, von seinen Wünschen und Begierden, die ihn quälten, auf einmal und auf immer befreit seyn würde. –
Als er schon einige Tage in diesen Gedanken vertieft gewesen war, kam O... zu ihm und sagte, daß die Studenten in Erfurt willens wären eine Komödie zu spielen, und daß einige Rollen noch unbesetzt wären. – –
Diese Anrede wirkte so mächtig auf Reisers Phantasie, daß auf einmal das Karthäuserkloster mit seinen hohen Mauren tief im Hintergrunde stand, und die Kulissen mit den Lichtern sich plötzlich wieder vordrängten; da nun O... überdem noch hinzufügte, daß man damit umgehe, in dem Stücke, das man aufzuführen Willens sey, Reisern eine Rolle anzutragen; so war vollends jeder ernste und melancholische Gedanke, wie verschwunden.
Das Stück nehmlich, was die Studenten in Erfurt aufführen wollten, hieß Medon oder die Rache des Weisen, und man könnte davon sagen, daß es die ganze Moral in sich enthielt, so erstaunlich viel Tugend wurde von allen Personen darin gepredigt.
In diesem Stücke nun sollte Reiser die Rolle der Clelie, der Geliebten des Medon, übernehmen, weil sich an seinem Kinne noch die wenigste Spur von einem Barte zeigte, und weil auch seine Länge als Frauenzimmer eben nicht auffiel, da der, welcher den Medon spielte, von einer fast riesenmäßigen Größe war.
Ohngeachtet der auffallenden Sonderbarkeit dieser Rolle, konnte Reiser dennoch seinem Hange, das Theater auf irgend eine Weise zu betreten nicht widerstehen, um so weniger, da sich ihm die Gelegenheit dazu, so ganz ungesucht und von selbst darbot.
Während der Zeit hatte nun der Doktor Froriep nach Hannover geschrieben, und sich wegen Reisers Aufführung bei seinem ehemaligen Lehrer dem Rektor S..., wo er im Hause gewohnt hatte, erkundigt, und dieser hatte ihm ganz wider Reisers Vermuthen, ein Zeugniß gegeben, welches ihn bei dem Doktor Froriep noch weit mehr in Gunst brachte.
Der Rektor S... hatte nehmlich geschrieben, daß man allerdings von den Anlagen dieses jungen Menschen sich viel versprochen hätte. Und dieß war für den Doktor Froriep genug, um das Nachtheilige, was dieß Zeugniß enthielt, mit Schonung und Nachsicht zu betrachten, und sich nun Reisers mit verdoppeltem Eifer anzunehmen, um ihm, wo möglich, auch die Gnade des Prinzen wieder zu verschaffen.
Das Zeugniß selbst aber war auch schonend und nachsichtsvoll abgefaßt, ausgenommen einen Punkt, wo man Reisern, wegen seiner nächtlichen Spatziergänge, im Verdacht der Liederlichkeit gehabt hatte, und ihn also gerade einer Sache beschuldigte, wovon er am weitesten entfernt war, weil er schon durch das Drückende seines Zustandes, durch seine Selbstverachtung, und selbst durch seine Schwärmereien davon abgehalten wurde.
Dann war sein Hang zum Theater, dasjenige, worauf man nicht ohne Grund, seine übrigen Unregelmäßigkeiten schob, und wodurch damals so viele junge Leute auf der Schule in H... waren hingerissen worden. –
Und gerade indem nun dieser Brief ankam, war Reiser schon wieder im Begriff mit den Studenten in Erfurt Komödie zu spielen. – Der Doktor Froriep widerrieth es ihm zwar; da er aber sahe, wie sehr sein Herz daran hieng, sahe er ihm auch noch diese Thorheit nach, und entzog ihm darüber nichts von seiner Gunst.
Die Vorbereitungen zu der Komödie wurden nun gemacht; Reiser lernte die Rolle der Klelie auswendig, und nun wurden häufige Proben gehalten, wodurch Reiser mit dem größten Theil der Studenten in Erfurt bekannt wurde, die sich alle gegen ihn sehr höflich betrugen, und alle eine vortheilhafte Meinung von ihm hegten, wodurch er sich in eine Welt versetzt fand, die von derjenigen ganz verschieden war, worin er von Kindheit auf gelebt hatte.
Zwischen diesen Komödienproben versäumte nun Reiser nicht, des Doktor Frorieps Predigerkollegium fleißig zu besuchen. Dies bestand aus einer Anzahl Studenten, die sich in der Kaufmannskirche, in Gegenwart des Doktor Froriep und der übrigen Studenten, bei verschloßnen Thüren, im Predigen übten.
Hier wünschte nun Reiser ebenfalls auftreten zu können, um seine Deklamation hier hören zu lassen, und es war ihm immer eine der reizendsten Aussichten, wenn der Doktor Froriep ihm einmal verstatten würde, hier die Kanzel zu besteigen. Auch hatte er sich schon ein Thema ausgedacht, worin er die Schönheiten der Natur, den Wechsel der Jahreszeiten mit poetischen Farben schildern, und mit den glänzenden und schimmernden Aussichten in die Ewigkeit auf eine pathetische Weise seine Predigt beschließen wollte. Allein es kamen immer Hindernisse dazwischen, daß ihm dieser Wunsch in Erfurt nicht gewährt wurde.
So wie man nun an allem zweifelt, was man heftig wünscht, so zweifelte er auch immer, ob die wirkliche Aufführung der Komödie zu Stande kommen, und er seine Rolle darin behalten würde. Dieser Wunsch wurde ihm dann gewährt. Er wurde mit aller Sorgfalt als Klelie geschmückt. Die Lichter wurden angezündet, der Vorhang rauschte empor, und er stand nun da vor einem zahlreichen Auditorium, und spielte ganz unbefangen seine lange Rolle durch, ohne daß ihm ein einzigesmal das Unnatürliche davon eingefallen wäre, so sehr war er in dem Gedanken vertieft, daß er in einer theatralischen Darstellung nun wirklich mit begriffen, und daß seine Mitwirkung in jedem Augenblick dazu nothwendig war. –
Dieß Vertiefen in seinen Gegenstand machte, daß er sich selbst vergaß, und daß auch die Zuschauer das Unnatürliche der Rolle weniger bemerkten, und er über sein Spiel sogar noch Beifall erhielt. Da er also nun den Schauplatz betreten hatte, und doch dabei Student blieb, so machte ihm dies doppeltes Vergnügen, und er fühlte sich in der Wiedererinnerung an diesen Abend ein paar Tage über so glücklich, daß ihm alles das, was ihm in den wenigen Wochen, die er nun in Erfurt zugebracht hatte, schon begegnet war, halb wie im Traume vorkam.
Er rückte nun auch in die Wochenschrift der Bürger und der Bauer von Zeit zu Zeit Gedichte ein, wodurch sein Nahme als Schriftsteller unter den Erfurtischen Bürgern bekannt wurde. Dabei besorgte er Korrekturen für den Buchdrucker G..., und wurde durch diesen mit einem Gelehrten bekannt, den, bei den größten Vorzügen des Geistes und Herzens bis an seinen Tod, ein widriges Schicksal verfolgte, weil er durch den langwierigen ununterbrochenen Druck der Umstände, verlernt hatte, seinen Werth geltend zu machen, und gerade die Kraft, wodurch er in der Welt festen Fuß fassen, und seinen Platz behaupten mußte, bei ihm gelähmt war.
Dieser Doktor Sauer hatte für den Buchdrucker G... eine Wochenschrift geschrieben, unter dem Titel Medon oder die drei Freunde, wovon ein Jahrgang herausgekommen war. Man sahe auch hieran, wie er mit dem Druck der Umstände hatte kämpfen müssen; wie schwer es ihm mußte geworden seyn, eine Anzahl trivialer Aufsätze niederzuschreiben, wobei noch immer die Funken des unterdrückten Genies hervorsprühten.
So aber mußte er schreiben, und wöchentlich seinen Bogen liefern, um wiederum ein Jahrlang von seinem mühseeligen Leben zu athmen. – Da nun die Wochenschrift aufhörte, so war er genöthigt, wieder von Korrekturen sein Daseyn zu erhalten. Und da er selber dramatische Ausarbeitungen von vielem Werth in seinem Pulte liegen hatte, die er nicht wagte, zum Vorschein zu bringen, mußte er für einen vornehmen Herrn in Erfurt, mit aller Sorgfalt und Korrektheit eines Kopisten ein Trauerspiel für Geld abschreiben, um mit dem Abschreiberlohn wiederum einige Tage lang sein Leben zu fristen.
Als Arzt verdiente er nichts: Denn er fühlte einen besondern Hang in sich, gerade den Leuten zu helfen, die der Hülfe am meisten bedürfen, und denen sie am wenigsten geleistet wird. Und weil dieß nun gerade diejenigen sind, welche die Hülfe nicht zu bezahlen vermögen, so gerieth der Arzt selber in große Gefahr zu verhungern, wenn er nicht Wochenschriften herausgegeben, Korrekturen besorgt, und Trauerspiele abgeschrieben hätte.
Kurz, er ließ sich für seine Kuren nichts bezahlen, und brachte auch dazu den armen Leuten noch die Arzenei ins Haus, die er selbst verfertigte, und das wenige was ihm übrig oder nicht übrig blieb, darauf verwandte. Weil er sich nun dadurch gleichsam weggeworfen hatte, so hatten die Leute aus der großen und vornehmen Welt kein Zutrauen zu ihm; niemand zog ihn zu Rathe, und unter den meisten war sogar sein Nahme nicht einmal bekannt, ob er sich gleich als Arzt schon keine geringe Erfahrung und Geschicklichkeit erworben hatte.
Er hatte auch in diesem Fache schon eigene vortrefliche Ausarbeitungen geliefert, die aber das Unglück hatten, sich unter der Menge zu verlieren, und eben so wie ihr Verfasser, von den Zeitgenossen nicht bemerkt zu werden. Und während, daß er nun seine übrigen medizinischen Ausarbeitungen in seinem Pulte verschlossen hielt, mußte er die Schrift eines französischen Arztes, der nach Erfurt kam, und besser, als der Doktor Sauer, sich wußte bemerken zu machen, ins Lateinische übersetzen, um von dem Übersetzerlohne zu leben, und für seine hülflosen und armen Kranken neue Arzeneimittel zuzubereiten.
Der müßte ganz abgestumpft seyn, der diese Unwürdigkeiten und Demüthigungen vom Schicksal nicht fühlen sollte. Der Doktor Sauer machte eine lächelnde Mine dazu, allein im Innersten seiner Seele untergrub doch jede dieser Demüthigungen und Herabwürdigungen seine Thatkraft, und lähmte seinen Muth. Wie konnte er seinem innern Werthe noch trauen, da die ganze Welt ihn verkannte.
Wegen der Konnexion mit dem Buchdrucker G... für welchen er die Korrekturen besorgte, gab er nun auch zuweilen Aufsätze in die berühmte Erfurtische Wochenschrift der Bürger und der Bauer; und da las Reiser einmal ein Gedicht von ihm, auf die freigewordenen Amerikaner, welches wohl verdient hätte, in einer Sammlung von den vorzüglichsten Poesien der Deutschen zu stehen, und nun in einem Blatte sich verlohr, das in den Bierhäusern von Erfurt feil geboten wurde.
Es war als ob in diesem Gedichte sein unterdrückter Geist alle sein Freiheitsgefühl noch einmal ausgehaucht hätte, ein solcher Schwung und feurige Theilnehmung herrschte in den Gedanken.
Ganz entzückt durch dies Gedicht konnte Reiser nicht ruhen, bis er die Bekanntschaft eines so vorzüglichen Mitarbeiters an der Wochenschrift der Bürger und der Bauer gemacht hatte. Es hielt aber schwer, bis er diesen Wunsch erreichte, weil der Doktor Sauer eben keinen großen Hang in sich fühlen konnte, sich noch ferner an irgend einen aus der Klasse von Wesen anzuschließen, die ihn gleichsam ausgestoßen hatte.
Indes fand sich doch ein Weg dazu, weil Reiser sein Studium der englischen Sprache auch in Erfurt fortgesetzt hatte, daß er sich erbot, dem Doktor Sauer Englisch zu lehren, weil dieser schon einigemale den Wunsch geäußert hatte, mit dieser Sprache bekannt zu seyn. Dies Anerbieten wurde dann angenommen, und so erhielt Reiser Gelegenheit wöchentlich wenigstens ein paarmal mit diesem Mann zusammenzukommen, an den er sich nun so nahe wie möglich anzuschliessen wünschte.
Bei dieser Gelegenheit wurde er nun immer offner gegen Reisern, und erzählte ihm von den mannichfaltigen Unterdrückungen, denen er von seiner Kindheit an, von seinen Anverwandten und von seinen Lehrern ausgesetzt war, und nachher alle die Streiche des Schicksals nacheinander, die ihn bis in den Staub darniedergebeugt hatten; so daß Reiser im auffahrenden Unwillen sich nicht enthalten konnte, die Verkettung hämisch zu nennen, worin ein denkendes und empfindendes Wesen gleichsam absichtlich so eingeengt und gequält wird.
Während daß nun Reiser auf diese Art seinen Unwillen äußerte, verzog sich Sauers Mund zu einem sanften Lächeln, wodurch er freilich über diesen Unwillen erhaben, aber auch zugleich von den irrdischen Banden schon gelößt war, und seiner baldigen vollkommnen Befreiung ahndungsvoll entgegen sahe. – Sein Kampf war beinahe durchgekämpft, er brauchte weiter keine widerstehende Kraft, keinen Trotz gegen das Schicksal.
Demohngeachtet loderte die Lebensflamme noch manchmal wieder in ihm auf. Er hoffte zuweilen noch glückliche Tage zu sehen, und hatte einen großen Eifer zur Erlernung des Englischen, weil er sich von diesem seinem Studium viel versprach, um vorzüglich die in der englischen Sprache geschriebenen medizinischen Werke zu nutzen, und dann auch durch Übersetzungen aus dem Englischen Geld zu erwerben.
Dann bot sich ihm auch sogar eine kleine Aussicht zu einer Art von Versorgung in Erfurt dar – und dies war ihm nun schon eine sehr glückliche Wendung, die er besonders seinem Ausharren zuschrieb. Wer in Erfurt zu etwas kommen wolle, pflegte er nun oft zu Reisern zu sagen, der müsse nur lange Zeit ausharren, und die Gedult nicht verlieren! so bescheiden und mäßig war er in seinen Wünschen, und so sehr war jeder Schimmer eines bessern Glücks ihm schon aufmunternd.
Er wußte nicht, daß alles äußere Glück ihm nicht mehr helfen konnte, weil der Quell des Glücks in ihm selber versiegt, und die Blume seines Lebens zerknickt war, so daß ihre Blätter nothwendig welken mußten.
Reiser fühlte sich von einer solchen Theilnehmung angezogen, als ob das Schicksal dieses Mannes sein eigenes, oder mit dem seinigen doch unzertrennlich verknüpft gewesen wäre. Es war ihm als müßte dieser Mann noch glücklich werden, wenn die Dinge in ihrem Gleise bleiben sollten.
Reisern trog aber diesmal, so wie nachher noch oft seine Ahndung, und sein Glaube an eine Entschädigung für erlittenen Kummer, die nothwendig noch auf Erden statt finden müsse. – Sauer entschlummerte nach wenigen Jahren, ohne beßre Tage gesehn zu haben. Da ihn von außen das Glück ein wenig anlächelte, waren seine innern Kräfte zerstört; und er blieb unbemerkt und unbekannt bis an seinen Tod; so daß in der kleinen Gasse, wo er wohnte, seine nächsten Nachbaren, als man den Sarg hinaustrug, fragten: wer denn da begraben würde? Ein Grad des Nichtbemerktwerdens, der in einer so unbevölkerten Stadt, wie Erfurt, höchst auffallend ist.
Die wenigen Tage nun, welche Reiser mit dem Doktor Sauer in Erfurt verlebte, waren für ihn höchst wichtig, weil sie seiner Seele einen gewissen neuen Anstoß gaben: Er rafte sich gegen alle die Unterdrückungen zusammen, welche jenen Geist so sehr hatten lähmen können. Und der Unwille, den er darüber empfand, flößte ihm einen gewissen Trotz ein, auch dem Schwersten nicht zu unterliegen, und das gewissermaßen durch Widerstand zu rächen, was jener gelitten hatte.
Sie waren eines Tages nach einem Dorfe vor Erfurt zusammen spatzieren gegangen, und O... war mit von der Gesellschaft. – Als sie gegen Abend zurückkehrten, kamen sie an ein Gewässer, das mit dickem Gebüsch umgeben war, und schwarz zwischen seinen Ufern hinkroch. Hier blieb Sauer stehen, und suchte mit dem Stocke die Tiefe zu messen, die er aber nicht abreichen konnte. Er blieb stehen, und sahe mit untergeschlagenen Armen in das Wasser, und bemerkte die schwarze Fläche, und wie langsam fließend es dahin kröche. –
Das Bild wie Sauer mit blassen Wangen, und untergeschlagenen Armen, bedeutungsvoll in diesen Stygischen Fluß herunter blickte, kam Reisern lebhaft wieder vor die Seele, als er einige Jahre nachher die Nachricht von seinem Tode vernahm. – Denn wenn irgend ein bedeutendes Bild sich formte, wo Zeichen und Sache eines wurden, so war es hier.
Für Reisern aber eröfneten sich wieder fröliche Aussichten: denn die Studenten kamen auf den Einfall noch eine Komödie aufzuführen, weil sie an diesem Vergnügen nun einmal Geschmack bekommen hatten.
Die Stücke welche man wählte, waren der Argwöhnische und der Schatz von Lessing: in dem ersten erhielt Reiser wiederum zwei Frauenzimmerrollen, die er mit Umkleidung spielen mußte, und in dem andern die Rolle des Maskaril, und nun war sein Schauspielerkredit unter den Studenten schon so befestiget, daß man es als eine Gefälligkeit von ihm ansahe, wenn er diese Rollen übernehmen wollte, und er sich also auf keine Weise dazu drängen durfte.
Während daß nun die Veranstaltungen zu dieser zweiten theatralischen Vorstellung gemacht wurden, fieng Reiser zu gleicher Zeit eine Ausarbeitung über die Empfindsamkeit an, womit er zuerst als Schriftsteller auftreten wollte. In dieser Schrift sollte die affektirte Empfindsamkeit lächerlich gemacht, und die wahre Empfindsamkeit in ihr gehöriges Licht gestellt werden.
Die seynsollende Satire gegen die Empfindsamkeit gerieth nun freilich ziemlich grob, indem er sie mit einer Seuche verglich, vor der man sich zu hüten habe, und jedwedem der aus einer Gegend käme, wo die Empfindsamkeit herrschte, den Eingang in Städte und Dörfer versperren müsse.
Dieser Unwille war vorzüglich durch die empfindsamen Reisen, die nach und nach in Deutschland erschienen, und durch die vielen affektirten Nachahmungen von Werthers Leiden, bei Reisern erweckt worden, ob er sich gleich selber auch heimlich dieser Sünde anklagen mußte; um desto heftiger suchte er nun auch zugleich zu seiner eigenen Besserung, dagegen zu eifern.
Gerade, da er eines Abends an dieser Abhandlung schrieb, trat der Buchdrucker P... aus Hannover in die Stube, und brachte ihm einen Brief von Philipp Reisern. Dies war eben der Buchdrucker, für den er in Hannover eine Anzahl kleiner Neujahrwünsche verfertigt, und sich zum erstenmal in denselben gedruckt gesehen hatte.
Als Reiser den Buchdrucker vor die Thüre hinausbegleitete, drückte ihm dieser ein kleines Goldstück in die Hand, welches hinlänglich war, einen Menschen, der nun seit einigen Wochen schon ganz von Gelde entblößt war, und sich doch seinen Mangel nicht wollte merken lassen, auf einmal aus dem Staube zu heben.
Dies unvermuthete Geschenk erhielt noch einen größern Werth durch die Art, womit es gegeben wurde, indem der Buchdrucker P... die Worte hinzufügte: es sey diese Kleinigkeit eine alte Schuld, die er abtrüge, weil nehmlich Reiser Neujahrwünsche, Gedichte u. s. w. bloß der Ehre wegen in Hannover für ihn verfertigt hatte.
In Reisers Umständen hatte ein Goldgulden, woraus dies Geschenk bestand, für ihn einen unschätzbaren Werth, und riß ihn auf einmal aus einer Menge kleiner Verlegenheiten, die er keinem Menschen hätte sagen dürfen. Dies machte, daß er nun in Erfurt wirklich einige glückliche Tage erlebte, wo er eben durch nichts weder von innen noch außen gedrückt wurde, und auch in die Zukunft keine trübe Aussichten hatte.
Der Brief von Philipp Reisern war auch interessanter als der vorhergehende; denn er enthielt die Nachricht, das verschiedene von Reisers Mitschülern, welche mit ihm zugleich in Hannover Komödie gespielt hatten, seinem Beispiele gefolgt, und auch zum Theil heimlich fortgegangen wären, um sich dem Theater zu widmen.
Darunter war vorzüglich I... der im Klavigo den Beaumarchais gespielt hatte; der Sohn des Kantor W... – der Präfektus aus dem Chore, Nahmens O... und ein gewisser T..., eines Predigers Sohn, mit dem Reiser kurz vor seinem Abschiede, noch einige romantische Spatziergänge bei Hannover gemacht hatte. Nun fand Reiser eine sonderbare Art von Stolz darin, da er doch von allen diesen nachgeahmt war, daß er zuerst den Muth gehabt hatte, einen solchen Schritt zu thun.
Dann schrieb ihm Reiser in seinem überspannten Stiele, daß der Dichter Hölty in Hannover gestorben sey, und schloß am Ende mit den Worten: freue dich Dichter! weine Mensch! – Von dem Fortgange seines Liebesromans enthielt dieser Brief nur wenig.
Während daß nun Reiser mit den Rollen in der zweiten Komödie beschäftigt war, fand er einen neuen Freund in Erfurt, einen Studenten Nahmens N... aus Hamburg gebürtig, der bei dem Doktor Froriep im Hause wohnte, welcher ihm eine Abschrift von Reisers Gedichte, das Karthäuserkloster gezeigt, und dadurch dem Verfasser auf einmal einen neuen Freund verschaft hatte.
Dies wurde nun eine Freundschaft gerade von der empfindsamen Art, wogegen Reiser eine Abhandlung zu schreiben im Begriff war.
Der junge N... hatte wirklich ein gefühlvolles Herz, er ließ sich aber auch durch den Strom hinreißen, und spielte bei jeder Gelegenheit den Empfindsamen, ohne es selbst zu wissen; denn er eiferte sehr oft mit Reisern gegen das Lächerliche einer affektirten Empfindsamkeit – weil er aber nicht bloß vor andern empfindsam zu scheinen, sondern es für sich selber wirklich zu seyn suchte, so deuchte ihm das keine Affektation mehr, sondern er trieb dieß nun als eine ganz ernsthafte Sache, die keinen Spott auf sich leidet, und zog Reisern allmälig mit in diesen Wirbel hinüber, der die Seele so lange hinaufschraubt, bis sie in den abgeschmacktesten Zustand geräth, den man sich denken kann.
Reisern war es schon aufmunternd, daß ohngeachtet seiner dürftigen Umstände sich jemand an ihn schloß, dem es nicht an äußern Glücksgütern fehlte. – Nach und nach aber bildete sich bei ihm eine ordentliche Liebe und Anhänglichkeit an den jungen N..., welche durch dessen wahre Freundschaft für Reisern immer vermehrt wurde, so daß sie sich immer mehr, auch in ihren Thorheiten, einander näherten, und von ihrer Melancholie und Empfindsamkeit sich wechselsweise einander mittheilten.
Dieß geschahe nun vorzüglich auf ihren einsamen Spaziergängen, wo sie nur gar zu oft zwischen sich und der Natur eine Scene veranstalteten, indem sie etwa bei Sonnenuntergang die Jünger von Emaus aus dem Klopstock lasen, oder an einem trüben Tage, Zachariäs Schöpfung der Hölle, u. s. w.
Vorzüglich lagerten sie sich oft am Abhange des Steigerwaldes, von welchem man die Stadt Erfurt, mit ihren alten Thürmen und ihrem ganzen Umfange von Gärten, kann liegen sehen. Da hinauf gehen die Einwohner von Erfurt häufig spatzieren, machen sich auch wohl oben selbst ein kleines Feuer an, und kochen sich den Kaffe, um die patriarchalischen Ideen wieder zu erneuern.
Hier saßen nun auch N... und Reiser oft Stunden lang, und lasen sich aus irgend einem Dichter wechselsweise vor; welches die meiste Zeit eine wahre Mühe und Arbeit, und ein peinlicher Zustand für sie war, den sie sich aber einander nicht gestanden, um nur am Ende die Idee mit sich zu nehmen: «Wir haben am Steigerwalde freundschaftlich beieinander gesessen, haben von da in das anmuthsvolle Thal hinuntergeblickt, und dabei unsern Geist mit einem schönen Werke der Dichtkunst genährt.»
Wenn man erwägt, wie viele kleine Umstände sich ereignen müssen, um das Stillsitzen und Lesen unter freiem Himmel angenehm zu machen, so kann man sich denken, mit wie vielen kleinen Unannehmlichkeiten N... und Reiser bei diesen empfindsamen Scenen kämpfen mußten: wie oft der Boden feucht war, die Ameisen an die Beine krochen, der Wind das Blatt verschlug, u. s. w.
N... fand nun einen vorzüglichen Gefallen daran, Klopstocks Messiade Reisern ganz vorzulesen; bei der entsetzlichen Langenweile nun, die diese Lektüre beiden verursachte, und die sie sich doch einander, und jeder sich selber kaum zu gestehen wagten, hatte N... doch noch den Vortheil des lauten Lesens, womit ihm die Zeit vergieng: Reiser aber war verdammt zu hören, und über das Gehörte entzückt zu seyn, welches ihm mit die traurigsten Stunden in seinem Leben gemacht hat, deren er sich zu erinnern weiß, und welche ihn am meisten zurückschrecken würden, seinen Lebenslauf noch einmal von vorn wieder durchzugehen. Denn keine größere Quaal kann es wohl geben, als eine gänzliche Leerheit der Seele, welche vergebens strebt, sich aus diesem Zustande herauszuarbeiten, und unschuldigerweise sich selber in jedem Augenblicke die Schuld beimißt, und sich selber ihres Stumpfsinns anklagt, daß sie von den erhabenen Tönen, die unaufhörlich in ihre Ohren klingen, nicht gerührt und erschüttert wird.
Ob nun gleich N. . . und Reiser fast unzertrennlich beisammen waren, so sehnte sich der Letztre doch wieder nach einsamen Spatziergängen, die ihm immer das reinste Vergnügen gewähret hatten; allein dieß hatte er sich nun auch verleidet; denn gemeiniglich versprach er sich von einem solchen Spatziergange zu viel, und kehrte verdrießlich wieder zu Hause, wenn er nicht gefunden hatte, was er suchte; sobald das Dort nun Hier wurde, hatte es auch alle seinen Reiz verloren, und der Quell der Freude war versiegt. –
Der Verdruß, der dann in die Stelle der gereizten Hoffnung trat, war von einer so groben, gemeinen, und niedrigen Art, daß auch nicht der mindeste Grad von einer sanften Melancholie oder etwas dergleichen damit bestehen konnte. Es war ohngefähr die Empfindung eines Menschen, der ganz vom Regen durchnäßt ist, und indem er vor Frost schaudernd zu Hause kehrt, auch noch eine kalte Stube findet.
Ein solches Leben führte Reiser, und schrieb dabei immer an seiner Abhandlung gegen die falsche Empfindsamkeit fort, wobei er denn bei seinen einsamen Spaziergängen einmal eine sonderbare äußerung von Empfindsamkeit bei einem gemeinen Menschen bemerkte, bei dem er dieselbe am wenigsten erwartet hätte.
Er gieng nehmlich zwischen den Gärten von Erfurt spazieren, und da es gerade in der Pflaumenzeit war, so konnte er sich nicht enthalten, von einem überhangenden Aste, eine schöne reife Pflaume abzupflücken, welches der Eigenthümer des Gartens bemerkte, der ihn sehr unsanft mit den Worten anfuhr, ob er wohl wisse, daß die Pflaume, die er da abgepflückt hätte, ihm einen Dukaten kosten würde.
Reiser suchte abzudingen, mußte aber zugleich gestehen, daß er keinen Heller Geld bei sich habe. Um nun aber den Eigenthümer des Gartens wegen der geraubten Pflaume einigermaaßen zu befriedigen, mußte er ihm sein einziges gutes Schnupftuch aus der Tasche geben, dessen Verlust ihm sehr leid that.
Als er nun traurig weggieng, sah er, nachdem er nur wenige Schritte gethan hatte, ein schönes Einlegemesser vor sich auf der Erde liegen; er hob es geschwind auf, und rief den Gärtner wieder zurück, dem er einen Tausch antrug, ob er nicht für das gefundene Messer, ihm sein Schnupftuch zurück geben wolle?
Wie erstaunte Reiser, als nun der Gärtner, der vorher so grob gegen ihn gewesen war, ihm auf eimmal um den Hals fiel und küßte, und sich seine Freundschaft ausbat; weil Reiser nothwendig ein Günstling der Vorsehung seyn müsse, da sie ihn gerade das Messer habe finden lassen, welches niemand anders als der Gärtner selbst verlohren hatte, der nun Reiser sein Schnupftuch mit Freuden wieder gab, und ihn zugleich versicherte, daß sein Garten ihm zu jeder Zeit offen stände, um so viel Pflaumen, wie er wollte, zu pflücken, und daß er ihm in jeder Sache dienen würde, wo er nur könnte; denn ein so außerordentlicher Fall sey ihm noch nicht vorgekommen.
Als Reiser im Weggehen über diesen sonderbaren Zufall nachdachte, fiel er ihm um so mehr auf, weil dieß das erstemal in seinem Leben war, daß ihm ein eigentlich glückliches Ereigniß begegnete, wobei mehrere Umstände sich vereinigen mußten, die sich sonst selten zu vereinigen pflegen.
Sein Glück scheinet sich in dieser Kleinigkeit gleichsam ganz erschöpft zu haben, um ihn im Großen wieder destomehr büßen zu lassen, was er auf keine andre Weise, als durch sein Daseyn verschuldet hatte.
Es war, wie bei dem Landprediger von Wakefield, der einen ganz ungewöhnlich glücklichen Wurf mit den Würfeln that, indem er mit seinem Freunde um wenige Pfennige spielte, kurz vorher, ehe er die Nachricht von dem Banquerot des Kaufmanns erhielt, durch welchen er sein ganzes Vermögen verlohr.
Noch eine kleine Weile hielt das Schicksal die Demüthigungen zurück, welche es Reisern zugedacht hatte, und ließ ihn noch ungestört in seinem Vergnügen, das ihm nun die zweite Komödien-Aufführung gewährte, und worin ihm drei Rollen zu Theil geworden waren.
Sein sehnlichster Wunsch war doch also nun einigermaaßen erfüllt, ob er gleich in keiner tragischen Rolle hatte glänzen können. Und was noch mehr war, so hatte man eine Art von Zutrauen zu seinen theatralischen Einsichten, man fragte ihn um Rath, und er wurde nun durch seine Theilnehmung an der Komödie sowohl, als durch seine geschriebenen Gedichte, unter den Studenten noch mehr bekannt, die ihn mit Höflichkeit begegneten, welches ihm für seine Lage auf der Schule in H... ein angenehmer Ersatz war.
Dabei besuchte er nun fleißig die Universitätsbibliothek, wo er einen besondern Gefallen daran fand, des Du Halde Beschreibung von China zu studiren, und sehr viele Zeit damit verschwendete.
Grade damals erschien auch: Siegwart eine Klostergeschichte, und er las mit seinem Freunde R... s das Buch zu mehrerenmahlen durch, und beide thaten sich bei der entsetzlichsten Langenweile Zwang an, in der einmal angefangenen Rührung, alle drei Bände hindurch zu bleiben.
Am Ende hatte Reiser nichts weniger im Sinne, als die ganze Geschichte in ein historisches Trauerspiel zu bringen, wozu er würklich allerlei Entwürfe machte, und die schöne Zeit damit verschwendete.
Wenn es ihm dann nicht, wie er wünschte, gerathen wollte, so hatte er nach jeder vergebnen Anstrengung dieser Art, die trübseeligsten und widrigsten Stunden, die man sich nur denken kann. Die ganze Natur und alle seine eigenen Gedanken hatten dann ihren Reiz für ihn verlohren, jeder Moment war ihm drückend, und das Leben war ihm im eigentlichen Verstande eine Quaal.
Die Leiden der Poesie
Können daher wohl in jedem Betracht eine eigene Rubrik in Reisers Leidensgeschichte ausmachen, welche seinen innern und äußern Zustand in allen Verhältnissen darstellen sollen, und wodurch dasjenige gewiß werden soll, was bei vielen Menschen ihr ganzes Leben hindurch, ihnen selbst unbewußt, und im Dunkeln verborgen bleibt, weil sie Scheu tragen, bis auf den Grund und die Quelle ihrer unangenehmen Empfindungen zurückzugehen.
Diese geheimen Leiden waren es, womit Reiser beinahe von seiner Kindheit an, zu kämpfen hatte.
Wenn ihn der Reiz der Dichtkunst unwillkührlich anwandelte, so entstand zuerst eine wehmüthige Empfindung in seiner Seele, er dachte sich ein Etwas, worin er sich selbst verlohr, wogegen alles, was er je gehört, gelesen oder gedacht hatte, sich verlohr, und dessen Daseyn, wenn es nun würklich von ihm dargestellt wäre, ein bisher noch ungefühltes, unnennbares Vergnügen verursachen würde.
Nun war aber noch nicht ausgemacht, ob dieß ein Trauerspiel, oder eine Romanze, oder ein Elegisches Gedicht werden sollte; genug, es mußte etwas seyn, das würklich eine solche Empfindung erwekte, wovon der Dichter gewissermaaßen schon ein Vorgefühl gehabt hatte.
In den Momenten dieses seeligen Vorgefühls konnte die Zunge nur stammelnde einzelne Laute hervor bringen. Etwa wie die in einigen Klopstockschen Oden, zwischen denen die Lücken des Ausdrucks mit Punkten ausgefüllt sind.
Diese einzelnen Laute aber bezeichneten denn immer das Allgemeine von Groß, erhaben, Wonnethränen, und dergleichen. – Dieß dauerte denn so lange, bis die Empfindung in sich selbst wieder zurücksank, ohne auch nur ein paar vernünftige Zeilen, zum Anfange von etwas Bestimmten, ausgebohren zu haben.
Nun war also während dieser Krisis nichts Schönes entstanden, woran sich die Seele nachher hätte festhalten können, und alles andre, was würklich schon da war, wurde nun keines Blicks mehr gewürdiget. Es war, als ob die Seele eine dunkle Vorstellung von etwas gehabt hätte, was sie selbst nicht seyn konnte, und wodurch ihr eigenes Daseyn ihr verächtlich wurde.
Es ist wohl ein untrügliches Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß eine Empfindung im Allgemeinen zum Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die schon bestimmte Scene, die er dichten will, noch eher als diese Empfindung, oder wenigstens zugleich mit der Empfindung da ist. Kurz, wer nicht während der Empfindung zugleich einen Blick in das ganze Detaille der Scene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dichtungsvermögen.
Und gewiß ist nichts gefährlicher, als einem solchen täuschenden Hange sich zu überlassen; die warnende Stimme kann nicht früh genug dem Jüngling zurufen, sein Innerstes zu prüfen, ob nicht der Wunsch bei ihm an die Stelle der Kraft tritt, und weil er diese Stelle nie ausfüllen kann, ein ewiges Unbehagen die Strafe verbotenen Genusses bleibt.
Dieß war der Fall bei Reisern, der die besten Stunden seines Lebens durch mißlungene Versuche trübete, durch unnützes Streben, nach einem täuschenden Blendwerke, das immer vor seiner Seele schwebte, und wenn er es nun zu umfassen glaubte, plötzlich in Rauch und Nebel verschwand.
Wenn nun je der Reiz des Poetischen bei einem Menschen mit seinem Leben und seinen Schicksalen kontrastirte, so war es bei Reisern, der von seiner Kindheit an in einer Sphäre war, die ihn bis zum Staube niederdrückte, und wo er bis zum Poetischen zu gelangen, immer erst eine Stuffe der Menschenbildung überspringen mußte, ohne sich auf der folgenden erhalten zu können.
So gieng es ihm nun jetzt wieder in seiner äußerlichen Lage; er hatte eigentlich keine Stube für sich, sondern mußte, da es nun anfieng kälter zu werden, mit in der gemeinschaftlichen Stube wohnen, deren Einwohner, wenn ausgefegt wurde, so lange herausgehen mußten.
In dieser Stube wohnte die ganze Familie, nebst Reisern und noch einem Studenten, und jeder nahm seine Besuche von Fremden darin an; es wurde darin erzählt, von Kindern gelärmt, gesungen, gezankt und geschrieen; und dieß war nun die nächste Umgebung, worin Reiser seine philosophische Abhandlung über die Empfindsamkeit schreiben, und seine poetischen Ideale außer sich darstellen wollte.
Hier sollte also nun das Trauerspiel Siegwart geschrieben werden, das sich mit seiner Einkehr bei dem Einsiedler anhub, welches immer Reisers Lieblingsidee, und die Lieblingsidee fast aller jungen Leute zu seyn pflegt, welche sich einbilden, einen Beruf zur Dichtkunst zu haben.
Dieß ist sehr natürlich, weil der Zustand eines Einsiedlers gewissermaßen an sich selber schon Poesie ist, und der Dichter seinen Stoff schon beinahe vorgearbeitet findet.
Wer aber zuerst auf solche Gegenstände fällt, bei dem ist es auch fast immer ein Zeichen, daß bei ihm keine ächte poetische Ader statt finde, weil er die Poesie in den Gegenständen sucht, die in ihm selber schon liegen müßte, um jeden Gegenstand, der sich seiner Einbildungskraft darbietet, zu verschönern.
So ist die Wahl des Schrecklichen ebenfalls ein schlimmes Zeichen, wenn das vermeinte poetische Genie gleich zuerst darauf verfällt; denn freilich macht sich hier das Poetische auch schon von selber, und die innere Leerheit und Unfruchtbarkeit soll durch den äußern Stoff ersetzt werden.
Dieß war der Fall bei Reisern schon in H... auf der Schule, wo er Meineid, Blutschande und Vatermord, in einem Trauerspiele zusammenzuhäufen suchte, das der Meineid heißen sollte, und wobei er sich dann immer die wirkliche Aufführung des Stücks, und zugleich den Effekt dachte, den es auf die Zuschauer machen würde.
Dieß zweite Zeichen sollte ebenfalls für jeden, der sich wegen seines poetischen Berufes sorgfältig prüft, schon abschreckend seyn. Denn der wahre Dichter und Künstler findet und hofft seine Belohnung nicht erst in dem Effekt, den sein Werk machen wird, sondern er findet in der Arbeit selbst Vergnügen, und würde dieselbe nicht für verloren halten, wenn sie auch niemanden zu Gesicht kommen sollte. Sein Werk zieht ihn unwillkührlich an sich, in ihm selber liegt die Kraft zu seinen Fortschritten, und die Ehre ist nur der Sporn, der ihn antreibt.
Die bloße Ruhmbegier kann wohl die Begier einhauchen, ein großes Werk zu beginnen, allein die Kraft dazu kann sie dem nie gewähren, der sie nicht schon besaß, ehe er selbst die Ruhmbegier noch kannte.
Noch ein drittes schlimmes Zeichen ist, wenn junge Dichter ihren Stoff sehr gerne aus dem Entfernten und Unbekannten nehmen; wenn sie gern morgenländische Vorstellungsarten, und dergleichen bearbeiten, wo alles von den Scenen des gewöhnlichen nächsten Lebens der Menschen ganz verschieden ist; und wo also auch der Stoff schon von selber poetisch wird.
Dieß war denn auch der Fall bei Reisern; er gieng schon lange mit einem Gedicht über die Schöpfung schwanger, wo der Stoff nun freilich der allerentfernteste war, den die Einbildungskraft sich denken konnte, und wo er statt des Detail, vor dem er sich scheute, lauter große Massen vor sich fand, deren Darstellung man denn für die eigentlich erhabene Poesie hält, und wozu die unberufenen jungen Dichter immer weit mehr Lust haben, als zu dem, was dem Menschen nahe liegt; denn in dieß letztere muß freilich ihr Genie die Erhabenheit erst hereintragen, welche sie in jenem schon vor sich zu finden glauben.
Reisers äußere Lage wurde hiebei mit jedem Tage drückender, weil die gehofte Unterstützung aus H... nicht erfolgte, und seine Hausleute ihn immer mehr mit scheelen Blicken ansahen, je mehr sie inne wurden, daß er weder Geld besitze, noch welches zu hoffen habe. Sein Frühstück und Abendbrodt, was er hier genoß, war er nicht mehr im Stande zu bezahlen, und man ließ ihm deutlich merken, daß man nicht länger Willens sey, ihm zu borgen; da man also keinen Nutzen von ihm ziehen konnte, und er überdem ein trauriger Gesellschafter war, so war es natürlich, daß man seiner loß zu seyn wünschte, und ihm die Wohnung aufkündigte.
So wenig auffallend dieß nun an sich war, so tragisch nahm es Reiser. Der Gedanke des Lästigseyns, und daß er von den Leuten, unter denen er lebte, gleichsam nur geduldet würde, machte ihm wiederum seine eigene Existenz verhaßt. Alle Erinnerungen aus seiner Jugend und Kindheit drängten sich zusammen. Er häufte selber alle Schmach auf sich, und wollte verzweiflungsvoll sich einem blinden Schicksal aufs neue überlassen.
Er wollte noch an diesem Tage wieder aus Erfurt gehen, und tausenderlei romanhafte Ideen durchkreuzten sich in seinem Kopfe, worunter eine ihm besonders reizend schien, daß er in Weimar bei dem Verfasser von Werthers Leiden wollte Bedienter zu werden suchen, es sey unter welchen Bedingungen es wolle; daß er auf die Art gleichsam unerkannter Weise, so nahe um die Person desjenigen seyn würde, der unter allen Menschen auf Erden den stärksten Eindruck auf sein Gemüth gemacht hatte; er gieng vors Thor und blickte nach dem Ettersberge hinüber, der wie eine Scheidewand zwischen ihm und seinen Wünschen lag.
Nun gieng er zu Froriep, um Abschied von ihm zu nehmen, ohne ihm eine eigentliche Ursache sagen zu können, weswegen er Erfurt wieder verlassen wolle. Der Doktor Froriep schob diesen, Entschluß auf seine Melancholie, redete ihm zu, daß er bleiben solle, und entließ ihn nicht eher, bis Reiser ihm versprochen hatte, wenigstens heute und morgen noch nicht abzureisen.
Diese Theilnehmung an seinem Schicksale war nun zwar für Reisern wieder sehr schmeichelhaft; sobald er sich aber wieder allein fand, verfolgte der Gedanke des Lästigseyns in seiner nächsten Umgebung ihn wie ein quälender Geist, er hatte nirgends Ruhe noch Rast; streifte in den einsamsten Gegenden von Erfurt umher, in der Gegend des Karthäuserklosters, wohin er sich nun im Ernst, wie nach einem sichern Zufluchtsorte sehnte, und wehmüthig nach den stillen Mauern hinüberblickte.
Dann irrte er weiter umher, bis es Abend wurde, wo der Himmel sich mit Wolken überzog, und ein starker Regen fiel, der ihn bald bis auf die Haut durchnetzte. Der Fieberfrost, welcher sich nun zu den innern Unruhen seines Gemüths gesellte, trieb ihn in Sturm und Regen umher, bei altem Gemäuer und durch einsame öde Straßen; denn in seine bisherige Wohnung zurückzukehren, davon konnte er den Gedanken nicht ertragen.
Er stieg die hohe Treppe zu dem alten Dom himauf, band sich ein Tuch um den Kopf, und suchte sich unter altem Gemäuer eine Weile vor dem Regen zu schützen. Vor Müdigkeit fiel er hier in eine Art von betäubendem Schlummer, aus dem er durch einen neuen Regenguß, und durch das Getöse des Windes wieder erweckt wurde, und aufs neue durch die Straßen irrte.
Indem ihm nun der Regen ins Gesicht schlug, fiel ihm die Stelle aus dem Lear ein: to shut me out, in such a night as this!) (Die Thüren vor mir zu verschließen, in einer Nacht, wie diese !) Und nun spielte er die Rolle des Lear in seiner eigenen Verzweiflung durch, und vergaß sich in dem Schicksale Lears, der von seinen eigenen Töchtern verbannt, in der stürmischen Nacht umherirrt, und die Elemente auffordert, die entsetzliche Beleidigung zu rächen.
Diese Scene hielt ihn hin, daß er sich eine Zeitlang den Zustand, worin er war, mit einer Art von Wollust dachte, bis auch dieß Gefühl abgestumpft wurde, und ihm nun am Ende nichts als die leere Wirklichkeit übrig blieb, welche ihn in ein lautes Hohngelächter über sich selbst ausbrechen ließ.
In dieser Stimmung kehrte er wieder zu dem alten Dom zurück, der nun schon eröfnet war, und wo die Chorherren sich zur Frühmette bei Licht versammleten. Das alte gothische Gebäude, die wenigen Lichter, der Widerschein von den hohen Fenstern, machten auf Reisern, der die ganze Nacht umher geirrt war, und sich hier auf eine Bank niedersetzte, einen wunderbaren Eindruck. Er war, wie in einer Behausung, vor dem Regen geschützt, und doch war dies keine Wohnung für die Lebenden. Wer vor dem Leben selber eine Freystatt suchte, den schien dies dunkle Gewölbe einzuladen, und wer eine Nacht, wie Reiser die vergangene, durchlebt hatte, konnte wohl geneigt seyn, diesem Rufe zu folgen. Reiser fühlte sich auf der Bank im Dom in eine Art von Abgeschiedenheit und Stille versetzt, die etwas unbeschreiblich Angenehmes für ihn hatte, die ihn auf einmal allen Sorgen und allem Gram entrückte, und ihn das Vergangene vergessen machte. Er hatte aus dem Lethe getrunken, und fühlte sich in das Land des Friedens sanft hinüber schlummern. Dabei heftete sich immer sein Blick auf den blassen Widerschein von den hohen Fenstern, und dieser war es vorzüglich, welcher ihn in eine neue Welt zu versetzen schien: es war dieß eine majestätische Schlafkammer, in welcher er seine Augen aufschlug, nachdem er wild die Nacht durchträumt hatte.
Denn wie Träume eines Fieberkranken, waren freilich solche Zeitpunkte in Reisers Leben, aber sie waren doch einmal darin, und hatten ihren Grund in seinen Schicksalen von seiner Kindheit an. Denn war es nicht immer Selbstverachtung, zurückgedrängtes Selbstgefühl, wodurch er in einen solchen Zustand versetzt wurde? Und wurde nicht diese Selbstverachtung durch den immerwährenden Druck von außen bei ihm bewirkt, woran freilich mehr der Zufall schuld war, als die Menschen.
Als der Tag angebrochen war, kehrte Reiser mit ruhigerm Gemüthe aus dem Dom zurück, und begegnete auf der Straße seinem Freunde N..., der schon früh ein Collegium besuchte, und welcher erschrak, da er Reisern ins Gesicht sahe, so sehr hatte diese Nacht ihn abgemattet und entstellt.
N... ruhete nicht eher, bis Reiser ihm seinen ganzen Zustand entdeckt hatte. Nach freundschaftlichen Vorwürfen, daß Reiser nicht mehr Zutrauen zu ihm gehabt, brachte er ihn wieder nach seiner alten Wohnung, suchte ihn dort den Leuten in einem andern Lichte darzustellen, und tilgte die geringe Schuld seines Freundes.
Diese aufrichtige Theilnehmung seines Freundes stärkte bei Reisern wieder das erkrankte Selbstgefühl; er war gewissermaßen stolz auf seinen Freund, und ehrte sich in ihm.
Nun bedung er sich aus, um allein seyn zu können, einen Verschlag auf dem Boden des Hauses zu beziehen, wohin man ihm auch ein Bette gab, und wo er nun wieder, ganz sich selbst gelassen ein paar nicht unangenehme Wochen zubrachte.
Er laß und studirte hier oben, und würde in dieser Abgezogenheit völlig glücklich gewesen seyn, wenn ihn sein Gedicht über die Schöpfung nicht gequält hätte, welches machte, daß er oft wieder in eine Art von Verzweiflung gerieth, wenn er Dinge ausdrücken wollte, die er zu fühlen glaubte, und die ihm doch über allen Ausdruck waren.
Was ihm die meiste Qual machte, war die Beschreibung des Chaos, welche beinahe den ganzen ersten Gesang seines Gedichts einnahm, und worauf er mit seiner kranken Einbildungskraft am liebsten verweilen mochte, aber immer für seine ungeheuren und grotesken Vorstellungen keine Ausdrücke finden konnte.
Er dachte sich eine Art von falscher täuschender Bildung in das Chaos hinein, welche im Nu wieder zum Traum und Blendwerk wurde; eine Bildung die weit schöner, als die wirkliche, aber eben deswegen von keinem Bestand, und keiner Dauer war.
Eine falsche Sonne stieg am Horizont herauf und kündigte einen glänzenden Tag an. – Der bodenlose Morast überzog sich unter ihrem trügerischen Einfluß mit einer Kruste auf welcher Blumen sproßten, Quellen rauschten; plötzlich arbeiteten sich die entgegenstrebenden Kräfte aus der Tiefe empor, der Sturm heulte aus dem Abgrunde, die Finsterniß brach mit allen ihren Schrecknissen aus ihrem verborgenen Hinterhalt hervor, und verschlang den neugebornen Tag wieder in ein furchtbares Grab. Die immer in sich selbst zurückgedrängten Kräfte bearbeiteten sich mit Grimm nach allen Seiten sich auszudehnen, und seufzten unter dem lastenden Widerstande. Die Wasserwogen krümmten sich und klagten unter dem heulenden Windstoß. In der Tiefe brüllten die eingeschlossenen Flammen, das Erdreich das sich hob, der Felsen der sich gründete, versanken mit donnerndem Getöse wieder in den alles verschlingenden Abgrund. –
Mit dergleichen ungeheuren Bildern, zerarbeitete sich Reisers Phantasie in den Stunden, wo sein Innres selber ein Chaos war, in welchem der Strahl des ruhigen Denkens nicht leuchtete, wo die Kräfte der Seele ihr Gleichgewicht verlohren, und das Gemüth sich verfinstert hatte; wo der Reiz des Wirklichen vor ihm verschwand, und Traum und Wahn ihm lieber war, als Ordnung, Licht und Wahrheit.
Und alle diese Erscheinungen gründeten sich gewissermaßen wieder in dem Idealismus, wozu er sich schon natürlich neigte, und worin er durch die philosophischen Systeme, die er in H... studierte sich noch mehr bestärkt fand. Und auf diesem bodenlosen Ufer fand er nun keinen Platz wo sein Fuß ruhen konnte. Angstvolles Streben und Unruhe verfolgten ihn auf jedem Schritte.
Dieß war es, was ihn aus der Gesellschaft der Menschen auf Böden und Dachkammern trieb, wo er oft in phantastischen Träumen noch seine vergnügtesten Stunden zubrachte, und dieß war es was ihm zugleich für das Romantische, und Theatralische, den unwiderstehlichen Trieb einflößte.
Durch seinen gegenwärtigen innern und äußern Zustand, war er nun wiederum ganz und gar in der idealischen Welt verlohren, was Wunder also, daß bey der ersten Veranlassung seine alte Leidenschaft wieder Feuer fing, und er wiederum seine Gedanken auf das Theater heftete, welches bey ihm nicht sowohl Kunstbedürfniß, als Lebensbedürfniß war.
Diese Veranlassung ereignete sich sehr bald, da die Sp... sche Schauspielertruppe nach Erfurt kam, und Erlaubniß erhielt, auf dem Ballhause zu spielen, wo auch die Studenten ihre Komödien aufgeführt hatten.
Reiser war hier schon einmal bekannt, und hatte sogar einen gewissen Ruf wegen seiner Schauspielertalente erhalten, wodurch er dem Principal dieser kleinen Truppe sogleich bekannt wurde, der ihn engagiren wollte, so bald er Lust hätte Schauspieler zu werden.
Diese Versuchung, daß ihm das, wornach er mit allen Mühseeligkeiten des Lebens kämpfend vergeblich gestrebt hatte, nun auf einmal wie von selbst sich anbot, war für Reisern zu stark. Er setzte jede Rücksicht aus den Augen, und lebte und webte nur in der Theaterwelt, für die er nun wieder wie in H... bis auf den Komödienzettel enthusiastische Verehrung hegte, und die Mitglieder bis auf den Soufleur und Rollenschreiber mit einer Art von Neid betrachtete.
Einer Nahmens B... der sich damals unter dieser Truppe befand, und nachher ein berühmter Schauspieler geworden ist, zog am meisten seine Neugier auf sich. Er zeichnete sich unter den Mitgliedern dieser Truppe am vorzüglichsten aus, und Reiser wünschte nichts sehnlicher als seine Bekanntschaft zu machen, welches ihm auch nicht schwer wurde; er entdeckte diesem B... seinen Wunsch, der ihn denn auch in seinem Entschluß, sich dem Theater zu widmen, bestärkte, und an welchem Reiser nun zugleich einen Freund zu finden hofte.
Er setzte nun jede Rücksicht bei Seite; suchte den Gedanken an den D. Froriep und an seinen Freund N..., so viel wie möglich vor sich selber zu verbergen; und engagierte sich, ohne jemanden etwas davon zu sagen, bey dem Prinzipal der Truppe; er hatte den Muth und die Hofnung in der ersten Rolle sich so zu zeigen, daß jedermann seinen Entschluß billigen würde.
Nun kam es auf die erste Rolle an, worin er auftreten sollte; und zufälliger Weise traf es sich, daß in einigen Tagen die Poeten nach der Mode gespielt werden sollten, worin man ihm eine Rolle antrug.
Er wünschte sich, den Dunkel zu spielen, und hatte die Rolle schon auswendig gelernt, als sein neuer Freund, der Schauspieler B... ihm davon abrieth, weil er selbst immer diese Rolle gespielt habe, und sie ihm vorzüglich gut gelungen sey, Reiser möchte also lieber den Reimreich übernehmen, weil ein wenig bedeutender Schauspieler diese Rolle besitze.
Reiser ließ sich auch dieß sehr gern gefallen, weil er durch den Maskaril und den Magister Blasius, welche Rollen er doch beide mit Beifall gespielt, sich auch einige Stärke im Komischen zutrauete.
Er schrieb sich also seine Rolle auf, und lernte sie auswendig. Er war wirklich in der Aussicht auf seine theatralische Laufbahn vollkommen glücklich, als eine Bemerkung, die unter diesen Hofnungen die fürchterlichste für ihn war, ihn mit Angst und Schrecken erfüllte. Ihm war es, wie einem, den des Satans Engel mit Fäusten schlüge: er bemerkte, daß ihm der Verlust seines Haars drohte.
Gerade jetzt also, da er einen Körper ohne Fehl am nothwendigsten brauchte, betraf ihn dieser Zufall, der ihn schon im Voraus gegen sich selber mit Abscheu erfüllte.
Er eilte in dieser Noth zu seinem treuen Freunde, dem Doktor Sauer, der ihm zu der Erhaltung seiner Haare wieder Hofnung machte; und so fand er sich denn am Abend, wo die Poeten nach der Mode aufgeführt werden sollten, in der Garderobe hinter den Kulissen ein, und kleidete sich komisch genug, um den Reimreich, in seinem lächerlichsten Lichte darzustellen; sein Name stand an diesem Tage schon auf dem Komödienzettel an allen Ecken mit angeschlagen.
Als das Schauspiel bald angehen sollte, kam sein Freund N... auf das Theater, und machte ihm die bittersten Vorwürfe; Reiser ließ sich durch nichts in dem Taumel seiner Leidenschaft stören, und war ganz in seiner Rolle vertieft, woran sogar sein Freund N... zuletzt mit Theil nahm, und über seinen komischen Anzug lachte, als auf einmal ein Bote erschien, welcher dem Prinzipal ankündigte, daß der Doktor Froriep sogleich zum Stadthalter fahren, und Beschwerde über ihn führen würde, wofern er es wagte, den Studenten, dessen Nahme auf dem Komödienzettel gedruckt stände, das Theater betreten zu lassen; Verlust seiner Konzession hier zu spielen, würde die unausbleibliche Folge davon seyn.
Reiser stand wie versteinert da, und der Prinzipal wußte in der Angst nicht, wozu er greifen sollte, bis sich ein Schauspieler erbot, die Rolle des Reimreich, so gut es gehen wollte, nach dem Soufleur zu spielen; denn man pochte schon im Parterre, daß der Vorhang sollte aufgezogen werden.
Wüthend gieng Reiser hinter den Kulissen auf und ab, und zernagte seine Rolle, die er in der Hand hielt. Dann eilte er, so schnell wie möglich, aus dem Schauspielhause, und durchirrte wieder alle Straßen bei dem stürmischen und regnigten Wetter, bis er gegen Mitternacht auf einer bedeckten Brücke, die ihn vor dem Regen schützte, vor Mattigkeit sich niederwarf, und eine Weile ausruhte, worauf er wieder umherirrte, bis der Tag anbrach.
Diese äußersten Anstrengungen der Natur, waren das einzige, was ihm das Verlohrne in dem ersten bittersten Schmerz darüber einigermaßen ersetzen konnte. Das fortdauernde Leidenschaftliche dieses Zustandes hatte in sich etwas, das seiner unbefriedigten Sehnsucht wieder neue Nahrung gab. Sein ganzes mißlungenes theatralisches Leben drängte sich gleichsam in diese Nacht zusammen, wo er alle die leidenschaftlichen Zustände in sich durchgieng, die er außer sich nicht hatte darstellen können.
Am andern Tage ließ ihn der Doktor Froriep zu sich kommen, und redete ihm, wie ein Vater zu. Er bediente sich des schmeichelhaften Ausdrucks, daß Reisers Anlagen ihn zu etwas Besserm als zu einem Schauspieler bestimmten, daß er sich selbst verkennte, und seinen eigenen Werth nicht fühlte. –
Da nun Reiser doch die Unmöglichkeit einsah, seinen Wunsch in Erfurt zu befriedigen, so täuschte er sich wiederum, und überredete sich selber, daß er freiwillig der Idee sich dem Theater zu widmen entsage, weil sich alles gleichsam vereinigte, um seinen Entschluß zu hintertreiben, und die Art, wie der Doktor Froriep ihn davon abmahnte, zugleich so viel Schmeichelhaftes für ihn hatte.
Kaum aber war er wieder für sich allein, so rächte sich seine Selbsttäuschung durch erneuerten bittern Unmuth, Unentschlossenheit, und Kampf mit sich selber, bis nach einigen Tagen, ihn der härteste Schlag traf, den er noch immer zu vermeiden hofte, er mußte sein Haar verlieren.
Der Gedanke nunmehro in einer Perucke, welches unter den Erfurter Studenten ganz etwas Ungewöhnliches war, erscheinen zu müssen, war ihm unerträglich. Mit dem wenigen Gelde, was er noch übrig hatte, gieng er an das äußerste Ende der Stadt, wo er sich in einem Gasthof einquartierte, in welchem er aber nur schlief, und des Abends sich etwas Bier und Brodt geben ließ, um desto länger mit seinem Gelde zu reichen.
Bei Tage gieng er größtentheils in öden Gegenden umher, suchte, wenn es regnete, in den Kirchen Schutz, und brachte auf die Weise beinahe vierzehn Tage zu, in welcher Zeit niemand wußte, wo er geblieben war; bis endlich denn doch einer seiner Freunde ihn ausspähte, und er auf einmal von N... O... W... und noch einigen, die sich für ihn interessirten, in dem Gasthofe unvermuthet überrascht, und über seine Entfernung ihm freundschaftliche Vorwürfe gemacht wurden.
Er konnte nun sein Haar vor der Stirn über die Perucke schon etwas überkämmen, und wenn er sich dann stark puderte, so hatte es einigermaßen den Anschein, als ob er eigenes Haar trüge. Er entschloß sich also mit den Freunden, die ihn abholten, wieder in die menschliche Gesellschaft zu gehen, aber er wollte auch so viel wie möglich, nur unter ihnen seyn, und wünschte auch auf alle Weise entfernt und einsam zu wohnen.
Auch diesen Wunsch suchte man ihm zu gewähren. Der gutmüthige W... sprach gleich mit seinem Onkel, dem damaligen Regierungsrath und Professor Springer in Erfurt, und stellte ihm Reisers Zustand, und sein Bedürfniß einer einsamen Wohnung lebhaft vor.
Der Regierungsrath Springer ließ Reisern zu sich kommen, und wenn dieser jemals aufmunternd angeredet, und mit wahrer Theilnehmung aufgenommen wurde, so war es von diesem Manne, gegen welchen Reiser die innigste Zuneigung und Verehrung faßte.
Er las damals ein statistisches Kollegium, welches Reiser ein paarmal mit anhörte, und da ihn die Sache sehr interessirte, vom R. Springer aufgefordert wurde, sich diesem Fache zu widmen, wobei er ihn auf alle mögliche Weise unterstützen wolle.
Den Anfang dieser Unterstützung machte nun der R. Springer sogleich damit, daß er Reisern, seinem Wunsche gemäß, eine einsame Wohnung gab, indem er ihm sein eigenes Gartenhaus einräumte, wozu Reiser den Schlüssel bekam, und wo er aus seinem Fenster die schönste Aussicht über einen Theil der aneinandergränzenden Gärten hatte, welche ganz Erfurt umgaben.
Reiser genoß auch wieder seinen Freitisch, der Doktor Froriep nahm sich seiner auf das thätigste an, und suchte ihm auf alle Weise Unterstützung zu verschaffen; er fing sogar an mathematische Kollegia zu hören, seine guten Freunde zogen ihn mit zu allen ihren litterarischen Zusammenkünften, und lasen ihm zum Theil ihre Ausarbeitungen vor, so daß die Sache nunmehro im besten Gange war, wenn ein neuer unglücklicher Anfall von Poesie nicht alles wieder verdorben hätte.
Zuerst mochte wohl sein neuer Aufenthalt in der einsamen romantischen Wohnung nicht wenig dazu beitragen, seine Einbildungskraft aufs neue zu erhitzen. Dann kam ein Brief dazu, den er an Philipp Reisern in Hannover schrieb, und welcher seinen Rückfall beschleunigte.
Dieß Schreiben war denn ganz im Tone der Wertherschen Briefe abgefaßt. Die patriarchalischen Ideen mußten auch auf alle Weise wieder erweckt werden, nur Schade, daß es hier nicht wohl ohne Affektation geschehen konnte.
Denn um diesen Brief schreiben zu können, schafte sich Reiser erst einen Theetopf an, und lieh sich eine Tasse, und weil er kein Holz im Hause hatte, kaufte er sich Stroh, welches man in Erfurt zum Brennen braucht, um sich selber in seinem Stübchen, in dem kleinen Öfchen seinen Thee zu kochen, womit er endlich, nachdem er vor Rauch beinahe erstickt war, zu Stande kam.
Und als dieß nun nur erst einmal geschehen war, so schrieb er gleichsam triumphirend an Philipp Reisern.
Jetzt, mein Lieber! bin ich in einer Lage, welche ich mir nicht reitzender wünschen könnte. Ich blicke aus meinem kleinen Fenster über die weite Flur hinaus, sehe ganz in der Ferne eine Reihe Bäumchen auf einem kleinen Hügel hervorragen, und denke an Dich, mein Lieber u. s. w. Ich habe die Schlüssel dieser einsamen Wohnung, und bin hier Herr im Haus' und Garten, u.s.w. Wenn ich denn manchmal so da sitze, an dem kleinen öfchen, und mir selbst meinen Thee koche, u.s.w.
In dem Tone gieng es fort, und ward ein stattlicher und langer Brief; und als nun Reiser es nicht über das Herz bringen konnte, diesen schönen Brief nicht auch seinem kritischen Freunde, dem Doktor Sauer zu zeigen: so verdarb dieser vollends die Sache, indem er ihm nach seiner gutmüthigen Höflichkeit das Kompliment machte: wenn ihm Reisers Gegenwart nicht selbst zu lieb wäre, so würde er wünschen, entfernt zu seyn, um nur solche Briefe von Reisern zu erhalten.
Und nun war auf einmal, der beinahe zur Ruhe gebrachte Dichtungstrieb bei Reisern wieder angefacht. Er suchte nun zuerst sein Gedicht über die Schöpfung vollends durch das Chaos durchzuführen, und hub mit neuer Quaal an, in der Darstellung von gräßlichen Widersprüchen und ungeheuren labyrinthischen Verwickelungen der Gedanken sich zu verlieren, bis endlich folgende beide Hexameter, die er aus der Bibel nahm, ihn aus einer Hölle von Begriffen erlößten.
Auf dem stillen Gewässer rauschte die Stimme des Ewigen
Sanft daher, und sprach: es werde Licht! und es ward Licht.
Merkwürdig war es daß ihm nun die Lust vergieng, dieß Gedicht weiter fortzuführen, sobald der Stoff nicht fürchterlich mehr war. Er suchte also nun einen Stoff aus, der immer fürchterlich bleiben mußte, und den er in mehreren Gesängen bearbeiten wollte; was konnte dieß wohl anders seyn, als der Tod selber!
Dabei war es ihm eine schmeichelhafte Idee, daß er, als ein Jüngling, sich einen so ernsten Gegenstand zu besingen wählte; daher hub er denn auch sein Gedicht an:
Ein Jüngling, der schon früh den Kelch der Leiden trank, u. s. w.
Als er nun aber zum Werke schritt, und den ersten Gesang seines Gedichts, wovon er den Titel schon recht schön hingeschrieben hatte, wirklich bearbeiten wollte, fand er sich in seiner Hofnung einen Reichthum von fürchterlichen Bildern vor sich zu finden, auf das Bitterste getäuscht.
Die Flügel sanken ihm, und er fühlte seine Seele wie gelähmt, da er nichts, als eine weite Leere, eine schwarze Öde vor sich erblickte, wo sich nun nicht einmal das vergeblich aufarbeitende Leben, wie bei der Schilderung des Chaos anbringen ließ, sondern eine ewige Nacht alle Gestalten verdeckte, und ein ewiger Schlaf alle Bewegungen fesselte.
Er strengte mit einer Art von Wuth seine Einbildungskraft an, in diese Dunkelheit Bilder hineinzutragen, allein sie schwärzten sich, wie auf Herkules Haupte die grünen Blätter seines Pappelkranzes, da er sich, um den Cerberus zu fangen, dem Hause des Pluto nahte. Alles was er niederschreiben wollte, löste sich in Rauch und Nebel auf, und das weiße Papier blieb unbeschrieben.
über diesen immer wiederholten vergeblichen Anstrengungen eines falschen Dichtungstriebes, erlag er endlich, und verfiel selbst in eine Art von Lethargie und völligem Lebensüberdruß.
Er warf sich eines Abends mit den Kleidern aufs Bette, und blieb die Nacht und den ganzen folgenden Tag in einer Art von Schlafsucht liegen, aus der ihn erst am Abend des folgenden Tages, wo es gerade Weihnachten war, ein Bote von seinem Gönner dem Regierungsrath Springer weckte, dessen Frau an Reisern ein sehr großes Weihnachtsbrodt zum Geschenk übersandte.
Dieß war nun gerade, was ihn in seiner unwiderstehlichen Schlafsucht noch bestärkte. Er schloß sich mit diesem großen Brodte ein, und lebte vierzehn Tage davon, weil er nur wenig genoß, indem er Tag und Nacht, wo nicht in einem immerwährenden Schlafe, doch, die letzten Tage ausgenommen, in einem beständigem Schlummer, im Bette zubrachte. Hiezu kam nun freilich der Umstand, daß er kein Holz hatte, um einzuheizen; er hätte aber auch nur ein Wort sagen dürfen, um dies Bedürfniß zu befriedigen, wenn es ihm nicht gewissermaßen selbst lieb gewesen wäre, den Mangel des Holzes als einen Beweggrund zu dieser sonderbaren Lebensart vorschützen zu können.
Reiser wurde in diesem Zustande auch von seinen Freunden nicht gestört, weil er gegen diese oft den Wunsch geäußert hatte, daß er nur einmal ein paar Wochen lang ganz einsam zu seyn wünschte.
Nun hatte aber dieser Zustand eine sonderbare Wirkung auf Reisern: die ersten acht Tage brachte er in einer Art von gänzlicher Abspannung und Gleichgültigkeit zu, wodurch er den Zustand, den er vergeblich zu besingen gestrebt hatte, nun gewissermaßen in sich selber darstellte. Er schien aus dem Lethe getrunken zu haben, und kein Fünckchen von Lebenslust mehr bei ihm übrig zu seyn.
Die letztern acht Tage aber, war er in einem Zustande, den er, wenn er ihn isoliert betrachtet, unter die glücklichsten seines Lebens zählen muß.
Durch die lange fortdaurende Abspannung hatten sich allmälig die schlafenden Kräfte wieder erholt. Sein Schlummer wurde immer sanfter; durch seine Adern schien sich ein neues Leben zu verbreiten; seine jugendlichen Hofnungen erwachten wieder eine nach der andern; Ruhm und Beifall krönten ihn wieder; schöne Träume ließen ihn in eine goldne Zukunft blicken. Er war von diesem langen Schlafe wie berauscht, und fühlte sich in einem angenehmen Taumel, so oft er von dem süßen Schlummer ein wenig aufdämmerte. Sein Wachen selber war ein fortgesetzter Traum,; und er hätte alles darum gegeben in diesem Zustande ewig bleiben zu dürfen.
Wenn er daher die gefrornen Fenster ansah, so war ihm dieß der angenehmste Anblick, weil er dadurch genöthigt wurde, immer noch einen Tag länger im Bette zu bleiben. Sein großes Brodt auf dem Tische betrachtete er wie ein Heiligthum, das er so sehr wie möglich schonen mußte, weil von der Dauer dieses Brodts mit die Dauer seines glücklichen Zustandes abhing.
Nun fühlte er sich aber auch wieder, sobald es gelten sollte, zu nichts zu schwach. Das Theater stand wieder so glänzend wie jemals vor ihm da; alle die theatralischen Leidenschaften durchstürmten wieder eine nach der andern seine Seele, und die Gemüther der Zuschauer wurden durch sein Spiel erschüttert.
Als nun sein Brodt verzehrt war, stand er gegen Abend auf, ordnete seinen Anzug so gut wie möglich, und sein erster Gang war ins Theater, wo er sich in einen Winkel setzte, und erstlich ein Stück Namens Inkle und Yariko, alsdann aber die Leiden des jungen Werthers aufführen sahe. Der Verfasser des letztern hatte fast nichts gethan, als die wertherschen Briefe in Dialogen und Monologen verwandelt, die denn freilich sehr lang wurden, aber doch das Publikum sowohl als die Schauspieler wegen des rührenden Gegenstandes, außerordentlich interessirten.
Nun ereignete sich aber gerade bei der tragischen Katastrophe des letztern Stücks ein sehr komischer Zufall. Man hatte sich nehmlich irgendwo ein paar alte verrostete Pistolen geliehen, und war zu nachläßig gewesen, sie vorher zu probiren.
Der Akteur, welcher den Werther spielte nahm sie vom Tische auf, und sagte denn alles, wie es im Werther steht, buchstäblich dabei:«Deine Hände haben sie berührt; du hast selber den Staub davon abgeputzet, u. s. w.»
Dann hatte er sich auch, um alles genau und vollständig darzustellen, einen Schoppen Wein und Brodt bringen lassen, wozu denn der Aufwärter nicht ermangelte auch ein Brodtmesser auf den Tisch zu legen.
Am Ende aber war das Stück so eingerichtet, daß Werthers Freund Wilhelm, indem er den Schuß fallen hörte, hereinstürzen, und ausrufen mußte: Gott! ich hörte einen Schuß fallen! Dieß war alles recht schön; als aber Werther das unglückliche Pistol ergrif, es an die rechte Stirne hielt, und auf sich losdrückte, so versagte es ihm in seiner Hand.
Durch diesen widrigen Zufall noch nicht aus der Fassung gebracht, schleuderte der entschlossene Schauspieler das Pistol weit von sich weg, und rief pathetisch aus: auch diesen traurigen Dienst willst du mir versagen? Dann ergrif er plötzlich die andere, drückte sie wie die erste loß, und o Unglück! auch diese versagte ihm.
Nun erstarb ihm das Wort im Munde; mit zitternden Händen ergrif er das Brodmesser das zufälliger Weise auf dem Tische lag, und durchstach sich damit zum Schrecken aller Zuschauer Rock und Weste. – Indem er nun fiel, stürzte sein Freund Wilhelm herein, und rief –«Gott! ich hörte einen Schuß fallen!»
Schwerlich kann wohl eine Tragödie sich komischer wie diese schließen. – Dieß brachte aber Reisern nicht aus seiner hochschwebenden Phantasie, vielmehr bestärkte es ihn darin, weil er so etwas Unvollkommenes vor sich sahe, das durch etwas Vollkommenes ersetzt werden mußte.
Er hörte, daß in acht Tagen die Schauspieler von Erfurt abreisen, und nach Leipzig gehen würden, er hörte ferner daß der geschickteste Schauspieler unter dieser Truppe Nahmens B... einen Ruf nach Gotha erhalten hätte; er hatte also nun keinen Nebenbuhler mehr zu fürchten; Leipzig war der Ort um zu glänzen; seine Perucke konnte er sehr geschickt unter den wiedergewachsenen Haaren verbergen. Wie viele neue Gründe um der Leidenschaft, die schon vorher da war, und nur eine Weile geschlummert hatte, aufs neue über die Vernunft den Sieg zu geben.
Er machte seinen Freunden sogleich den Entschluß bekannt, daß er gesonnen sey, mit der Sp... schen Truppe nach Leipzig zu gehen, daß er einen unwiderstehlichen Trieb in sich fühle, der ihn unglücklich machen würde, wenn er ihn überwinden wollte, und der ihn in allen seinen Unternehmungen doch immerfort hindern würde.
Er stellte seine Gründe so leidenschaftlich und stark vor, daß selbst sein Freund N... ihm nichts dagegen sagen konnte, der ihm sonst schon die reizendsten Schilderungen gemacht hatte, wie sie im künftigen Frühling wieder auf dem Steigerwalde den Klopstock lesen würden u. s.w.
Reiser hielt sich nun schon bei den Schauspielern auf, und brachte dem Regierungsrath Springer den Schlüssel zu dem Gartenhause wieder, indem er ihm auf das Lebhafteste seinen unglücklichen Zustand schilderte, wenn er den Trieb zum Theater unterdrücken wollte.
Der R. Springer behandelte Reisern auch hier noch auf die toleranteste Art. Er rieth ihm selber, wenn der Trieb bei ihm so unwiderstehlich sey, demselben zu folgen, weil dieser Trieb, der immer wiedergekehrt war, vielleicht einen wahren Beruf zur Kunst in sich enthielte, dem er sich alsdann nicht entziehen solle. Wäre aber das Gegentheil, und sollte Reiser sich selber täuschen, und in seiner Unternehmung nicht glücklich seyn, so möchte er sich unter jeden Umständen und in jeder Lage, dreist wieder an ihn wenden, und seiner Hülfe versichert seyn.
Reiser nahm mit so gerührtem Herzen Abschied, daß er kein Wort vorbringen konnte, so sehr hatte die Großmuth und Nachsicht dieses Mannes sein Gemüth bewegt. Er machte sich selber beim Weggehen die bittersten Vorwürfe, daß er sich einer solchen Liebe und Freundschaft jetzt nicht würdiger zeigen konnte.
Als nun Reiser um Abschied zu nehmen, zum Doktor Froriep kam, welcher seinen Entschluß durch N... schon wußte, so wurde er von diesem eben so nachsichtsvoll, wie von seinem andern Gönner behandelt; und der Doktor Froriep erklärte sich, daß er seinen Entschluß ihm nicht nur nicht widerrathen, sondern ihn vielmehr darin bestärken würde, wenn die Schaubühne schon in dem Maße eine Schule der Sitten wäre, als sie es eigentlich seyn könnte, und seyn sollte.
Eine kleine Ironie fügte er denn doch am Ende nicht ohne Grund hinzu, indem er zu seiner kleinen Tochter, die er auf dem Arme trug, sagte: wenn du groß bist, so wirst du denn auch einmal von dem berühmten Schauspieler Reiser hören, dessen Nahme in ganz Deutschland berühmt ist! Aber auch diese sehr wohlgemeinte Ironie blieb bei Reisern fruchtlos, der sich demohngeachtet mit inniger Rührung und bittern Vorwürfen gegen sich selber an alles das erinnerte, was der Doktor Froriep für ihn schon gethan hatte, und wovon er nun selbst den Endzweck vereitelte.
Allein es schien ihm nunmehro Pflicht der Selbsterhaltung, allen diesen innern Vorwürfen kein Gehör zu geben, weil er sich fest überzeugt glaubte, daß er der unglücklichste Mensch seyn würde, wenn er seiner Neigung nicht folgte.
Die Sp... sche Truppe aber war die letzten Wochen, wegen Mangel an Einnahme in die äußerste Armuth gerathen. Der Direktor Sp... reißte mit der Garderobe allein nach Leipzig voraus, und von den übrigen Schaupielern mußte ein jeder selbst zusehen, daß er so gut wie möglich den Ort seiner Bestimmung erreichte, einige reisten zu Pferde, andere zu Wagen, und noch andere zu Fuß, nachdem es die Umstände eines jeden erlaubten, denn die gemeinschaftliche Kasse war längst erschöpft: in Leipzig aber hofte man nun, bald sich wieder zu erholen.
Reiser machte sich denn auch denselben Nachmittag, wo er Abschied genommen hatte, zu Fuß auf den Weg, und sein Freund N... begleitete ihn zu Pferde bis nach dem nächsten Dorfe auf dem Wege nach Leipzig, wo N... am künftigen Sonntage predigen wollte.
Nachdem sie im Gasthofe eingekehrt waren, und sich noch einmal aller der seligen Scenen erinnert hatten, die sie genossen haben wollten, wenn sie am Abhange des Steigers Klopstocks Messiade zusammen lasen, so machte sich Reiser wieder auf den Weg, und N... begleitete ihn noch eine ganze Strecke hin, bis es dunkel wurde.
Da umarmten sie sich, und nahmen auf die rührendste Weise von einander Abschied, indem sie sich bei diesem Abschiede zum erstenmal Bruder nannten. Reiser riß sich loß, und eilte schnell fort, indem er seinem Freunde zurief: nun reit zurück!
Als er aber schon in einiger Entfernung war, sah er sich wieder um, und rief noch einmal: gute Nacht! Sobald er dieß Wort gesagt hatte, war es ihm fatal, und er ärgerte sich darüber, so oft es ihm wieder einfiel. Denn die ganze empfindsame Scene hatte selbst in der Erinnerung dadurch einen Stoß erlitten, weil es komisch klingt, einem, dem man auf lange Zeit oder vielleicht auf immer schon lebe wohl gesagt hat, nun noch einmal ordentlich eine gute Nacht zu wünschen, gleichsam als wenn man am andern Morgen wieder einen Besuch bei ihm ablegen würde. –
Es war eine schneidende Kälte. Reiser aber wanderte nun, ohne irgend eine Bürde zu tragen, mit reitzenden Aussichten auf Ruhm und Beifall seine Straße fort.
Oft, wenn er auf eine Anhöhe kam, stand er ein wenig still, und übersah die beschneiten Fluren, indem ihm auf einen Augenblick ein sonderbarer Gedanke durch die Seele schoß, als ob er sich wie einen Fremden hier wandeln, und sein Schicksal wie in einer dunkeln Ferne sähe – Diese Täuschung verschwand aber eben so bald, wie sie entstand; und er dachte dann wieder im Gehen vor sich, wie Leipzig aussehen, in was für Rollen er auftreten würde u. s. w.
Auf diese Weise legte er den Weg von Erfurt nach Leipzig sehr vergnügt zurück; im Gehen aber sprach er häufig den Namen N... aus, den er wirklich liebte, und weinte heftig dabei bis ihm das komische gute Nacht einfiel, welches er gar nicht in den Zusammenhang dieser rührenden Erinnerung mit zu bringen wußte.
In Erfurt hatte man ihm schon gesagt, daß er in Leipzig in dem Gasthofe zum goldenen Herzen einkehren müsse, wo die Schauspieler immer logierten, und gleichsam dort ihre Niederlage hätten.
Als er in die Stube trat, fand er denn auch schon eine ziemliche Anzahl von den Mitgliedern der Sp... schen Truppe vor, die er als seine künftigen Kollegen begrüßen wollte, indem er an allen eine außerordentliche Niedergeschlagenheit bemerkte, welche sich ihm bald erklärte, als man ihm die tröstliche Nachricht gab, daß der würdige Principal dieser Truppe gleich bei seiner Ankunft in Leipzig, die Theatergarderobe verkauft habe, und mit dem Gelde davon gegangen sey. – Die Sp... sche Truppe war also nun eine zerstreuete Heerde.
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