BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Georg Christoph Lichtenberg

1742 - 1799

 

Sudelbücher

 

Sudelbuch F

1776 - 1779

 

Göttingen, am grünen Donnerstag 1776, den 4ten April.

 

_________________________________________________________________

 

 

 

April 1776.

 

Assoziation: Ein langes Glück verliert schon bloß durch seine Dauer

[F 6]

 

Lesen heißt borgen, daraus erfinden abtragen.

[F 7]

 

Mai 1776.

 

Sonntag 5. Ich bin überzeugt, daß, wenn Gott einmal einen solchen Menschen schaffen [würde], wie ihn sich die Magistri and Professoren der Philosophie vorstellen, er müßte den ersten Tag ins Tollhaus gebracht werden. Man könnte daraus eine artige Fabel machen: Ein Professor bittet sich von der Vorsicht aus ihm einen Menschen nach dem Bilde seiner Psychologie zu schaffen, sie tut es und er wird in das Tollhaus gebracht.

[F 32]

 

Es wäre der Mühe wert zu untersuchen, ob es nicht schädlich ist, zu sehr an der Kinderzucht zu polieren. Wir kennen den Menschen noch nicht genug, um dem Zufall, wenn ich so reden darf, diese Verrichtung ganz abzunehmen. Ich glaube, wenn unsern Pädagogen ihre Absicht gelingt, ich meine, wenn sie es dahin bringen können, daß sich die Kinder ganz unter ihrem Einfluß bilden, so werden wir keinen einzigen recht großen Mann mehr bekommen. Das Brauchbarste in unserm Leben hat uns gemeiniglich niemand gelehrt. Auf öffentlichen Schulen, wo viel Kinder nicht allein zusammen lernen, sondern Mutwillen treiben, werden freilich nicht so viel fromme Schlafmützen gezogen, mancher geht ganz verloren, den meisten sieht man aber ihre Überlegenheit an. Bewahre Gott, daß der Mensch, dessen Lehrmeisterin die ganze Natur ist, ein Wachsklumpen werden soll, worin ein Professor sein erhabnes Bildnis abdruckt.

[F 37]

 

Mit elektrischen Ketten ließen sich Signale geben, Längen nicht weit entlegener Örter bestimmen usw. Es ließen sich vielleicht Ströme dazu gebrauchen, wenigstens auf eine gewisse Strecke.

[F 39]

 

Das Wohl mancher Länder wird nach der Mehrheit der Stimmen entschieden, da doch jedermann eingesteht, daß es mehr böse als gute Menschen gibt.

[F 51]

 

Wir der Schwanz der Welt, wissen nicht was der Kopf vorhat.

[F 53]

 

Junius 1776.

 

Freitag 21. Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die vom menschlichen Gesicht.

[F 87]

 

Julius 1776.

 

Dienstag 23. Es regnete so stark, daß alle Schweine rein und alle Menschen dreckig wurden.

[F 99]

 

August 1776.

 

Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel herausgucken.

[F 111]

 

So wie man den Heiligen eine Nulle über den Kopf malt.

[F 166]

 

September 1776.

 

Die letzte Hand an sein Werk legen, das heißt verbrennen.

[F 172]

 

Dienstag 3. Etwas Witziges läßt sich wider alles sagen, und füralles. Hiergegen könnte ein witziger Mann wieder etwas sagen, das mich vielleicht diese Behauptung bereuen machen könnte.

[F 173]

 

Eine einzige Seele war für seinen Leib zu wenig, erhätte zwoen zu tun genug geben können.

[F 189]

 

Oktober 1776.

 

Ein Rosenstock im Winter gezeichnet.

[F 217]

 

Freitag 11. Die Wälder werden immer kleiner, das Holz nimmt ab, was wollen wir anfangen? O zu der Zeit, wenn die Wälder aufhören können wir sicherlich so lange Bücher brennen, bis wieder neue aufgewachsen sind.

[F 233]

 

November 1776.

 

Wenn einmal eine Schwäche in den Nerven so weit gediehen ist, daß ein Entschluß etwas zu seiner eigenen Besserung anzufangen unmöglich wird, so ist der Mensch verloren.

[F 253]

 

Dezember 1776.

 

Es sah aus herrlich, wie Wasser im Feuer verguldet.

[F 288]

 

Jänner 1777.

 

Sonntag 26. Ich denke wenn man etwas in die Luft bauen will, so sind es immer besser Schlösser als Kartenhäuser.

[F 354]

 

Februar 1777.

 

Donnerstag 15. Da dringe ich eben darauf, das ist der eigentliche Mensch nicht, der mit uns lebt, wir müssen ihn jetzt aus der Geschichte heraus suchen.

[F 382]

 

März 1777.

 

Das heißt, man soll mit dem Licht der Wahrheit leuchten, ohne einem den Bart zu sengen.

[F 401]

 

Die Orakel haben nicht sowohl aufhören zu reden als vielmehr die Menschen ihnen zuzuhören.

[F 410]

 

Wie nah wohl zuweilen unsere Gedanken an einer großen Entdeckung hinstreichen mögen?

[F 420]

 

So sagt man, jemand bekleide ein Amt, wenn er von dem Amt bekleidet wird.

[F 423]

 

Die Naturkündiger der vorigen Zeit wußten weniger als wir und glaubten sich sehr nahe am Ziel: wir haben sehr große Schritte darauf zu getan und finden nun, daß wir noch sehr weit ab sind. Bei den vernünftigsten Weltweisen nimmt die Überzeugung von ihrer Unwissenheit zugleich mit ihrem Wachstum an Erkenntnis zu.

[F 458]

 

Vorstellungen sind auch ein Leben und eine Welt.

[F 537]

 

Alle Unparteilichkeit ist artifiziell. Der Mensch ist immer parteiisch und tut sehr recht daran. Selbst Unparteilichkeit ist parteiisch. Er war von der Partei der Unparteiischen.

[F 578]

 

Gesicht und Seele sind wie Silbenmaß und Gedanke.

[F 607]

 

Ich empfehle Träume nochmals; wir leben und empfinden so gut im Traum als im Wachen und sind jenes so gut als dieses, es gehört mit unter die Vorzüge des Menschen, daß er träumt und es weiß. Der Traum ist ein Leben, das, mit unserm übrigen zusammengesetzt, das wird, was wir menschliches Leben nennen. Die Träume verlieren sich in unser Wachen allmählich herein, man kann nicht sagen, wo das Wachen eines Menschen anfängt.

[F 737]

 

Wir sehen ein jeder nicht bloß einen andern Regenbogen, sondern ein jeder einen andern Gegenstand und jeder einen andern Satz als der andere.

[F 754]

 

1778.

 

Ich habe oft auf dem Punkt gestanden, mit so viel Überzeugung zu glauben, daß man, um der Nachwelt zu gefallen, von der jetzigen gehaßt werden müßte, daß ich Alles anzufallen Neigung fühlte.

[F 868]

 

Neue Blicke durch die alten Löcher.

[F 871]

 

Bei manchem Werk eines berühmten Mannes möchte ich lieber lesen, was er weggestrichen hat, als was er hat stehen lassen.

[F 989]

 

Wie perfektibel der Mensch ist und wie nötig Unterricht, sieht man schon daraus, daß er jetzt in 60 Jahren eine Kultur annimmt, worüber das ganze Geschlecht 5000 Jahre zugebracht hat. Ein Jüngling von 18 Jahren kann die Weisheit ganzer Zeitalter in sich fassen. Wenn ich den Satz lerne: Die Kraft, die im geriebenen Bernstein zieht, ist diesselbe, die in den Wolken donnert, welches sehr bald geschehen kann, so habe ich etwas gelernt, dessen Erfindung den Menschen einige tausend Jahre gekostet hat.

[F 1030]

 

Ich habe mich zuweilen recht in mir selbst gefreut, wenn Leute, die Menschenkenner und Weltweise sein wollen, über mich geurteilt haben. Wie entsetzlich sie sich irren, der Eine hielt mich für weit besser, und der andere für weit schlimmer, als ich war, und das immer aus sehr feinen Gründen, wie er glaubte.

[F 1080]

 

1779.

 

Wenn du die Geschichte eines großen Verbrechers liesest, so danke immer, ehe du ihn verdammst, dem gütigen Himmel, der sich mit deinem ehrlichen Gesicht nicht an den Anfang einer solchen Reihe von Umständen gestellt hat.

[F 1196]

 

Für die Seele sorgen nur allein die Pastoren und die Philosophen, die sich oft den Handel einander verderben; für den Leib, außer dem Arzt und Apotheker, die Feldbauern, Müller, Bäcker, Brauer, Fleischer und Brannteweinbrenner, für das adoptierte Fell unzählige Weber, Schneider, Schuster, Hutmacher, Gerber, und dann endlich für das Wohnhaus der Schnecke der Baumeister, Zimmermann, Tischler, Schlosser, also für die Seele der Pastor allein. Freilich müssen hier noch die Wissenschaften eingewebt werden!

[F 1201]

 

Geschlossen den 28ten Jänner 1779.