BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

August Lafontaine

1758 - 1831

 

Leben und Thaten des Freiherrn

Quinctius Heymeran von Flaming

 

Vierter Theil

 

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Quinctius Heymeran von Flaming.

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Vierter Theil.

 

Der Baron kam nach einer glücklichen Reise vor Zaringen an. Hier ließ er den Wagen halten, und stieg mit Iglou aus. „Sieh, Iglou“, sagte er; „dies ist der Ort, wo ich von nun an einsam leben will, und wo ich auch dir eine Zuflucht anbiete. Die Städte sind Wohnplätze der Verbrechen; denn Alles in ihnen reitzt die Phantasie, die Begierden, die Sinnlichkeit. Auf dem Lande kann die Vernunft ungestört wirken; es ist der Sitz der Unschuld, der Ruhe. Hier, Iglou, sollen bei stillem Denken, und bei Handeln, im edelsten Sinne des Wortes, meine Tage verfließen; das Glück soll mit seinem täuschenden Anblicke mein Herz nicht verführen, und das Unglück es nicht verletzen. Man tadelt das Leben der Mönche: ich will auch keiner werden; sie erfüllen einen Theil der Pflicht: Abgeschiedenheit von der Sinnlichkeit; aber sie handeln nicht. Ich will Beides: denken und handeln. Das Gefühl ist ein elendes Werkzeug des böse Dämons.“ Iglou schwieg zu dieser Deklamation, gegen die sie freilich wohl Einwendungen gehabt hätte.

Sie gingen in das Dorf hinein. Die hellen, niedlichen Häuser erinnerten den Baron sehr stark an seine ehemaligen Bemühungen für das Glück seiner Unterthanen. Gern hätte er seiner Begleiterin seine heimliche Freude darüber mitgetheilt; aber er schämte sich, es zu thun, weil er so eben gegen das Gefühl deklamirt hatte. – Es herrschte in dem Dorfe eine Reinlichkeit, die ihn in Verwunderung setzte; und mitten durch die Straße desselben lief eine doppelte Allee von Fruchtbäumen, wie er auch schon auf dem Wege zu dem Dorfe eine bemerkt hatte.

Auf einmal hörte er eine frohe Musik und ein fernes Jauchzen. Er ging still vor sich hin, und murmelte: „das taugt nichts! Der Tanz entzündet die Phantasie, und erregt Verbrechen.“ Je näher er seinem Hause kam, desto deutlicher wurde die Musik und das frohe Jauchzen; und bald sah er ein frohes Gewühl von Menschen jedes Alters und Geschlechtes.

Unter einigen hohen und schattigen Linden tanzten die jungen Leute des Dorfes. An Tischen umher saßen die Alten; mitten unter ihnen der Prediger und mehrere wohlgekleidete Menschen. Flaming begriff nicht, was das war. Als er näher kam, bemerkte man ihn; aber man kannte ihn nicht. Ein junger Bauer ging auf ihn zu, und lud ihn sehr artig ein, heran zu kommen. Auf einmal aber rief er: um des Himmels willen! Ihr Gnaden, unser guter Herr Baron! Auf dies Geschrei strömte alles hinzu. Lissow, Jakobinens Vater, der Prediger, der Amtmann, Karoline, der Amtsverwalter, und alle Einwohner des Dorfes umringten den Baron in frohem Erstaunen. Niemand hatte ihn erwartet, niemand wußte etwas mehr von ihm, als daß er in Berlin sey und fürs erste da bleiben werde.

Er erkundigte sich nach der Ursache des Festes; und der Prediger sagte ihm: es ist der gewöhnliche Sonntagstanz. „Der gewöhnliche?“ erwiederte der Baron, und schüttelte den Kopf, doch ohne weiter etwas zu sagen. Er hatte nicht das Herz, sogleich sein Mißfallen zu äußern, und, als er erst zwischen seinen Freunden saß und das Fest näher kennen lernte, konnte er es noch weniger. Auf allen Gesichtern lag ein unverstellter, herzlicher Frohsinn. Die jungen Leute und auch die Kinder trugen reinliche und anständige Kleidungen. Alle waren fröhlich; aber ihre Fröhlichkeit artete nicht in Wildheit, in ein bloßes Toben aus, wie es bei den Landleuten so oft der Fall ist. Die Alten saßen um die Tische her, und sprachen von ihrer Haushaltung, von ihrem Ackerbau, von der Erziehung; und zwar immer mit Ruhe, Gelassenheit und Nachdenken. Die Kinder spielten. Kurz, es war ein Fest von lauter heitern Menschen.

Mit großer Freude, die er aber zu verbergen suchte, sah der Baron, daß es nur wenige Schwarzköpfe unter ihnen gab, und daß alle in helle Farben und züchtig gekleidet waren. So sehr der Baron seine Unterthanen im Auge behielt, eben so sehr beobachteten diese ihn, aber noch weit mehr die Mohrin, die sich auf die Seite gesetzt hatte, und dem Schauspiele der Freude mit frohen Blicken zusah. Die Kinder stellten sich seitwärts zu ihr, und betrachteten sie mit Neugierde. Sie näherte sich den Kindern. Diese flohen nicht, sondern sprachen mit ihr; und schon nach einigen Minuten waren sie hinlänglich vertraut mir ihr, sie nach allerlei, nach ihrer Farbe, ihrem Vaterlande, u. s. w., zu fragen. Iglou gab dem einen ein Band, dem andern eine Nadelbüchse, dem dritten ein Stück Geld; und die Kinder waren dankbar dafür. Sie trat zu dem Baron, und sagte: ich habe noch nie unter Landleuten so gute Menschen gesehen, wie hier deine Unterthanen. Sie müssen sehr gütig behandelt worden seyn; denn sie sind des Zutrauens fähig.

Der Prediger betrachtete Iglou mit großen Augen, als sie die Anmerkung gemacht hatte; und nun erfuhr er von dem Baron sein Verhältniß mit ihr, und den Grad ihrer Bildung. Gnädiger Herr, sagte bei dieser Gelegenheit der Prediger, Sie scheinen sich über das Glück Ihrer Unterthanen nicht so zu freuen, wie ich es von Ihrem Herzen erwartete. Der Baron gab nur eine sehr unbestimmte Antwort. Der Prediger erzählte in aller Kürze, was nach des Barons Abreise in Zaringen gethan war, und brach in die größten Lobeserhebungen über den alten Grumbach aus. Dieser würdige Mann, den Sie uns geschickt haben, sagte er, hat das Glück von einigen Hundert Menschen geschaffen. Seine reife Weisheit thut nie einen Schritt zurück; denn jeder führt an das Ziel. Ich glaubte die Bauern zu kennen; aber Grumbach hat mich erst gelehrt, wie man es anfangen muß, sie zu Menschen, zu glücklichen Menschen, zu machen. Ihr Zaringen, Herr Baron, fängt an ein Aufenthalt der Unschuld und des Glückes zu werden. Sie glauben nicht, mit wie Wenigem Grumbach so viel thut! Sehen Sie, Herr Baron, und wünschen Sie Sich Glück dazu –: unter der ganzen Menge ist kein Unglücklicher und kein Lasterhafter.

„Wie hat Grumbach das angefangen?“ fragte der Baron. Er belohnt die Tugend mit Zufriedenheit, und bestraft das Laster mit Verachtung, erwiederte der Prediger. – „Meine Unterthanen sind also aus Eigennutz tugendhaft, nicht aus Ueberzeugung. Und ist das Tugend? ... Doch, lieber Herr Prediger, lassen Sie uns davon aufhören. Ich mag nicht gern aus einzelnen Datis urtheilen, und werde ja sehen, was gethan ist.“

Die jungen Leute tanzten bis um neun Uhr Abends, und gingen, als es läutete, ruhig aus einander; die Hausmütter aber hatten sich fast alle schon entfernt. Der Baron begab sich ermüdet auf sein Zimmer, und schloß sich ein, um ungestört zu denken. Er stellte sich an das Fenster, und betrachtete die Hütten, die in dem hellen Lichte des Sommerabends da lagen. „Ihr seyd glücklich“, sagte er, zu den Hütten hin gewendet, „ihr armen, verirrten Menschen! Hier bin ich, und will euch weiter bringen; ich will euch lehren, das Glück entbehren zu können. Ja vor acht Jahren, als ich zum ersten Male wieder hierher kam, da war euer Glück mein Ideal, mein Wunsch. O Gott, wie viel höher stehe ich jetzt! wie viel weiter bin ich! Jetzt ist nicht mehr euer Glück das Ziel meines Bestrebens, sondern eure Tugend: nicht jene eigennützige, der Vernunft unwürdige, welche giebt, um zu nehmen, wohlthut, um fröhlich zu seyn, liebt, um Liebe zu erlangen. Nein, nein! Menschen, Brüder, Gott gleiche Geschöpfe! die Tugend will ich euch lehren, welche unerschütterlich, wie Gott selbst, dasteht, nichts kennet als sich, in dem Untergange der Welt, mitten unter den stürzenden Welten, mitten im Schmerz und Elende, unter dem Geschrei des Jammers und der Verzweiflung, sich selbst festhält, sich selbst das Ziel ist, nach dem sie strebt, und wenn ihr Weg durch Martern und Qualen, durch das Dunkel der Hölle führte!“ Diese stolze Idee erhob ihn; er stand, fest wie ein Fels, im Zimmer, sein Auge blickte durch wohlthuende Thränen auf die Hütten, seine Brust schlug in langsamen und starken Schlägen.

Auf einmal hörte er Iglou, die in dem Zimmer dicht neben ihm wohnte, zu ihrer Laute singen:

 

Schwäche ist des Menschen Loos:

Darum hängt ein Wolkenschleier

Vor der Wahrheit reinem Feuer,

Und bedeckt der Zukunft Schooß.

Schwäche ist des Menschen Loos.

Furcht und Hoffnung, Freud' und Schmerz

Herrschen zwischen Grab und Wiege.

Sey nicht stolz auf Kampf und Siege;

Schwach ist doch, o Mensch, dein Herz,

Schwach bei Hoffnung, Freud' und Schmerz.

 

Die arme Iglou war auf eben dem Wege, den der Baron mit seinen Empfindungen genommen hatte, zu diesen Resultaten gelangt, welche den seinigen so ganz entgegen liefen. Freilich sah sie nun ein, daß ihre Farbe, ihre äußere Gestalt, das ewige Hinderniß ihrer Liebe seyn würde; und oft war, da sie ihren inneren Werth fühlte, ihre Empfindung Bitterkeit gegen die ungerechten Menschen, besonders gegen den Baron: aber Güte und Nachdenken unterdrückten bei ihr diese Gefühle sehr bald wieder. Vergebens wünschte sie, mit eben der Leichtigkeit auch ihre Leidenschaft für den Baron unterdrücken zu können; nach jedem Kampfe, jedem Siege, den sie über ihr Herz davon getragen hatte, fühlte sie sich schwächer als vorher. Eine Liebkosung des Barons erregte ihre Leidenschaft aufs neue; und diese ihre eigne Schwäche machte sie nachsichtiger gegen die Schwächen des Barons. Was sie endlich über sich selbst erhielt, war die Stärke, von ihrer Liebe zu schweigen. Es ist nun einmal so! sagte sie: ich muß ihn lieben; und er? – er muß das Gegentheil. Wenn nun die Betrübniß, wenn ihr Herz sie überwältigte, so floh sie zu ihrer Freundin, der Laute; die Musik nahm ihrem Leiden die Schärfe, und verwandelte ihren Gram in eine süße Wehmuth. Natürlich also mußte sie oft gerade das Gegentheil von dem denken, was der Baron dachte; und gewöhnlich sang sie ihre Gedanken in kleinen von ihrem Herzen eingegebenen Liedern, weil nichts den Schmerz des Unglücklichen so mildert wie die Poesie. Es war also ganz natürlich, daß Iglou's Lied die Gedanken des Barons gleichsam beantwortete.

Eben so natürlich war es, daß Iglou noch immer mit voller Seele an dem Baron hing, so unmöglich es sonst auch ist, daß eine Liebe ohne alle Gegenliebe fortdauern kann. Sie sah freilich ein, daß der Baron sie nicht liebte, doch nur, wenn sie ihren Verstand um sein Urtheil fragte; ihr Herz aber – und warum sollte das nicht eben so seyn wie bei allen übrigen Menschen? – urtheilte anders. Tief in ihrem Inneren lag, ihr selbst unbewußt, eine tröstende Hoffnung, die sich auf des Barons Betragen gründete. Er hatte in der That größeres Zutrauen zu ihr als je zu Emilien oder Julien, und es zeigte sich bei allen Gelegenheiten, selbst wider seinen Willen, immer auf gleiche Weise. Er war so an Iglou gewöhnt, daß er ohne sie nicht leben konnte. An ihrer Zufriedenheit nahm er innigen Antheil, und zuweilen betrachtete er sie mit großem Wohlgefallen; ja, er konnte sie oft mit Herzlichkeit an seine Brust drücken. Diese Freundschaft, dieses Vertrauen des Barons ließ die Hoffnung, daß er sie noch einmal lieben könnte, in ihrem Herzen nie ganz sinken; so erhielt ihre Leidenschaft täglich neue Nahrung, und sie liebte fort, trotz ihren Vorsätzen, trotz ihrer Ueberzeugung, daß sie sich dadurch ein kummervolles Leben bereitete.

„Ja“, sagte der Baron, als er Iglou's Gesang gehört hatte: „schwach ist des Menschen Herz; aber daß es keine Stärke hat, daß es nicht die bethörenden Hoffnungen verachtet, ist unsre Schuld. Warum nähren wir die Phantasie mit den Bildern des Glückes? warum machen wir das Glück zur Grundlage aller Tugenden? Nein, ich fühle bei mir selbst, daß man ohne Hoffnung, ohne das so genannte Glück, in dem Genusse des Göttlichsten, was in unsrer Natur ist, der Vernunft, glücklich seyn kann. Grumbach hat es gut gemeint mit meinen Unterthanen. Ich meine es aber noch besser; sie sollen vernünftig werden!“

Das beschloß der Baron; aber als er erfuhr, welche Anstalten Grumbach getroffen hatte, fühlte er kaum noch Muth, etwas zu sagen. Das reitzende Gemählde von dem Glücke und der Zufriedenheit seiner Unterthanen erfüllte sein eignes Herz mit eben den Gefühlen, wie Iglou, die bei Grumbachs Beschreibung ganz Seligkeit war.

Sobald Grumbach und Lissow in Zaringen ankamen, und, nach des Barons Willen, von den Einkünften Besitz genommen hatten, ließ jener es seine erste und angelegentlichste Beschäftigung seyn, das Gut, dessen Ertrag, und die Menschen, mit denen er von nun an zu thun haben sollte, kennen zu lernen. Seine ehemaligen Beschäftigungen machten ihm diese Arbeit zu einem Spiele. O Gott! sagte er; wie glücklich, wie unbeschreiblich glücklich, könnte der Adel seyn, wenn er wollte! Welch ein schönes Loos ist ihm gefallen! Er verbindet mit der Unabhängigkeit der Fürsten das häusliche Glück des Mittelstandes. Die Adeligen haben die Macht der Fürsten; und diese Macht hindert sie nicht, im eigentlichen Sinne Väter ihrer Unterthanen zu seyn. Ihnen gehört eine kleine Welt, die sie zu übersehen im Stande sind; sie können mit eignen Händen schaffen und wohlthun, da der Fürst hingegen gezwungen ist, mit fremden Händen zu wirken, das Glück seiner Unterthanen fremden Herzen anzuvertrauen!

Anfangs ließ Grumbach alles ruhig fortgehen, ohne sich hinein zu mischen; er lernte erst das Land und die Menschen kennen, die er segnen wollte. Lissow, dem er seine wohlthätigen Plane mittheilte, hätte gern sogleich angefangen einzureißen, umzuformen, zu verwandeln; aber der Alte blieb seinem Grundsatze getreu, daß die Vorsehung den Irrthum, auch wenn er in der besten Absicht begangen ist, eben so ernstlich bestraft wie das Verbrechen, wie die Bosheit. „Wir kennen die Absicht, die wir haben“, sagte er zu Lissow; „wir kennen die Bildsäule, die wir formen wollen: sie steht lebendig vor unsrer Seele da. Ehe wir aber anfangen zu arbeiten, laß uns erst den Stoff genau untersuchen, die rohe Masse, den Marmorblock, den wir in das Bild der Glückseligkeit verwandeln wollen! Laß uns zusehen, ob die Werkzeuge stark und zahlreich genug sind, daß wir nicht am Ende beschämt die Arbeit müssen unvollendet liegen lassen. Es ist leicht einzureißen, aber schwer aufzubauen. Laß uns ein Obdach behalten, wenn etwa der Bau sich nicht fördert.“ Grumbachs Weisheit hielt den raschen Lissow zurück, als dieser mit allem Feuer einer Seele, die sich so eben von einem unthätigen Kummer, beschämt darüber, losgerissen hat, sogleich die Veränderungen in Zaringen anfangen wollte.

Die Umstände waren günstig. Die Bauern sahen mit Freude den Sohn ihres ehemaligen geliebten Predigers, Lissow, auf dem Schlosse wohnen; und auch den Alten liebten sie in Kurzem, weil er so umgänglich, nicht im mindesten stolz, so ganz und gar mit ihnen ein Landmann war. Grumbach hatte bald die Liebe des ganzen Dorfes, aber noch nicht, was schwerer zu gewinnen ist, das Zutrauen der Familien, welches er doch so nöthig brauchte, wenn er in seinen Planen glücklich seyn wollte. Er wunderte sich nicht, daß es so schwer zu gewinnen war. „Natürlich“, sagte er, „ist diesen Menschen das Mißtrauen zur andren Natur geworden. Die meisten Lasten des Staates ruhen auf ihren Schultern. Sie müssen das Vaterland ernähren, ihm Vertheidiger stellen, Pferde und Getreide liefern, Krieges- und Frohnfuhren thun. Der Städter mag eben so viel geben, und giebt nach Verhältniß eben so viel; aber weit unmerklicher. Der Landmann kann alles, was er giebt, bei Heller und Pfennig berechnen; der Städter merkt kaum, was er bezahlt. Man bemühet sich nicht, den Landmann zu belehren, daß er den Staat nicht allein erhalten muß; ja, die Verachtung, mit der ihn alles behandelt, bestärkt ihn in der Meinung, daß alle Stände von ihm fordern, und selbst nichts geben wollen. Wie natürlich ist nun nicht das Mißtrauen des Landmanns gegen alle andern Stände! und wie schwer muß es zu überwinden seyn, selbst wenn man die Absicht hat, ihm wohlzuthun! Er fürchtet sogar in einer Wohlthat aus der reinsten Absicht den Keim zu einer neuen Last, und stößt die Hand seines Wohlthäters zurück, weil er nicht glauben kann, daß ein Mensch aus den besseren Ständen es gut mit ihm meine.“

Sie kennen den Bauer nicht! sagte der kleine Justiz-Amtmann. Geben Sie ihm heute die Erde, so fordert er morgen den Mond, dann die Sonne; und wehe Ihnen, wenn Sie endlich gezwungen sind, ihm etwas abzuschlagen! – „Er fordert, wie alle rohen Menschen, was er sieht. Darum muß man ihm seine Rohheit nehmen; und das, Herr Amtmann, ist meine Absicht, dazu fordre ich Ihren Beistand auf.“ Der alte Grumbach erhielt, trotz allen Hindernissen, allmählig das Vertrauen der Bauern. Er war fast immer bei ihnen, unterschied sich von ihnen in der Kleidung sehr wenig, gewöhnte sich an ihre Sprache, fand sich in ihre Art zu denken, griff nie eins ihrer Lieblingsvorurtheile geradezu an, erwies ihnen tausend Gefälligkeiten, suchte sogar ihre unvernünftigen Anliegen zu erfüllen, und setzte, wenn er das nicht konnte, wenigstens etwas Anderes in dessen Stelle. Grumbach war nur Aufseher über die adeligen Güter, nicht Herr davon. Was er that, erhielt wirklich doppelten Werth für die Landleute, weil sie glaubten, er müsse es sich selbst abdarben, um die Sachen in den Rechnungen auszugleichen, und weil der Verwalter, sonst ein herzensguter Mann, oft klagte, daß Grumbach dem Baron zu viel vergebe. Kurz, nach und nach stieg das Vertrauen zu dem alten Manne, so hoch es steigen konnte.

Grumbach ersetzte die Summen, die ihm das kostete, zehnfach durch Verbesserung des Gutes; und es gelang ihm, auch die Bauern dahin zu bringen, daß sie seine Art des Ackerbaues und der Landhaushaltung nachahmten. „Sehen Sie wohl“, sagte er zu dem Justiz-Amtmann, „daß es möglich ist, das Vertrauen dieser Leute zu gewinnen, wenn man nur will?“ – Das ist wohl wahr; aber wer braucht denn alles zu thun, was die Leute verlangen! Wer will immer nachgeben; immer Unrecht haben; immer dem Bauer Recht lassen! Was verbindet mich dazu?

„Lieber Gott!“ sagte Grumbach mit stillen, demüthigen Blicken; „was mich dazu verbindet? Meine eigene Schwäche, das Gefühl, daß ich ein Mensch bin, und nichts weiter. Ach, lieber Herr Amtmann, wie oft mag nicht die Vorsehung es mit uns eben so machen, um nur unser Mißtrauen gegen sie zu überwinden! Wie oft beleidigt der Mensch die ewige Güte durch seine kindischen Forderungen! Und hört Gott deswegen auf, die Erde zu segnen? Wir sollen Gutes thun und glücklich machen. Freilich wäre es leichter, wenn die Menschen das Gute gerade so nähmen, wie wir es ihnen gönnen und geben; aber soll ich das Gute nur thun, wenn ich es so thun kann, wie ich gern will? Es ist wahrlich vor jenem Richterstuhle jenseits des Lebens keine Entschuldigung, wenn ich sage: die Menschen wollten das Gute nicht, wie ich es zu geben Lust hatte. Ja, es ist mühsam, dem verachteten, vernachlässigten Stande der Landleute seine Laster zu nehmen, und ihn des Glückes fähig zu machen; aber soll denn die Tugend nicht mühsam seyn? Fordert sie nicht das ganze Herz zum Opfer? ‹Ihr kennt den Landmann nicht!› Was heißt das? Wohl! wenn du ihn denn besser kennest, so richte dich nach ihm, und gieb ihm die Wohlthat, so wie er sie allein mag. Würden Sie den Vater nicht unbarmherzig nennen, der seinem Kinde die Arznei so bitter, wie sie ist, hinreichte, und, wenn es sie nicht wollte, es sterben ließe, da doch ein wenig Zucker sie versüßt und das Kind gerettet hätte? Und soll der Edelmann etwas anderes seyn als der Vater seiner Bauern?“

Aber da wäre ja der Edelmann ein Diener, ein Sklav seiner Unterthanen!

„Ein Sklav Gottes, ein Diener der Vorsehung, ein Priester der Tugend! Und giebt es ein ehrenvolleres Amt als dieses? Der Bauer ist nun einmal nicht anders; soll denn auch der Bessere nicht anders seyn als der Bauer?“

Dann müßte aber der Adel alle seine Rechte aufopfern; und wer kann das von ihm verlangen?

„Nur ein Thor kann das, der nie gefühlt hat, wie schwer es ist, sich freiwillig eines Vortheils zu begeben. Aber verschweigen soll er den Ueberfluß nicht, den er hat, so lange noch eine unglückliche Familie auf seinen Gütern den Himmel um Obdach, um Brot anflehet; mit seinen Jagden nicht die Ernten zerstören; nicht ein Fremdling auf seinen Gütern, unter seinen Kindern werden; nicht mit Stolz, mit Verachtung der Menschheit in seinen Unterthanen, die letzte Spur von Tugend bei ihnen niederdrücken. Er soll nur menschlich seyn, seine Pflicht erfüllen, helfen, wo er kann, unterstützen, wo er sinken sieht, durch Belehrung Licht in die Finsterniß, Trost in Hütten voll Elend tragen. Das soll er; das muß er; oder er verdient den Nahmen Mensch nicht, und noch weniger den großen, anspruchsvollen Nahmen eines Edeln.“

Der Amtmann war kein übler Mann; er ließ das Gute wenigstens geschehen, wenn man nicht allzu große Opfer von ihm forderte. Ohne gerade zu begreifen, oder gar zuzugeben, daß, was Grumbach sagte, Wahrheit sey, half er doch, wo er konnte. Der Prediger aber war sehr bald von ganzer Seele auf Grumbachs Seite. Er hatte sogar den Muth, seinen weit romantischeren Plan von Glück aufzuopfern, und Grumbachs besseren Einsichten zu folgen.

Der alte Schulmeister wurde zur Ruhe gesetzt. Lissow, Grumbach und der Prediger übernahmen den Unterricht der Kinder so lange, bis man einen jungen vernünftigen Mann zum Lehrer gefunden hatte. Die Schule war in Grumbachs Augen der wichtigste Gegenstand. „Ohne Unterricht“, sagte er, „ist das menschliche Glück und die menschliche Tugend nur eine Sommerpflanze, die der erste Reif des Herbstes tödtet.“ Der Prediger setzte einen Schulplan auf; Grumbach aber strich ihn zur Hälfte durch. „Um des Himmels willen nicht eine Spur von Gelehrsamkeit!“ sagte er. „Nicht ein Wort mehr dürfen die Kinder wissen, als sie in der Folge gerade gebrauchen; aber ihr gesunder Menschenverstand kann nie genug gebildet werden.“

Grumbach war die Seele des Unterrichtes. Es kostete dem Prediger, dem neuen Schulmeister, und selbst Lissowen, große Mühe, nur einzusehen, daß das Meiste von dem, was sie lehren wollten, unnütz war; und noch schwerer wurde es ihnen, ihre Kenntnisse nicht vorzubringen. Der Prediger wollte das Daseyn Gottes, die Unsterblichkeit der Seele erweisen; Grumbach aber verlangte ausdrücklich, diese beiden Lehren sollten, als ganz bekannt, als Axiome, vorausgesetzt werden. „Was bedürfen“, sagte er, „diese einfachen, natürlichen Gemüther solcher Beweise? Sie sollen nicht wissen, daß der Grund aller Tugend von thörichten Menschen je bezweifelt wurde; und, genau genommen, hat ja auch nie ein Mensch, der sich fühlte, wirklich daran gezweifelt.“ Auf diesen Grund bauete man eine einfache Moral, der besonders Grumbach in seinem Unterrichte so viel Herzliches gab, und die er so einfach vortrug, daß die Kinder sie leicht faßten.

Man hütete sich durchaus, die Eltern merken zu lassen, daß der Unterricht anders war als ehemals. Die alten Formen, die alte Zeit, die alten Bücher wurden beibehalten, und das Neue als etwas ganz Gewöhnliches vorgetragen. Die Eltern merkten keine Veränderung, weil man ihnen nicht sagte: seht, wir ändern.

Grumbach und Lissow waren zugegen, wenn die jungen Leute tanzten. Was Wunder also, daß auch der Prediger hier seine Freunde aufsuchte, und den Schulmeister mitbrachte! Was Wunder, daß Karoline zuerst einmal mit Lissowen tanzte, und dann auch ihre Hand einem jungen Bauer gab, den der alte heitre Grumbach antrieb, sie aufzufordern? Freilich wurde nun nicht mehr so viel Bier getrunken, und der Wirth im Gasthofe machte schele Gesichter; aber Grumbach wußte ihn heimlich zu befriedigen, ja ihn für sich zu gewinnen. Der Wirth hatte Vortheil davon, daß weniger getrunken wurde. Nun gab Grumbach erst einmal auf dem Schloßhofe Sonntags nach der Kirche einen Tanz, und die Alten stellten sich dabei ein. Das geschah öfter. Grumbach schlug den jungen Leuten vor, noch mehrere von ihnen sollten die Geige und den Baß spielen lernen, wie es ein paar schon ziemlich gut konnten. Nach und nach kamen die Sonntagstänze immer mehr in Gang. Man bestimmte, wie lange das Vergnügen währen, und wie viel es kosten sollte. Die Schenke wurde nun gänzlich verlassen, und alle Sonntage auf dem Schlosse getanzt. Einige junge Wüstlinge fanden zwar das Vergnügen sehr langweilig; aber man ließ sie gehen. Sie kamen nach und nach von selbst, und mußten, wenn sie Theil nehmen wollten, mäßig seyn.

Karoline ging jetzt in die Spinnstuben der Mädchen, wo man bald sang, bald Gespenster- und Mördergeschichten erzählte. Grumbach kam einmal, um Karolinen zu sprechen. Er hörte eine Weile zu, und erzählte dann den Mädchen einige schauerliche Gespenstergeschichten, die aber am Ende ein allgemeines Gelächter erregten. Der Alte kam wieder. Man spann, lachte, sang, erzählte: kurz, man war fröhlich. Grumbach schlug nun vor, die Spinnerei in die große Schulstube zu verlegen. Das geschah. Jetzt kamen auch der Schulmeister, der Prediger, und die jungen Bursche. Man spielte eine Stunde, und die Mädchen mußten durch doppelten Fleiß die durch Vergnügen verlorne Zeit wieder einbringen.

Karoline unterrichtete die kleinen Mädchen im Stricken, im Nähen, im Spinnen; während der Arbeit lehrte sie die Kinder aber auch Lieder singen, oder erzählte ihnen Geschichten, so daß hier wieder Freude mit der Arbeit verbunden wurde. Die erwachsenen Mädchen waren nun einmal wie sie waren, und sangen ihre, freilich zum Theil sehr albernen, Lieder. Aber die kleinen Mädchen lernten von Karolinen bessere, die Lissow machte, und worin jungfräuliche Zucht athmete. Karolinens Beispiel und Lob erfüllte die jungen Herzen mit keuscher Scham, und es wuchs hier ein Geschlecht unschuldiger, guter Mädchen auf. Bald lernten auch die älteren Mädchen die Lieder der Kinder; denn Karoline sang sie ja in der Spinnstube, und tadelte die andern.

Die Alten waren am schwersten zu bekehren; indeß konnte Grumbach sie, wenn nicht verwandeln, doch leiten. Jetzt beglückte Eintracht alle diese Hütten, und die Zufriedenheit schlug ihren Wohnplatz unter diesen unschuldigen Menschen auf. Man hatte nichts übertrieben, nichts beschleunigt, nichts mit Gewalt erzwungen. Das ganze Dorf war verändert, und keiner von den Einwohnern hatte es gemerkt.

Die Bauern, welche ohnedies schon durch die Güte des Barons wohlhabend waren, fingen an, sich glücklich zu fühlen, und von einem ganz neuen Geiste beseelt zu werden. Sie arbeiteten mit Lust, denn Niemand nahm ihnen die Frucht ihres Fleißes, und am Abend erwartete sie gewiß ein Vergnügen. Die Alten schüttelten wohl zuweilen die grauen Köpfe, und seufzten: ach! sonst war es viel besser! Aber sie ließen sich doch durch eine gut geschriebene Vorschrift, oder durch das fertige Lesen und Rechnen ihrer Enkel zufrieden stellen. Freilich waren ihnen die Mägde und Knechte wohl zu munter; aber die Arbeit geschah doch, und noch dazu ohne Lärmen und Verdruß. Die jungen Männer und Weiber wurden zum Theil durch das Vergnügen gefesselt, dessen sie mit genossen; auch unternahm Grumbach nichts, ohne sie vorher um Rath zu fragen. So bewirkte er wichtige Dinge, ohne daß sie etwas dagegen einwendeten. Die Jünglinge und Mädchen waren glücklich, und sorgten um nichts, als daß es nicht so bleiben möchte. Die Kinder endlich fingen an, dieses Glückes würdig zu werden. Kurz, durch einfache Anstalten, welche aber die reinste Menschenliebe beseelte, war es Grumbachen gelungen, hier ein Paradies voll Unschuld und Glückes zu schaffen. Die Einrichtungen hatten sogar schon einen hohen Grad von Fertigkeit erlangt, als auf einmal der Baron mit Iglou ankam.

Alle vermutheten, der Baron würde über die Verwandlung entzückt seyn; aber er betrug sich, wie wir schon wissen, sehr sonderbar. Indeß seine kalte Miene am ersten Tage konnte tausend andre Ursachen haben. Die paar Worte, die er sagte, schienen zwar wie eine Mißbilligung zu klingen; allein er konnte wohl gerade übler Laune gewesen seyn. – Ich verlasse mich hauptsächlich darauf, sagte der Prediger zu seiner Schwester, daß fast alle Einwohner helle Farben tragen. – Und ich, sagte Karoline, rechne auf des Barons Herz. Er wird das Glück dieser Menschen nicht stören, selbst wenn er Neigung dazu hätte, nicht.

Am folgenden Morgen erfuhr unser Baron, wie gesagt, die Veränderungen auf seinem Gute ausführlich. Grumbach erzählte ihm alles in einer durch den glücklichen Erfolg seiner Bemühungen so begeisterten Stimmung, daß der Baron schwieg, um dem alten Manne seine Freude nicht zu verderben. Nun kam Lissow dazu. Sieh, Flaming, sagte er; was mich allein über Jakobinens Verlust tröstet, ist das Glück deiner Unterthanen. Selbst meine Kinder müssen dem nachstehen.

Was konnte der Baron dazu sagen? Bei seinem Charakter in der That gar nichts. – Der alte Grumbach führte ihn nun auf den segenvollen Fluren umher, und drang in ihn, er möchte die Ursache seines mißbilligenden Schweigens entdecken.

Der Baron sagte ihm einen Theil seiner Gedanken, aber nur einen Theil, um noch immer einlenken zu können. Grumbach griff ihn an; und nun war auch kein Halten mehr. Der Baron ging mit der Sprache heraus. „Was wollen Sie mit dem Allen, Grumbach? Glücklich machen? Recht schön! recht sehr menschlich! Aber auch weise? Ich frage: auch weise? Der Finanzminister vergißt über den Staat den Menschen. Er will jenen glücklich machen, und betrachtet diesen bloß als ein Mittel dazu. Er sieht den Menschen als ein Lastthier an, das Steine zu der Aufführung seines Gebäudes herbeischleppt, und kümmert sich nicht darum, ob der Mensch unter der Last erliegt. Das hat der Philosoph dem Staatsmanne von jeher vorgeworfen. Und warum? Weil der Staatsmann über seinen Zweck den Zweck, den die Vorsehung mit dem Menschen hat, vergißt. Aber, lieber Grumbach, machen Sie es besser?“

Ich hoffe es, Herr Baron. Der Mensch, sein Glück, ist mein Zweck, das Ziel, für das ich arbeite. Ich will den Menschen glücklich machen.

„Aber, was ist“, fragte der Baron lächelnd, „der Zweck der Vorsehung mit dem Menschen? Doch wohl Vernunft, Tugend. Meinen Sie nicht, lieber Alter?“

Ich bin Ihrer Meinung, Herr Baron.

„Das scheint nicht so. Wenn Vernunft und Tugend die Bestimmung des Menschen sind, so ... Wie soll ich mich ausdrücken? ... so ... Sie wenigstens machen das Glück zur Belohnung der Tugend; und Sie müssen doch gestehen, daß der Mensch tugendhaft seyn soll, selbst wenn die Tugend ihn unglücklich machte.“

Grumbach erwiederte lächelnd: die Vorsehung, Herr Baron, bestimmte den Menschen, durch Vernunft und Tugend glücklich zu werden. Sie kann keinen andern Zweck haben. Vielleicht verlaufen noch Millionen Jahrtausende; aber – der Augenblick muß einmal kommen, da Vernunft, Glück, Tugend, vollkommen gleich bedeutende Wörter sind. Auf der Gewißheit, der unbezweifelten Gewißheit dieses Satzes, beruhet meine ganze Vernunft, das eigene Bewußtseyn ihrer selbst. Kann ich auf Erden diesen Zustand hervorbringen, so erfülle ich die Worte des weisesten unter den Menschen: dein Reich komme! – Ich belohne die Tugend, die Unschuld Ihrer Unterthanen mit eben so unschuldigen Freuden ...

„Aber Sie locken auch durch eben die Freuden die Menschen zur Tugend an; also heben Sie den reinen Begriff der Tugend in den Gemüthern dieser Menschen auf, und entstellen den ganz absoluten Befehl der Vernunft: Mensch, du sollst deine Pflicht erfüllen. Sie machen das Glück zu einem Princip der Tugend.“

Das Glück? Nun, wenn Sie mit diesem Worte den Begriff verbinden, den der Philosoph damit verbinden muß, so sehe ich nicht ein, warum ich das nicht sollte. „Du sollst tugendhaft seyn,“ ist der ewige Befehl der Vernunft; und „du sollst glücklich seyn,“ der eben so ewige, eben so strenge Befehl aller unsrer Gefühle. Diese beiden – Instinkte unsrer Natur möchte ich sie nennen; diese beiden Grundtriebe unsrer moralischen und fühlenden Natur dürfen einander nie widersprechen. Sie sind gleich herrschend, gleich ewig, gleich nothwendig: die beiden großen Lebensströme, durch die wir sind, was wir sind. Sie wechseln ewig ihre Natur mit einander. Die Tugend wird die Quelle unseres Glückes, und aus dem unauslöschlichen Wunsche, sich glücklich zu machen, erhält die Tugend ihre Stärke. Der eine Befehl ist gleichsam der Nachhall des andern: der eine tönt von dem Richterstuhle des Ewigen; der andre säuselt von dem Meere der ewigen Liebe zu uns hernieder. „Sey tugendhaft! sey glücklich!“ Zwei Töne, die zugleich erklingen, und die schönste Harmonie des Weltalls bilden; zwei Ströme aus Einer Quelle, die das Paradies einschließen, und sich dann wieder vereinigen. Der eine Befehl ohne den andern ist todt, ist schrecklich, ist abscheulich. „Sey glücklich ohne Tugend!“ und die Erde fällt unter dem Glücke des Menschen in Trümmer. „Sey tugendhaft ohne Glück!“ und der Thron der ewigen Liebe stürzt unter diesem barbarischen Befehle. Beide gehören ewig zusammen, die beiden Stämme Einer Wurzel. Sie haben Eine Natur, Ein Wesen, und befehlen beide, ohne Gründe anzugeben. „Sey glücklich!“ Nur ein Narr fragt, warum. „Sey tugendhaft!“ Nur ein Rasender fragt nach der Ursache. Das eine erhält die fühlende Natur, das andere die moralische. Beide machen unser Wesen aus, eins und unzertrennlich.

„Ich gebe zu, daß die Tugend zuletzt glücklich machen muß; aber hier, auf der Erde widerspricht die Erfahrung. Grumbach, Sie lehren: sey tugendhaft, um dich glücklich zu machen! So verwandeln Sie doch wirklich die Tugend in eine Wirkung des Eigennutzes; und – noch mehr! – Sie machen den Menschen irre. Wenn er nun tugendhaft ist, auf Glück rechnet, und es nicht findet; wie dann?“

Glück! Glück! Herr Baron, Sie scheinen Glück, jenes ewige Glück, in das die Tugend sich einmal auflösen muß, mit einigen Freuden des Lebens zu verwechseln, das Wort bald so, bald anders zu gebrauchen. Ich sage dem Menschen nicht: sey tugendhaft, wenn du reich, wenn du geehrt seyn willst! Aber wenn ich ihm sage: der Ewige hat den Menschen geschaffen, glücklich zu seyn, und die Tugend muß einst das Glück des Menschen werden; – warum soll ich dann nicht sagen: also, Mensch sey tugendhaft, weil du glücklich seyn willst! Wenn ich den Menschen auf den Einen ewigen Befehl seiner Natur hinweise: „sey tugendhaft!“ und diesen Befehl göttlich nenne; – warum soll ich ihn nicht zugleich auf den andern hinweisen, der eben so göttlich ist, und jenem Befehle erst seine Würde, seine Bestimmung giebt? auf den Befehl: „sey glücklich!“ Warum treffen Sie bei allen Völkern weit früher den Glauben an Gott an als den Glauben an eine künftige Welt? So lange die Menschen noch in dem einfachen Naturzustande lebten, wo das Glück leicht, Zufriedenheit die einfache Folge der erfüllten Pflicht, Tugend und Glück Eins waren, und die Tugend noch nicht zur Quelle von Thränen wurde, die Erfüllung der Pflicht noch nicht zu Kummer zwang: so lange bedurfte man der Lehre von einem künftigen Leben nicht, um die moralische Natur des Menschen zu retten. Da war das große Räthsel: giebt die Tugend Glück? schon in diesem Leben gelös't, die Güte, die Weisheit Gottes gerechtfertigt; der Tugendhafte durfte noch nicht die trostlosen Blicke über das Grab hinauswerfen, um dort den Lohn seiner Tugend zu suchen, den er noch diesseits des Grabes fand. Nein, lieber Herr Baron, leugnen Sie doch diese einfache Wahrheit nicht mit Spitzfündigkeiten ab. „Sey tugendhaft! sey glücklich!“ Diese beiden göttlichen Stimmen tönen mit gleicher Stärke in unserer Seele. Auf sie baue ich die Moral; sie sind Eins, beide göttlich! Thue ich unrecht, wenn ich sie beide verehre, wenn ich sie beide dem harten, leichtsinnigen Menschen laut zurufe? „Sey tugendhaft, um glücklich zu seyn! Werde glücklich; Tugend ist Glück.“ Ich kenne nichts Menschlicheres, nichts Erhabneres, nichts Begreiflicheres als diese Lehre. Eine allein schafft Verbrechen, oder macht die Tugend zu einem Gespenste, das beständig den Dolch auf die Natur des Menschen zuckt.

„Aber, Sie können doch nicht läugnen, Grumbach, daß es erhabner wäre, bloß weil es Befehl der Vernunft ist, tugendhaft zu seyn.“

O, lieber Herr Baron, was könnte man nicht heraus klügeln! Es wäre vielleicht erhabner, wenn die Bäume ohne Wurzeln in freier Luft ständen; aber sie stehen nun einmal nicht so, und sollten nicht so stehen. Wir haben mit Menschen zu thun, Herr Baron, mit rohen Menschen, die man, wenn es seyn müßte, selbst durch den gröbsten Eigennutz nur erst an die Tugend gewöhnen sollte. Sie sind kaum Menschen, und sollen Philosophen seyn.

Der Baron disputirte noch lange mit Grumbach, ohne daß einer von ihnen (wie das sehr oft so geht) seine Meinung aufgab. Auch mochten sie Beide (wie das ebenfalls oft so geht) wohl mehr eins seyn, als sie dachten. Aber ihr Streit endigte sich wie eine Disputation; sie wußten bald nicht mehr, was sie behaupteten, waren von der eigentlichen Frage abgekommen, und stritten zuletzt über die: ob der Dämon des Sokrates ein wirkliches Wesen oder nichts weiter als das Ahnungsvermögen des Philosophen gewesen sey. Der Baron behauptete das Erstere, und gab sogar nicht undeutlich zu verstehen, daß wohl mehr Menschen einen solchen Dämon gehabt haben möchten, und noch hätten. Das ließ Grumbach hingehen, so sehr er auch sonst, nach seinem Systeme, gegen alle Irrthümer zu Felde zog. Er war froh, daß der Baron nicht weiter darauf fiel, wie schon einmal im Gange der Streitigkeit, der Probe wegen alle seine Bauern zu Philosophen zu machen, und sie dann selbst zwischen Tugend und Glück wählen zu lassen.

Der Baron hatte nun einmal die Bahn gebrochen. Er disputirte jetzt auch mit Lissow über das Wesen der Tugend, dann mit dem Prediger, und endlich sogar mit dem kleinen Amtmanne. Bei diesem kam er aber sehr übel an. Die Andern waren doch wenigstens mit ihm der Meinung, daß in der menschlichen Vernunft sich das Gesetz: sey tugendhaft! befinde; der Amtmann aber läugnete dies ab, und behauptete geradezu das Gegentheil. Er war so listig, oder des Philosophirens so ungewohnt, daß er dem Baron alles zugab, was dieser voranschickte; wenn aber der Baron nun triumphirend mit seinem „folglich“ kam, so hatte er leere Aehren gedroschen. Der Amtmann sagte ruhig: das läßt es wohl bleiben, Ihr Gnaden. Nichts von einem Befehl: sey tugendhaft! Umgekehrt. Der Mensch hat mehr Lust zum Bösen als zum Guten. Das muß ja jeder zugeben, der an die Erbsünde glaubt. – „Ich rede ja allein von der Vernunft, lieber Amtmann“, sagte der Baron; „von der Sinnlichkeit sage ich ja kein Wort.“ – Das ist einerlei, Ihr Gnaden, erwiederte der Amtmann. Er gab nicht nach, bis Grumbach sich hineinmischte, und ihn fragte: „glauben Sie denn, daß der Mensch ein Gewissen hat?“ – Ja, das ist etwas Anderes. – „Nun, was befiehlt denn das Gewissen?“ – Ei, das befiehlt, nichts Böses zu thun; aber das Gewissen ist hier in der Brust, und nicht, wie der Herr Baron sagt, im Kopfe, wo die Vernunft sitzt. – Der Amtmann war ein Philosoph nach seiner Art; er verlegte das Gewissen dahin, wo er vielleicht einmal Aengstlichkeit über eine begangene Ungerechtigkeit fühlte. Und hatte er damit wohl Unrecht? Genug, er war nicht zu überzeugen. Er blieb steif und fest bei seinem Satze, und berief sich auf sein Gefühl.

So zankte man sich täglich über Pflicht, Recht, Vernunft, Glück und tausend andere solche Dinge. Der Amtmann, der das oft mit anhören mußte, fand zuletzt Geschmack an diesen philosophischen Streitigkeiten, mischte sich mit hinein, und stritt so heftig wie kein Anderer, ob er gleich am wenigsten von der Sache begriff. Er verstand alles unrecht, verdrehete alles, und kam in der Hitze zu den seltsamsten Behauptungen. Die Andern sahen das sehr wohl; aber dennoch riß die Hitze sie fort, und sie disputirten mit Niemand mehr als mit dem Amtmann. Nachher lachten sie selbst über die Thorheit, mit einem Menschen zu streiten, der gar nicht wußte, wovon die Rede war. Allein der Amtmann fing sogleich wieder an; und sie begingen die Thorheit, ihn zu widerlegen, aufs neue. Er hatte eine Lunge, die zur Noth den Mars beim Homer überschreien konnte. Nun ließ er jeden nur zur Hälfte ausreden, und fing dann mit einem: „Ja, aber“ – wieder an. Ueberzeugen konnte man ihn nicht. Die Andern wurden zuweilen blau und roth vor Aerger; allein desto größer war sein Triumph, daß er solche Philosophen bloß mit Hülfe seiner gesunden Vernunft besiegen konnte. Sie nahmen es sich hundertmal vor, ihm gar nicht mehr Rede zu stehen; aber des kleinen Mannes stolze Freude, wenn er einen Einwurf gemacht hatte, brachte den Angegriffenen am Ende aus dem Gleichgewichte. Zuweilen schlug er sich auch wohl zu der Parthei eines Angegriffenen, und focht als Sekundant mit; dann hatte er zuletzt alle Streiter gegen sich, und nun drehete der kleine runde Mann sich wie ein Kräusel umher, jedem zu antworten.

Er blieb kalt wie Eis, und seine Miene triumphirend. Das verwirrteste Zeug sagte er mit gutherziger Unerschrockenheit her; auch schlug er wohl einem, der seiner Meinung nach etwas Unverständiges vorgebracht hatte, mitleidig lächelnd auf die Achsel, und sagte: ei, ei! was war das! Man ging ihm aus dem Wege; aber das half nicht. Er suchte die Andren auf, und fing an. Man schwieg, und ließ ihn allein reden; doch endlich antwortete Jemand: und nun gab es wieder die vorige Scene.

Als der Amtmann durch das viele Disputiren einige Kunstwörter gelernt hatte, und wußte, daß man definiren muß, wurde er immer hitziger. Nicht selten gerieth der Baron, der am wenigsten schweigen konnte, und noch immer den Amtmann einigermaßen zu belehren hoffte, über ihn so in Aerger, daß er Tugend, Glück, Recht und Pflicht hätte verwünschen mögen. Kurz, der Amtmann brachte es zu Karolinens und Iglou's großer Freude sehr bald dahin, daß nicht mehr disputiert werden durfte. Sobald nur der Baron, der es denn doch nicht ganz unterlassen konnte, wieder anfing, so hatte er unvermeidlich den Amtmann gegen sich. Wer den Baron bloß in diesem Zeitraum gesehen hätte, würde auch nicht Eine von seinen gewöhnlichen Grillen an ihm bemerkt haben; denn so wie er eine Behauptung machte, fragte der Amtmann den Augenblick: Herr Baron, was verstehen Sie unter einer Menschen-Race? oder sonst etwas.

Der Prediger, der am wenigsten Theil an dem Disputiren genommen hatte, fand dieses Mittel unvergleichlich, den Baron von einer Menge Behauptungen zurückzubringen. Sobald Flaming seine Paradoxa nicht mehr sagen durfte, verloren sie allen Reitz für ihn; und vorbringen durfte er nicht Eins mehr, wenn er nicht sogleich die ganze Beredtsamkeit des Amtmanns fühlen wollte. Der gute Amtmann war, ohne es zu wissen, der Beschützer aller in Zaringen gemachten Veranstaltungen. Den Unterricht in der Schule fand der Baron eigentlich viel zu einfach, und die Beweise zu schlicht, zu unphilosophisch. Das sagte er auch dem alten Grumbach. Dieser hatte aber ebenfalls bemerkt, wie fürchterlich der Amtmann dem Baron geworden war. Er fing also das Gespräch in dessen Gegenwart noch einmal an, und nun trieb der Amtmann mit seiner Lunge den Baron richtig in die Enge. Der Baron war in ganzem Ernst über den Slaven aufgebracht, und schrieb in seine Tabelle, aber ohne es laut werden zu lassen: „Die Slaven sind unausstehliche Streiter. Das Unglück ist, sie begreifen keine Idee, und glauben doch, sie begriffen zu haben. Sie ersetzen den Mangel an philosophischem Geiste durch ihre starke Lunge.“

Der Prediger und seine Schwester hatten Recht; der Baron störte das Glück seiner Unterthanen nicht: es gefiel ihm sogar, daß manche Sitten, die er für Celtisch hielt, eingeführt waren. Daß alle Mädchen sangen, daß die jungen Bursche fast alle ein Instrument spielten, hatte seinen entschiedensten Beifall; und wollte er nun die kleinen Feste seiner Unterthanen einstellen, so fiel, wie er wohl sah, auch die Veranlassung weg, Musik zu treiben. So ließ er denn die Feste fortgehen. Aber bei dem Allen würde er dennoch dem Glücke der Menschen manche, und in der Folge unübersteigliche, Hindernisse in den Weg gelegt haben, wenn er nicht das Herz gehabt hätte, das Karoline ihm zutrauete. Alle seine Unterthanen waren bei den Sonntagstänzen, in den Spinnstuben, an ihren Versammlungsorten so glücklich; wie hätte der Baron es nun über sein Herz bringen können, dieses Glück zu stören! Er sprach, ehe das Tanzfest anging, mit großem Ernste dagegen; aber noch ehe es Abend wurde, schenkte er seinen Unterthanen etwas, um ihre Freude zu vermehren. Kurz, alles ging ohne Hinderniß und Störung seinen Weg.

Iglou war hier ganz an ihrem Orte. Mit der Liebe einer zärtlichen Tochter hing sie sehr bald an dem Alten, und er liebte sie eben so zärtlich wieder, obgleich ihre Geistesbildung von der seinen sehr verschieden war. Sie sprach in den erhabnen Sentenzen der Römer; der Alte in Sprichwörtern, die für das gemeine Leben paßten. Auch Lissow liebte Iglou wie das Bild seiner Trauer, wie den Nachhall seiner Empfindung. Ihre klagende Laute, ihr kummervoller Gesang, ihre hoffnungslose Liebe, deren Gegenstand sie Niemanden mehr sagte, stimmten so zu Lissows Empfindung, daß er dem zärtlich trauernden Mädchen sehr bald seine ganze Freundschaft schenkte. Er hing mit unbeschreiblicher Innigkeit an Iglou, oder vielmehr an ihrem Gesange und an ihrer Laute. Auch der Prediger und seine Schwester gewöhnten sich in Kurzem an sie; und jener sagte mehr als Einmal: wie der Baron, da er doch das Herz und den Geist dieser Schwarzen kennt, sein Menschenracen-System nur noch erwähnen kann, ist mir unbegreiflich. Der Amtmann allein mochte Iglou nicht leiden, und sagte einmal in Gegenwart des Barons: man hüte sich vor denen, die Gott gezeichnet hat! Das nahm der Baron sehr übel. Er warf dem Amtmann einen verachtenden Blick zu, und sagte, gänzlich gegen seine Gewohnheit, spöttisch: „Herr Amtmann, wenigstens sollten Sie nicht von Zeichnen sprechen! ... Gütiger Himmel! Diese Iglou hat den Körper einer Negerin; aber ihre Seele ist rein wie das Licht des Himmels.“

Iglou blieb nicht lange unthätig; sie ging mit in die Schule, und unterrichtete. Der alte Grumbach erstaunte über die Energie, über das Feuer, womit sie von Tugend und Laster sprach. Ihre Sentenzen waren dann wie Blitze, welche das heilige Dunkel ihrer Rede auf einen Augenblick erhellten. Sie konnte ihren Ideen nicht den hohen Grad von Deutlichkeit geben, den der Unterricht erfordert; dagegen redete sie von irgend einer Tugend, über irgend eine edle That, die sie erzählt hatte, mit einem so ergreifenden Feuer, mit einer so großen inneren Bewegung, daß sie auch die größeren Kinder begeisterte. Sie schloß gewöhnlich mit einigen gedankenreichen Sentenzen, oder auch wohl mit einfachen Versen, die sie nach der Unterrichtsstunde den versammelten Kindern zu ihrer Laute sang. Hinterher kam dann der alte Grumbach, und wählte fast immer denselben Gegenstand, den Iglou gehabt hatte. Er machte alles mit Beispielen deutlich, erklärte was dunkel geblieben war, und brachte so die Wahrheit, mit der Iglou vorher das ganze Herz erfüllt hatte, auch in den Verstand.

Sie fehlte noch den erwachsenen Mädchen in Zaringen. Karoline war diesen bisher die Göttin der Freude und der Fröhlichkeit gewesen; Iglou wurde ihnen die Göttin der keuschen, heiligen Tugend. Jene hatte die Mädchen mit hell klingender Stimme fröhliche Lieder der Liebe und der Freude gelehrt; sie hatte den Frühling gesungen. Iglou sang ihnen nun mit rührender Stimme hohe Lieder der Tugend, des jungfräulichen Stolzes, eines unbefleckten Herzens; sie sang die Ewigkeit. Bei Karolinens Liedern lächelten die Mädchen, und stimmten leise mit ein; ergriff aber Iglou die Laute, und stieg ihr Blick mit hohem Feuer gen Himmel, oder senkte er sich in stiller Bescheidenheit zu Boden: dann wagten die Mädchen kaum zu athmen, und ein besseres, edleres Gefühl hob sich in ihrer Brust. Sie sangen Karolinens Lieder, wenn sie beisammen waren; Iglou's einzelne Verse nur in der Einsamkeit. Iglou erwarb sich durch ihre Laute und ihren Gesang allgemeines Wohlwollen. Kannte man sie erst, so wurde sie auch geliebt; und diese Liebe nahm ihren eignen Charakter an: Ruhe und Erhabenheit.

Der Baron hatte unter diesen glücklichen Menschen so ziemlich vergessen, daß das Glück nicht in sein System gehörte. Er selbst war wieder heiter und glücklich geworden, und fing an, sich mehr für Grumbachs Plan zu interessiren. Wie er denn nun war – er wollte jetzt sogleich das vollkommne Glück herzaubern. Traf einen Bauer ein Unglück, so rief er: „ich bin ja reich, Grumbach; nehmen Sie, geben Sie, so viel Sie wollen.“ – Grumbach hatte jetzt Mühe, Flamings Freigebigkeit im Zügel zu halten. Mit Ihrer Güte, Herr Baron, sagte er, würden Sie die Bauern nachlässig und träge machen. Wir wollen dem Unglücklichen helfen, aber ihn auch fleißig bleiben lassen. Geben Sie dem Armen Arbeit, ein Stück Feld, ein Eigenthum; aber schenken Sie es ihm nicht. Er mag sich anstrengen, es durch Arbeit zu erwerben. Ein erarbeitetes Eigenthum ist dem Besitzer noch einmal so werth als eins, das man ihm geschenkt hat. Strecken Sie dem, der seine Ernte durch Hagelschlag verlor, Brot- und Saatkorn vor. Lassen Sie ihn mit seinem Schicksale kämpfen; das wird seinen Muth stärken, sein Vertrauen auf Gott und auf sich selbst beleben. Sehen Sie nicht ruhig zu, wenn Jemand durch Zufälle unglücklich wird; aber machen Sie nicht, daß Trägheit und Unaufmerksamkeit eben so viel gewinnen wie Fleiß und Nachdenken.

Es hielt schwer, den gutherzigen Baron zu dieser weisen Mäßigung zu bereden; doch mit Hülfe der Erfahrung gelang es dem klugen Alten, ihn zu überzeugen, daß die rechte Art zu helfen, weise Mäßigung, eine noch größere Tugend ist als rasches Aufwallen. So kam endlich der Baron zu dem großen, edlen Gefühle, daß er eines Tages Iglou um den Hals fallen und rufen konnte: „Iglou! es ist kein unglücklicher, kein böser Mensch unter allen meinen Unterthanen!“ – Keiner? fragte Iglou bedeutend. – „Keiner!“ antwortete der Baron mit unverstellter Freude. Iglou schwieg, ob ihr gleich die Worte auf den Lippen schwebten: und wenn ich nun unglücklich wäre? Sie unterdrückte die Frage, weil sie sich schämte, unter so Vielen, die hier glücklich waren, es nicht auch selbst zu seyn. Sie konnte es nicht seyn; denn sie liebte noch immer.

Iglou unterhielt mit Emilien einen steten Briefwechsel. Diese schrieb ihr: der Wilde im Hochwalde sey wieder in seine alte Melancholie zurückgefallen; er habe sich erkundigt, wo Iglou sich jetzt aufhalte, und sey, als er die Gegend erfahren, auf einmal verschwunden. Vermuthlich werde er sie aufsuchen. Iglou sprach mit dem Förster darüber, und bat ihn, ihr sogleich Nachricht zu geben, wenn ein Mensch von der und der Gestalt sich etwa sehen ließe. Nach einiger Zeit sagte ihr der Förster, daß ein solcher Mensch sich schon seit einigen Tagen bei den Köhlern im Walde aufgehalten habe. Der Beschreibung nach mußte es der Wilde seyn, nur jetzt noch in größerer Verzweiflung als ehemals.

Iglou nahm sogleich ihre Laute, die Trösterin seines Kummers, und ging mit dem Förster in den Wald. Der Wilde – er war es wirklich – saß in der alten Stellung an einer Tanne, mit noch bleicherem Gesichte als sonst. So wie Iglou die ersten Töne der Laute anschlug, sprang er auf, lief zu ihr hin, stürzte mit Heftigkeit ihr zu Füßen, und sagte mit unterdrückter Stimme: o du! du! konntest du mich in dem Elende verlassen?

Armer Mensch! sagte Iglou, und reichte ihm die Hand, die er auf sein schlagendes Herz drückte –: ich will mich nie wieder von dir trennen. Er setzte sich zu ihren Füßen, und betrachtete die tröstende Laute mit begierigen Blicken. Iglou spielte und sang; da quollen Thränen aus seinen Augen hervor. Thränen, sagte Iglou, erleichtern das Herz! – Ach, erwiederte er; seitdem du weg warst, keine Thräne! Mein Herz war trocken!

Iglou versprach ihm, alle Tage zu kommen, und hielt Wort. Sie öffnete sein Herz endlich wieder. Nun versuchte sie oft, durch Bitten ihn zu bewegen, daß er mit nach Zaringen ginge; aber er blieb bei seinem Kopfschütteln, selbst wenn sie ihm drohete, daß sie ihn sonst verlassen wollte. Er floh alle Menschen, und wohnte in einer einzelnen Köhlerhütte. Grumbach gab Iglou allerlei Anschläge, wie sie den Unglücklichen in das Dorf locken könnte; doch sie mißlangen alle, und Gewalt wollte man nicht brauchen. Niemand bekam ihn nun zu sehen; er entfloh, so bald er eine menschliche Gestalt erblickte, die nicht Iglou, nicht sein Köhler war.

Der Baron wollte ihm zwar allerlei Bequemlichkeiten geben; aber er nahm keine an. Mancherlei Versuche, ihn menschlich zu machen, mißlangen sämmtlich. Er sprach mit Niemanden ein Wort, ausgenommen mit Iglou; und auch mit der nur wenig. Iglou suchte nun, auf Grumbachs Anrathen, ihm sein Geheimniß zu entreißen; allein er hielt es mit fürchterlicher Verzweiflung fest. Er zitterte, seine Blicke wurden wild, wenn sie ihn um sein Verbrechen fragte, und er antwortete nur mit Tönen des heftigsten Schmerzes. Iglou mußte ablassen, weil alle ihre Versuche weiter nichts als eine ganz unnütze Marter waren.

Schon hatte der siebenjährige Krieg über ein Jahr lang gewüthet, und noch war die Gegend von Zaringen verschont geblieben; aber jetzt näherte sich der Feind zu allgemeinem Schrecken. Die Köhler gingen in das Dorf zurück, und der Wilde mußte allein bleiben. Iglou war schmerzlich besorgt um ihn, da die Straßen anfingen unsicher zu werden. Sie bat ihn dringend, mit ihr in das Dorf zu gehen. „Sieh, armer Mensch“, sagte sie mitleidig; „die Kosaken schwärmen hier umher. Wenn sie dich fänden, so würden sie dich vielleicht tödten.“ – Tödten? rief der Wilde mit dem Tone der Freude. O tödten! – „Die Wege sind nicht mehr sicher; ich kann nicht mehr zu dir kommen.“ Er hob den Blick klagend in die Wolken; aber er blieb bei seinem: nein, nein! ich mag keinen Menschen sehen.

Iglou war schon öfters in Gesellschaft Anderer in den Wald gegangen, und der Wilde hatte sich dann sogleich verborgen. Grumbach schlug vor, sie sollte einmal ein paar Kinder mit sich nehmen, weil vielleicht deren Unschuld ihn menschlicher machen würde. Sie nahm nun Lissows beide Kinder mit, von denen der Knabe jetzt ungefähr zehn, und das Mädchen acht Jahre alt war. Der alte Großvater unterrichtete Beide in ihrer Rolle, und die kleine Jakobine meinte, sie wollte den wilden Mann wohl bereden, aus dem dunkeln Walde in das Dorf zu kommen.

Iglou ging mit den Kindern bei lehrenden Gesprächen in den Wald. Da saß der Wilde unter einer Tanne, und hatte das Gesicht in die Hände gelegt. Sie winkte den beiden Kindern, sich an ihre Seite zu setzen, und fing nun an, eine tröstende Melodie zu spielen. Der Wilde stand auf, und warf einen Blick auf Iglou. Als er die Kinder sah, blieb er einen Augenblick stehen; dann wendete er sich um, und ging in den Wald, doch langsam, ohne zu fliehen, was er sonst immer that, wenn er jemand bei Iglou sah.

Iglou hoffte lange vergebens, daß er zurückkommen sollte, und ging endlich wieder nach dem Dorfe. Am folgenden Tage nahm sie die Kinder abermals mit in den Wald. Der Wilde stand auf, als Iglou anfing zu spielen, und sah die Kinder lange an. Er blieb in der Ferne stehen, und setzte sich endlich sogar nieder. Iglou nahte sich ihm nun. Da stand er wieder auf, betrachtete die Kinder, aber nicht mit wilden Blicken, und ging langsam in das Dickicht. Iglou schöpfte aus diesem Vorbedeutungszeichen gute Hoffnung. Einige Tage nachher ertrug der Wilde es schon, daß sie sich mit den Kleinen ihm näherte. Er betrachtete die Kinder nachdenkend, aber er sprach nicht. Einmal fing die kleine Jakobine ein Liedchen an, das Iglou sie gelehrt hatte. „Sieh, armer Mensch“, sagte Iglou; „wenn ich todt bin, so soll diese dir vorsingen.“ Die kleine Jakobine faßte seine Hand, und sagte: ja, das will ich, und recht gern. Der Wilde schien das Kind mit Wohlgefallen zu betrachten, und reichte ihm beim Weggehen die Hand, die er selbst Iglou nicht gab. So wurde er täglich gegen die Kleinen vertraulicher, und in eben dem Grade auch menschlicher und heitrer. Iglou konnte ihn nun schon oft eine ganze Stunde mit Beiden allein lassen.

Eines Tages hatten die Kinder den Auftrag, recht sehr in ihn zu dringen, daß er mit in das Dorf hinuntergehen möchte. Iglou, die in einiger Entfernung geblieben war, hörte auf einmal einen lauten entsetzlichen Schrei, und eilte aus dem Gebüsche zu dem Wilden hin. Sie sah die Kinder beschäftigt, ihn wieder aufzurichten. Eine Todesblässe hatte sein ganzes Gesicht überzogen; seine Augen waren starr, sein ganzer Körper wie ohne Leben. Iglou fragte: was vorgegangen wäre. Nichts, antwortete Jakobine; er versprach uns, mit in das Dorf zu dem Baron zu gehen, und da fiel er auf einmal hinten über. Es muß ihm etwas weh gethan haben. – Iglou fragte den Wilden selbst. Er sah sie mit furchtsamen Blicken an, und antwortete nicht.

Die Kinder baten ihn, er möchte sein Versprechen, mit ihnen in das Dorf zu gehen, nun erfüllen. Sie suchten ihn aufzurichten, und faßten, als er aufgestanden war, seine beiden Hände. Er folgte schweigend, wohin man ihn führte. Am Ausgange des Waldes blieb er einen Augenblick stehen, und warf scheue, furchtsame Blicke auf die Kinder, auf Iglou. Ich weiß, ich weiß! sagte er; die Stunde der Rache! Engel des Gerichts! ich folge!

O rächende Hand des Himmels! Es war der Ritter Rheinfelden, den quälende Furien nun schon Jahre lang umher getrieben hatten. Er sprengte von Jakobinens Sarge nach Berlin, und das Geschrei der Verzweiflung, mit bangem Aechzen untermischt, flog ihm, von Friedrichsfelde her, nach. In Berlin verschloß er sich acht Tage in sein Zimmer. Bald schien ihm alles, was er gesehen hatte, ein Traum, bald wieder gräßlichste Wahrheit. Friedrichsfelde war ihm zu nahe; er wollte die fürchterliche Nachbarschaft fliehen, um seiner Qual zu entgehen. Aber wohin dringt die Gerechtigkeit des Himmels nicht! – Nun eilte er nach Paris, und stürzte sich in den Strom der Freuden. Vergebens; mitten aus dem Taumel des Tanzes rief ihm Lissows und Jakobinens schreckliche Stimme unaufhörlich zu: wehe, wehe! Mörder! Er floh nach London. Die Furie verließ ihn auch dort nicht, und vergiftete den Becher der Freude an seinem Munde. Er suchte die Gesellschaft der wildesten Wüstlinge, der entschlossensten Freigeister; aber es fehlte ihm an Muth, zu sündigen. Er lästerte Gott, spottete der Unsterblichkeit; vergebens! Tugend und Verbrechen sind darin eins, daß sie beide einen Richter und eine ewige Fortdauer glauben. Jakobinens Gestalt machte ihm das Leben zur Hölle, und schreckte ihn zugleich von dem Tode zurück. Schon oft hatte er seine Pistole geladen; aber er zitterte, Jakobinen im Grabe wieder zu finden. So trieb ihn die Angst umher. Endlich hoffte er nicht länger, der Furie, die ihn verfolgte, zu entfliehen, und stand wie ein Opferthier still. Die Kräfte seines Körpers waren ermattet, und mit ihnen die wilden Ausbrüche seiner Verzweiflung. Nun überfiel ein stiller Trübsinn, eine quälende Melancholie seine Seele; aber mitten in diesem halben Wahnsinne blieb er sich seines Verbrechens bewußt. Er floh auf einer Reise von seinen Gütern in den Wald bei Büdesheim; hier schuf die Einsamkeit eine neue Welt vor seinen Blicken. Jakobine stand bleich, starr, todt, und dennoch klagend, überall vor seinen Augen. Er fühlte doppelten wilden Schmerz: die Qualen des Lebens, und das Gericht jenseits des Grabes. Immer tiefer drückte sich das Bild der rächenden Jakobine in seine Seele; immer dunkler wurden die Bilder der Gegenwart.

Nun kam Iglou, wie ein tröstender Engel des Himmels, und goß durch die sanften Töne ihrer Laute einige Ruhe in seine tobende Brust. Sie richtete seine in trauernden Wahnsinn versinkende Seele auf, und ließ ihm den ersten Lichtstrahl der Hoffnung wieder schimmern. Ihre Erscheinung hatte so viel Geheimnißvolles, daß er sie mehr für ein Wesen aus jener Welt hielt als für einen Menschen. Diesen Irrthum beförderten ihre Farbe, ihr Spiel, ihre Gesänge, und seine verirrte Seele. So blieb der Unglückliche doch nicht ohne allen Trost; Iglou war ihm ein Unterpfand für die wiederkehrende Gnade des Himmels. Seine Vorstellungen über sie wurden nie ganz deutlich; ihr stilles Kommen und Gehen bestärkte ihn in der Meinung, daß sie ein vom Himmel gesandtes Wesen sey. Er vermischte die Wirklichkeit mit seinen überirdischen Vorstellungen; und immer blieb ihm Iglou bald ein Mensch, bald ein Geist. Genug, sein Glück hing von ihr ab. Seine Verzweiflung löste sich, so lange sie ihn täglich besuchte, immer mehr in eine tröstende Reue auf; sein Wahnsinn wurde milder, und er fing wieder an zu hoffen. Aber auf einmal verschwand Iglou, und nun sank er nach und nach in seinen vorigen Zustand zurück.

Er rang trostlos die Hände, daß sein Schutzgeist nicht mehr da war. „Der Engel, der mich tröstete, ist verschwunden!“ sagte der Unglückliche zu dem Förster, der ihn aufzuheitern suchte. – Du meinst die Mohrin? fragte der Förster. Die ist mit dem Baron abgereist. Der Ritter erkundigte sich, wohin, und war doch des Entschlusses fähig, seine Trösterin wieder aufzusuchen. Er verließ nach einiger Zeit den Wald bei Büdesheim, und ging in tiefer Schwermuth bis nach Zaringen. Ein Bauer, an den er sich wendete, sagte ihm, daß eine Mohrin, welche die Laute spielte, hier im Orte wäre. Der Ritter ging nun in den Wald, und schon die Nähe seiner Freundin schien ihn zu trösten. Er sah Iglou wieder, eben so unvermuthet wie das erste Mal; und seine alte Vorstellung, sie sey ein tröstender Geist, den der Himmel ihm sende, erwachte in ihrer vollen Stärke.

Jetzt kam Iglou mit den Kindern, und seine ganze Seele wurde von neuen Phantasien ergriffen. Er gewöhnte sich an die Kinder, weil ihre Unschuld seinem Herzen wohl that. In stetem Schwanken zwischen Wahrheit und Phantasie hielt er sie bald für Engel, bald wieder für Menschen. Nun drangen sie in ihn, daß er mit ihnen in das Dorf gehen sollte. Fürchte dich nicht, lieber wilder Mann! sagte die kleine Jakobine; wir wollen dich an einen guten Ort führen. Er fragte das Kind mit einem starren Blicke: wohin? An einen Ort, erwiederte das kleine Mädchen liebkosend, wo es dir wohl gehen soll. – Ich weiß, sagte er bedeutend, wohin ihr Befehl habt mich zu bringen! ... Sage mir doch, fuhr er fort, wer du bist, und wie du heißest.

Das kleine Mädchen antwortete freundlich: ich heiße Jakobine! Auf einmal durchstrahlte ein furchtbares Licht seine verwirrte, gespannte Phantasie. „Und ich heiße Lissow!“ rief der Knabe. – Jakobine! Lissow! Da standen die beiden Ermordeten in Engelsgestalt vor ihm. Er schrie vor Schrecken auf, stürzte, von dem Schauer der Geisterwelt ergriffen, hinten über, und wagte es nicht, sein Auge zu erheben.

Jetzt kam Iglou, und half ihn aufrichten. Er folgte, wohin man ihn führte, weil seine Phantasie zerrüttet und seine Sinne, wie seine Sprache, ihm genommen waren. Der kleine Lissow lief voraus, um seine Ankunft zu melden, und ging ihm dann wieder entgegen.

So kam der Ritter endlich an das Dorf, und wurde durch den Garten geführt. Nach und nach war er von seiner Verzückung und Betäubung zurückgekommen. Die Häuser, die er sah, die Landleute, die ihm begegneten und ihn grüßten – alles sagte ihm, daß Menschen, und nicht Engel, ihn führten. Nur die Antworten der Kinder: „ich bin Jakobine! ich bin Lissow!“ blieben ihm räthselhaft. Er wollte schon wieder umkehren; aber er war noch zu zerstreuet. Die beiden Kinder führten ihn in den Gartensaal, wo Flaming, Grumbach und Lissow ihn mitleidig erwarteten, und wo Iglou mit der Laute schon bereit saß. Jakobine ging auf Lissow zu, und sagte: hier, Vater, bringen wir ihn dir. Nicht wahr, du willst ihn lieb haben? Lissow sah den Ritter mitleidig an, und drückte dessen Hand. Der Ritter erkannte, so wie er die Augen aufschlug, Lissowen und Grumbachen, der neben ihm saß, auf den ersten Blick. Seine innere Angst wurde fürchterlich, und seine Brust flog. Er verbarg sein bleiches Gesicht, als ob man ihn nicht erkennen sollte, und suchte sich von Lissow loszureißen.

Lissow hielt seine Hand fest, und sagte zärtlich: Nein, lieber Unglücklicher; vertrauen Sie uns. Die Freundschaft soll Sie trösten, unsre Liebe den schwarzen Dämon, der Sie quält, verjagen. Rheinfelden schüttelte in großer Bewegung den Kopf. Grumbach faßte seine andre Hand, und sagte mit liebkosender Stimme: unglücklicher Mann, ich bin ein Greis geworden. Trauen Sie meiner Erfahrung; Reue und Tugend löschen alle Verbrechen aus. Der Ewige verzeihet ...

Aber ihr! rief Rheinfelden mit dumpfer, zitternder Stimme.

Wir? sagte Grumbach herzlich; wir armen, schwachen, der Vergebung so bedürftigen Menschen, sollten nicht vergeben, wenn der Ewige vergiebt? Kommen Sie an die Brust eines Greises. Ich verspreche Ihnen Versöhnung mit dem Himmel.

Ach! jammerte der Ritter; wird Jakobine ihrem Mörder verzeihen?

Lissow und Grumbach schrieen laut vor Schrecken auf, und flogen Beide von ihm zurück. „Er ist es!“ rief Lissow; „es ist der Teufel, der Jakobinen ermordete!“ Der Greis faltete die Hände fest zusammen, und in seinen Augen lag Abscheu, in den sich Mitleiden mischte. „Teufel!“ rief Lissow aufs neue; „was willst du?“ Der Ritter schwankte, und wäre zu Boden gestürzt, wenn der Baron ihn nicht aufgefangen hätte, in dessen Armen er nun zitternd, und wie vernichtet, liegen blieb. Vater! sagte Jakobine; du thust dem Unglücklichen weh!

Iglou stand zitternd da, bei dieser Scene des Schreckens und der Angst. Lissow war außer sich; und auch der Alte wußte nicht; was er thun, was er sprechen sollte. Iglou sagte laut: o verzeiht ihm! auch der Ewige verzeiht! – Grumbach warf sich an Lissows Brust, dessen Zorn immer stärker entbrannte, und führte ihn mit sanfter Gewalt aus dem Saale.

Endlich erhielt der Ritter seine Besinnung wieder. Er sah ängstlich im Saale umher, und fragte: wie? wo? O, sagt mir, habe ich ihn gesehen? – Der Baron führte ihn zu dem Sofa, und Iglou setzte sich weinend und tröstend neben ihn. Er warf auf Iglou einen Blick, den ein sanftes Feuer belebte. O was, sagte er heimlich, was that ich dir, daß du mich hierher brachtest, du Grausame? Iglou umfaßte ihn, und sagte: wußte ich denn, wer du warst? ... O Gott im Himmel! ... Ich kannte dich nicht, meine Absicht war, dir zu helfen. Du bist Rheinfelden? O, Lissow wird dir vergeben, wie Jakobinens Kinder dir vergeben haben. – Die Kinder, die nicht begriffen, was vorging, und die der Ritter mit höchst seltsamen Blicken betrachtete, faßten seine Hände, und versicherten ihm, daß sie ihn liebten.

Der Baron, den die ganze Scene tief erschüttert hatte, lief hinaus zu Lissowen, umarmte ihn, und sagte in heftiger Bewegung: „lieber Lissow, wenn du kein Mitleiden mit dem Unglücklichen hast, der in Verzweiflung versinkt, so habe es mit mir. Sieh, ich will der Vater deiner Kinder seyn, will alles, was ich habe, mit ihnen theilen: mein Vermögen, mein Herz, mein Leben. Nur, ich beschwöre dich bei unserer Liebe, zerschmettre das Herz des unglücklichsten von allen Menschen nicht länger! Laß ihn ein Wort der Vergebung von dir hören; reiche ihm nur Einmal die Hand! Ich bitte dich auf meinen Knieen darum.“ Er wollte wirklich vor Lissow niederknieen.

Lissow stand zitternd, vor Schmerz glühend, da. Er hat Jakobinen ermordet!

„Ja; aber eine sechsjährige Hölle hat ihn dafür bestraft. Lissow, zeige nun, daß du ein Mensch bist!“

Auch der alte Grumbach bat ihn mit Thränen; und Lissow schwankte. Gott und Jakobine haben ihm vergeben, mein Sohn, sagte der Alte feierlich; laß uns nicht strenger seyn als sie! Jakobine bittet dich darum. Folge, Lissow!

Betäubt wurde Lissow wieder zu dem Gartensaale geführt, und der Baron öffnete die Thür. Da lag der Ritter vor Jakobinens Kindern auf den Knieen. Sie hatten ihre kleinen Arme um seinen Hals geschlungen, und benetzten ihn mit Thränen. Dies Schauspiel rührte Lissowen mehr als des Barons Bitten, und er ließ sich zu Rheinfelden hinführen, der nun aufsprang, so wie Lissow sich näherte. Dieser reichte ihm von weitem die Hand, und seine Lippen sagten das Wort: Vergebung! Der Ritter faßte seine Hand, drückte sie gewaltsam auf sein Herz, an seine Lippen, und rief: o Lissow! sagen Sie noch einmal: Vergebung! daß die Hölle nicht länger in meinem Herzen brenne.

Vergebung! sagte Lissow noch einmal. „Auch Versöhnung!“ rief Flaming, und drückte ihn näher zu Rheinfelden. Lissow legte sein Gesicht auf Flamings Schulter, und seine Arme öffneten sich, Jakobinens Mörder zu umfassen. Vergebung! rief der Ritter heftig und laut; aber nicht Versöhnung! Versöhnung dann, wenn Jakobine mir vergeben hat! – Er war mit schnellen Schritten an der Thüre, riß sie auf, rief noch einmal: Vergebung! und verschwand in einem Augenblicke. Der Baron eilte ihm nach; aber er flog schnell über das Feld, und verlor sich in den Wald. –

O, wie streng und wie gütig ist die Gerechtigkeit des Himmels! Sie zerschmettert und heilt; sie treibt mit ihren Donnern den Verbrecher über die Erde, und er findet Vergebung, wenn ihn so eben der Abgrund der Verzweiflung zu verschlingen droht! Diese Betrachtungen, die Flaming und Grumbach anstellten, öffneten Lissows Herz der Versöhnung. Durch den unvermutheten Anblick des Menschen, der seine Jakobine ermordet hatte, waren alle die entschlummerten Gefühle seiner ehemaligen Verzweiflung aufs neue geweckt. Aber jetzt sanken diese Gefühle wieder in sein Herz zurück. Die Gestalt des unglücklichen Ritters blieb vor seiner Seele stehen, und forderte Mitleiden, das ein menschliches Herz nie lange versagen kann.

Iglou mußte ihm erzählen, wie sie mit Rheinfelden bekannt geworden war. Ihre Schilderung von den unbeschreiblichen Martern des Ritters vollendete die Versöhnung in Lissows Herzen. Er fühlte keine Liebe zu ihm: Rheinfeldens Nahme und Andenken hatten noch immer für ihn etwas Fürchterliches; aber er dachte doch mit großem Mitleiden an dessen Qualen. Ohne daß es ein Mensch wußte, ging er in der Nacht mit dem Förster hinaus zu den Köhlerhütten, und ließ sich die, worin Rheinfelden lebte, zeigen. Dort! sagte der Förster, und wendete Lissows Laterne auf eine derselben. Lissow näherte sich mit leisen Schritten, trat hinein, und beleuchtete den Elenden, der auf Stroh da lag. Die frische Farbe der Jugend, der Gesundheit war von dem einst schönen Gesichte geschwunden, das jetzt eine gelbe, von der Sonne verbrannte Haut bedeckte. In die Stirn hatte der Kummer Furchen gezogen; um den Mund und die Augen zeigten sich Spuren von den Verzückungen des Wahnsinnes. Die Hände waren lang, dürr und gekrümmt. Das einst so schöne blonde Haar hatte der Kummer grau gemacht, und es hing verwirrt um seine Schläfe. Selbst der Schlummer des Unglücklichen war unruhig, und voll schrecklicher Träume: er verzog jetzt den Mund zur Wuth, dann wieder zum Lächeln.

„Rheinfelden!“ rief Lissow mitleidig; „Rheinfelden!“ Der Ritter fuhr zusammen, und öffnete dann die Augen. Er erkannte Lissow nicht, weil dieser im Schatten stand. Lissow setzte die Laterne auf den Tisch, trat dem Lager näher, und sagte: „ich bin Lissow.“ Jetzt sprang der Ritter auf, und stand gebückt, zitternd, wie ein Verbrecher, da. Lissow hatte Mühe, die Empfindung des Hasses, die ihn aufs neue durchschauerte, zu unterdrücken; doch sagte er: „Rheinfelden, ich habe Ihnen vergeben, und bin hier, Ihnen das noch einmal zu wiederholen. Sie sind bestraft!“

Bestraft! sagte der Ritter, und hob die Hände zum Himmel auf. Ja, Lissow, ich bin das Ziel des göttlichen Zornes. Diese Brust ist der Ort aller Höllenqualen. O, keine Vorwürfe! Erbarmen mit dem elendesten aller Menschen!

„Ich bringe Ihnen Vergebung, Rheinfelden. Vergebung, Versöhnung, von mir, meinen Kindern und meinem Vater! Möge auch der Himmel Ihnen vergeben wie wir, Rheinfelden! Lassen Sie uns Abschied von einander nehmen, bis wir uns vor Jakobinens Augen wiederfinden! ... Ihr Anblick, Rheinfelden, erinnert mich so schrecklich an mein Unglück! ... Ich vergebe Ihnen; ja, ich vergebe Ihnen. Glauben Sie mir das. Aber, nun gehen Sie, und machen Sie Ihr Verbrechen durch große Tugenden wieder gut. Verzweifeln Sie nicht, und lassen Sie mich erfahren, daß Sie der Tugend wiedergegeben sind. Seyn Sie ein Freund der Unglücklichen. Sie können es seyn, da Sie ein großes Vermögen haben.“

Ein Strahl von Heiterkeit blitzte aus Rheinfeldens Augen hervor. Es war, als ob ein neues Leben ihn beseelte. Sie verzeihen mir, Lissow? fragte er. Lissow breitete zitternd die Arme aus, und erwiederte: „ich verzeihe Ihnen.“ Rheinfelden legte, ohne seine Arme zu heben, das Gesicht eine Minute lang an Lissows Herz, und sagte: so! Lissow schlang die Arme um ihn. „Haben Sie mich verstanden, Rheinfelden?“ – Ja! erwiederte dieser; ich lebe von nun an der Tugend: nur der Tugend, und Ihnen, Lissow; Ihnen und Ihren Kindern! Leben Sie wohl! Er stand traurig da. – „Erst Versöhnung, Rheinfelden!“ sagte Lissow, umfaßte ihn, hob sein Gesicht zu sich auf, und küßte seinen Mund. „Vor Jakobinen sehen wir uns wieder.“ – Lissow, sagte Rheinfelden betrübt; darf ich Sie nicht eher wiedersehen, als bis wir Staub sind? – „Kann Ihr Anblick mir Vergnügen machen?“ – Nein, das fühle ich; aber, wenn mein Anblick das einmal könnte: dann? – „Dann, Rheinfelden, sollen diese Arme Ihnen offen stehen. Gehen Sie, und söhnen Sie Sich mit Ihrem Herzen aus; mit mir sind Sie versöhnt. Leben Sie wohl!“

Iglou fand, als sie am folgenden Tage in den Wald ging, Rheinfelden ganz verändert: ernst, aber ruhig. Er bat Iglou, Lissowen zu verschweigen, daß sie ihn noch gesehen habe. Sie fragte ihn um seine Vorsätze; und er antwortete: Ich bin mein Leben, meine jetzige Ruhe Lissowen schuldig, und betrachte alles, was ich habe, was ich thun kann, als sein Eigenthum. Er führte Iglou durch das Dickicht, in ein verborgenes, kleines Thal, das rings von Dornen und fest in einander verwachsenem Gesträuch umgeben war. In diesem Thale stand eine Art von Hütte, welche die Köhler dem Ritter gebauet hatten. Hier, sagte er, wollte ich meine Verzweiflung begraben; und jetzt soll diese Hütte eine Zeitlang meine Wohnung seyn. Ich kann die Gegend noch nicht verlassen, wo ich so unglücklich, so hoffnungslos war, und nun wieder so reich an Hoffnung geworden bin. Du allein, meine theure Freundin, sollst meinen Aufenthalt wissen. Hier ist meine Welt, bis ich erst wieder Herr dieses Kopfes und dieses Herzens seyn werde. Ach! ich brauche Zeit, meinen Geist von den Wunden zu heilen, welche Verbrechen und Verzweiflung ihm geschlagen haben.

Iglou sagte: „Einsamkeit heilt ihn wohl nicht. Zerstreuung, lieber Unglücklicher!“ – Zerstreuung für den, der vergessen will; ich will nicht vergessen, will mein Geschick mit Flammenschrift in meine Seele graben. Verzweiflung hat mich in der Einsamkeit wahnsinnig gemacht; Freude über die Versöhnung mit Lissow wird mich in der Einsamkeit heilen. Nein, Iglou, ich werde den Mann, den ich so unmenschlich beleidigt habe, nie verlassen. Wie sein Schatten, wie sein Schutzgeist, will ich um ihn, um Jakobinens Kinder schweben. Nur für ihn und sie lebe ich noch. Hier will ich wohnen, und du wirst mich nicht ganz verlassen. – „Das werde ich nicht“, erwiederte Iglou. – Und nicht verrathen, daß ich noch hier bin. – „Auch das nicht.“

Iglou merkte sich genau den Weg, der in seine Einsamkeit führte. Sie versprach ihm nach einigen Tagen Bücher. Er sagte: ich habe mein ganzes Leben genug zu denken, und bedarf keiner Bücher. Sie bot ihm Bequemlichkeiten an; aber er hatte mit Hülfe seines Köhlers schon für alles gesorgt. Mir fehlt nichts, sagte er, als deine Laute, dein tröstender Gesang, und ein Leben voll Tugend, um mein Verbrechen auszulöschen.

Der Baron sagte, als man von dem Schicksale des Ritters sprach: „da seht ihr, was blondes Haar thut! Ein Schwarzkopf würde Lissowen verlacht und ein andres Weib für seine Wollust gesucht haben. Der Celte kann fallen, das gestehe ich zu, ob ich gleich nicht begreife, wie er auch das nur kann; aber sein Herz ist für die Tugend geschaffen, und Reue söhnt es bald wieder mit dem Himmel aus.“

Und mein Herz? fragte Iglou.

„Dein Herz, liebe Iglou? Gott mag wissen, woher du das edle Herz bekommen hast! Aber, wahrlich, so schwarz du auch bist, ich halte dich doch für die edelste Celtin auf der Erde.“ – Iglou lächelte dankbar auch für dieses Lob; sie wußte, wie viel es in seinem Munde war. „Und dann, wenn ich es recht bedenke“, fing der Baron wieder an – „was hat Rheinfelden denn Großes gethan? Ein Verbrechen begangen; das weiß ich. Aber dafür ist er bestraft, oder vielmehr, er hat sich selbst dafür bestraft. Doch was hat er dir gethan, Lissow, daß du ihn je hassen konntest? Das frage ich.“

Wie, lieber Flaming? das fragst du? Er hat mir das Glück meines Lebens geraubt, hat Jakobinen ermordet.

„Seltsamer Mensch! auch die Natur hätte sie einige Jahre später getödtet; wirst du darum die Natur hassen?“

O, ich bitte dich, vernünftle nicht so wunderbar! Er hat mich höchst unglücklich gemacht.

„Unglücklich? Der Philosoph Demetrius sagt: der ist der Unglücklichste, dem niemals ein Unglück begegnete!“

Nimm es mir nicht übel, Baron, dein Demetrius ist ein Narr.

„Ein Narr, Lissow? Ich bitte dich, sey nicht ungerecht! Ihr macht es mir immer zum Vorwurfe, daß ich lauter Paradoxa vortrage. Aber in diesem Satze ist doch die allgemeine Menschenvernunft auf meiner Seite. Ich bitte dich, stelle den weichlichen Mäcenas, der in einem Meere von Freuden schwamm, gegen Sokrates, der den Giftbecher trank, oder gegen Mucius, der seine Hand in die Flamme hielt: und nun frage die ganze Erde durch. So weichlich unser Jahrhundert auch ist, so herrscht doch Verderbniß der Sitten noch nicht so unumschränkt, daß nicht die Meisten lieber Sokrates und Mucius gewesen seyn möchten als Mäcenas. Frag jeden, ob Mucius mit der Hand in den Flammen ihm nicht besser gefällt als ein Andrer mit der Hand in dem weichen Busen seiner Geliebten; ob ihnen Sokrates mit dem Giftbecher nicht lieber ist als ein Glücklicher mit einem Glase Champagner vor den Lippen? Ist nun aber, sage selbst, das ein Unglück, was die meisten Menschen wünschen? Ist der ein Unglücklicher, den alle Menschen beneiden? Ich liebe dich, Lissow, und würde dich lieben, auch wenn du immer glücklich gewesen wärest. Aber jetzt achte ich dich auch; denn dein Unglück hat mir dein Herz gezeigt. Du hast erst durch Jakobinens Verlust dich selbst kennen und schätzen lernen. Jetzt weißt du, welche Kräfte in dir liegen, was du vermagst; und auch ich weiß nun, welch einen Freund ich an dir haben würde, wenn mich Noth träfe. Nun? darfst du wohl den Menschen hassen, der dich veranlaßte, deine Kräfte zu üben, stärker zu werden? Und that das der Ritter nicht?“

Jetzt kannst du wohl philosophiren; aber verliere nur einmal eine Geliebte!

„Ich habe eine verloren!“

Spotte nicht mit deinem Herzen, mit der Vorsehung, lieber Flaming!

„Du nennst es Spott der Vorsehung, wenn ich wünsche, sie möchte mich für würdig halten, an mir zu zeigen, wie stark der Mensch seyn kann? In der That, Lissow; dann erst würde ich mich glücklich schätzen, wenn ich unglücklich würde. Ist der tapfre, unerschrockne Mann, den der Heerführer zu einer gefährlichen Unternehmung auswählt, weil er sich auf diesen Muth verläßt, darum unglücklich? Gewiß, ich würde in diesem Falle glücklich sein!“

Der Himmel behüte dich, Flaming! Aber, wenn du nun auf einmal alles Vermögen verlörest; alles, alles!

„Ich wäre nicht so arm, wie ich war, als ich geboren wurde.“

Nun, ich wollte doch sehen, was für Augen du machen würdest, wenn man dein Haus, dein Dorf anzündete, und die Flamme es verzehrte!

„Was für Augen? Wie ich sie immer habe. Dann würde ich große Augen machen, wenn die Flamme es nicht verzehrte. Ist es nicht natürlich, daß die Flamme brennt?“

Wenn man dich aus deinem Vaterlande verbannte!

„Ich würde gehen. Muß ich es doch einmal verlassen, ohne verbannt zu seyn.“

Wenn Ungerechtigkeit dich hinaustriebe!

„Möchtest du lieber, daß es die Gerechtigkeit thäte?“

Wenn ein Unglück über das andre dich träfe: Armuth, Schande, Elend, Verfolgung!

„Es könnte mich nicht weiter treiben als das Glück: bis in das Grab.

Wenn dein Elend unerträglich würde!

„Unerträglich? Das heißt, wenn ich die Standhaftigkeit verlöre. Ja, das wäre ein Unglück!“

Nun dann?

„Dann würde ich Gott danken, daß der Mensch nicht neun Monathe braucht, das Leben zu verlassen, wie er sie braucht, um darin einzutreten. Der Tod ist ein Augenblick; und soll ich vor diesem Augenblick siebzig Jahre zittern? ... Aber das alles hältst du doch für möglich.“

Du bist ein Mensch. Warum sollte es also nicht möglich seyn?

„Seht ihr? o, seht ihr? Ihr haltet das Alles für möglich, und tadelt mich, wenn ich behaupte: man muß den Menschen an sein Geschick gewöhnen; wenn ich behaupte: es ist unrecht, daß ihr meine Unterthanen tanzen laßt, daß ihr sie die Freude kennen lehrt. Nein, weg mit dem Glücke! weg mit den Freuden, welche die Tugend schwächen, ehe der Feind noch da ist! Der Ritter war glücklich, und beging ein ungeheures Verbrechen. Glaubt ihr, daß er jetzt noch einmal im Stande wäre, es zu begehen? Sein Unglück war sein Glück. Habe ich nicht Recht? Sagt Alle, habe ich nicht Recht?“

Grumbach lächelte, und that, als hätte er den Streit nicht gehört. Herr Baron, fing er an, der alte Veit hat endlich dem jungen Leonhard seine Tochter gegeben. Die Redlichkeit des jungen Menschen, die Geduld, mit der er die abschlägige Antwort trug, und die Dienste, die er dennoch dem Vater leistete, haben endlich die Härte des alten Mannes überwunden. Heute werden die jungen Leute verlobt. Sie glauben nicht, wie glücklich sie sind. Mich dünkt aber, der Alte hätte besser gethan, wenn er bei seinem Nein geblieben wäre; und ich wollte Sie bitten, Herr Baron, die Verbindung der jungen Leute, wo möglich, zu hintertreiben. – Warum? rief Iglou sogleich, und stellte sich neben den Baron. Wir haben ja Alle gewünscht, daß der Vater seine Einwilligung geben möchte.

„Nein, lieber Grumbach“, sagte der Baron: „Sie müssen sehr wichtige Gründe haben; sonst kann ich das nicht. Hätten Sie nur Leonhards Bitten gehört!“

Das mag wohl seyn, erwiederte Grumbach lächelnd; aber für den Vater müßte es, dünkt mich, doch ein sehr angenehmes Schauspiel seyn, wenn der junge Mensch seinen Wunsch nicht erreichte, und Uebung in der Geduld hätte.

Der Baron erröthete; er fühlte, was der Alte sagen wollte. „Mich dünkt, lieber Grumbach, der Jüngling hat jetzt das Mädchen schon verdient, und der Vater würde unbarmherzig seyn, wenn ihn die Geduld des Jünglings nicht gerührt hätte.“

Glauben Sie denn, daß Gott unbarmherziger ist als dieser Vater? Meinen Sie denn, daß die Geduld, der Muth, womit der Mensch sein Unglück trägt, ihn nicht auch in den Augen des himmlischen Vaters des Glückes werth macht? Freilich stärkt Unglück die Kräfte des Menschen, aber nicht immer, noch mehr zu erdulden; es giebt dem Menschen die Kraft, und soll sie ihm geben, das Glück, welches die ewige Güte ihm bestimmt, mit weiser Mäßigung zu tragen. Glück, lieber Herr Baron, ist die Bestimmung des Menschen, Ihre Philosophen mögen auch sagen, was sie wollen. Zur Hölle mit der Philosophie, die lehren kann, der Unglückliche sey dem Ewigen ein angenehmes Schauspiel! Das einzige der Gottheit würdige Schauspiel ist das Glück des Tugendhaften.

Der Baron fing zwar an zu disputiren; aber der Amtmann kam, und riß ihn dieses Mal glücklicher Weise aus der Verlegenheit, in die er durch des Alten einfache Art zu fragen gerathen war.

Flaming hatte auch gar nicht den Gedanken, das Glück seiner Unterthanen anzutasten; doch seine Ideen wurden von dem Schicksale nur allzu gut erfüllt. Er rief: „fort mit dem Glücke! fort mit den Tänzen, mit den Festen!“ und das Schicksal nahm ihn beim Worte. Das Handlungshaus, bei dem er seine Kapitale belegt hatte, fiel. Er tröstete sich über diesen Verlust, weil er doch sein sehr beträchtliches Gut noch schuldenfrei hatte; aber schon hing auch die Wolke, deren Blitze noch diesen Ueberrest seines Vermögens treffen sollten, über seinem Haupte.

Die Russische Armee zog sich in die Gegend von Zaringen, und aus allen Orten erfuhr man, welche Grausamkeiten ihre leichten Truppen begingen. Alle Menschen aus den besseren Ständen eilten nach den Städten; auch schrieb des Barons Mutter ihrem Sohne: er möchte Zaringen verlassen, und sich in eine Stadt begeben. Grumbach hatte nichts dawider; vielmehr würde er es gern gesehen haben, weil er hoffte, daß auch Lissow dann mit den beiden Kindern sich retten sollte. Man sprach oft von diesem Plane; aber man konnte, weil die Gefahr noch nicht nahe war, zu keinem Entschlusse kommen.

Der Prediger sagte einmal in einem solchen Gespräche: es sollte mir sehr lieb seyn, Herr Baron, wenn Ihr System Recht hätte, daß die Slaven natürlichen Respekt vor den Blondköpfen haben müssen. Ich fürchte, wir können dieser Achtung noch sehr bedürfen.

„Sie sollen sehen, daß mein System Recht hat!“ erwiederte der Baron. „Ich werde hier bleiben. Meine Unterthanen bedürfen ohnedies jetzt unserer Hülfe, unseres Rathes am meisten. Wir wollen wie Brüder unser Geschick mit einander theilen.“

Der Baron hielt Wort, und sein System auch. Es näherten sich Russische Truppen. Der Baron befahl seinen Bauern, keine Aengstlichkeit zu äußern, und die Kosaken mit offner Freundlichkeit aufzunehmen. Er ging, in Vertrauen auf sein blondes Haar, dem Russischen Befehlshaber entgegen. Der Officier hielt sein Pferd an, als er so wohlgekleidete Leute auf sich zu kommen sah. Flaming sprach nun Französisch zu ihm, und der Officier, der zu den regulären Truppen gehörte, verstand es glücklicher Weise.

„Mein Herr“, sagte der Baron mit großer Gutherzigkeit; „das Dorf, das Sie vor Sich sehen, ist mein. Sie können, auch wenn Sie wollten, uns nicht ganz von den Beschwerlichkeiten des Krieges befreien. Daher biete ich Ihnen freiwillig an, was wir haben, und was Sie bedürfen; aber auch, was Sie nicht bedürfen: unsre Freundschaft. Ich bin ruhig auf meinem Gute geblieben, weil ich hoffe, daß ich mit Menschen zu thun haben werde.“ Der Officier lächelte, und ertheilte seine Befehle. Er gab dem Baron, als er vom Pferde gestiegen war, die Hand, und alles lief recht gut ab; wenigstens wurden keine zwecklosen Grausamkeiten verübt. Die Kosaken bekamen, was man ihnen geben konnte, und betrugen sich ganz vernünftig. Als sie wieder weg waren, und das Dorf unbesetzt blieb, holte man indeß freier wieder Athem.

Bald kamen andre Truppen; aber die achteten weniger auf des Barons Anerbieten, und setzten ihm Degen und Pistolen auf die Brust. Die treue Iglou glaubte, man wollte den Baron ermorden, und trat vor ihn hin. Ihre große Fertigkeit, durch Geberden und Zeichen zu reden, die der Baron für ein bestimmtes Merkmahl einer unedleren Race hielt, rettete diesmal das ganze Dorf. Iglou war jetzt die Einzige, die mit den Kosaken sprechen konnte. Bisher war Grumbach, der Russisch verstand, Dolmetscher gewesen; aber einige Mißhandlungen hatten ihn krank gemacht, und Iglou trat nun mit ihrer Pantomime an seine Stelle.

Der Baron bereuete es wohl hundertmal, daß er nicht nach Berlin gegangen war, ob er gleich das Silberzeug hatte eingraben lassen. Er mußte sich fast jeden Tag aufs neue loskaufen. Zuletzt steckte er sich mit Lissowen, dem Prediger und dem Justiz-Amtmanne in Bauernkittel, um neuen Mißhandlungen zu entgehen. Jetzt erhielt der Baron einen Beweis von der Liebe seiner Unterthanen, der ihn innig rührte. Es sprengten einige Russische leichte Reiter in das Dorf, und fragten nach dem Baron. Er ist hier! rief der Anführer; und ich rathe euch, uns zu sagen, wo er ist. Der Baron, von dem man aufs neue Geld erpressen wollte, stand selbst mit unter den Bauern. Diese blieben dabei, er wäre nach Berlin abgegangen. Die Russen droheten, das Dorf anzuzünden, wenn man länger läugnete, und ritten auf das Schloß. Der Baron sah verlegen umher; aber keiner verrieth ihn, und die Reiter sprengten zurück, ohne ihn entdeckt zu haben.

Iglou fing an, heimlich Lebensmittel auf einen Nothfall nach des Ritters Aufenthalt im Walde hinzutragen; und eben daselbst verbarg sie auch ihre Laute, die schon einige Male in Gefahr gestanden hatte. Dieser Aufenthalt war ohne Zweifel der aller sicherste; denn er lag so versteckt und abgelegen, daß niemand, auch wenn er den Wald durchsuchte, auf den Einfall kommen konnte, dahin zu gehen.

Grumbachs Rath, den die Bauern befolgten, weil sie ihm vollkommen trauten, hatte bisher alle rohen Grausamkeiten abgewendet. Freilich waren die Vorräthe aufgezehrt, der Viehstand vermindert, die Pferde genommen: aber die Ernte auf dem Felde, die Häuser standen noch; und Grumbach sagte: mit Gottes Hülfe werden wir das Andere wohl wieder bekommen. Die wenigen Vorräthe, die noch da waren, wurden auf seinen Vorschlag als gemeinsames Gut betrachtet. Man verbarg sie; und niemand verrieth den Ort, weil jeder Theil daran hatte. Die Einwohner der meisten benachbarten Dörfer waren zerstreuet, die Häuser abgebrannt, die Ernten verheert. Einer verrieth das Eigenthum des Andern; Haß und Neid zündeten die Zwietracht in den Dörfern an, und man entdeckte dem Feinde die Anschläge gegen ihn. So wuchsen die Grausamkeiten, die Mißhandlungen, das Elend; und die Dörfer wurden menschenleer, das Land öde.

Nun sah der Baron die Wirkungen von Grumbachs Benehmen. Das gemeinschaftliche Unglück, das an manchem andern Orte die Menschen trennte, zog die Einwohner von Zaringen enger zusammen. Man betrug sich gegen den Feind redlich und aufrichtig; und der Lohn dieses klugen Verhaltens war Sicherheit.

Aber das Schicksal wollte nun die Seelenstärke des Barons prüfen. Ein Regiment wilder Husaren rückte in Zaringen ein. Der alte Grumbach, der wieder hergestellt war, ging sogleich dem General entgegen, und überreichte ihm Zeugnisse von dem Wohlverhalten der Einwohner gegen die Russischen Truppen, die ihm auf sein Bitten mehrere menschliche Officiere gegeben hatten. Was soll das? rief der wilde Husar, und warf die Papiere auf den Boden. Schaff Lebensmittel, Alter! Von Papier kann ich nicht leben.

Grumbach versicherte dem General mit der tiefsten Ehrerbietung, daß man alles anschaffen würde, was noch da sey, und sammelte seine Papiere geduldig wieder auf. Dann führte er den General auf das Schloß des Barons, wies ihm die schönsten Zimmer an, und besorgte Lebensmittel. Der General ließ noch einige Zimmer in Ordnung bringen, und zwar für seine Mätresse, der er sogleich einen Husaren entgegen schickte, um sie hierher rufen zu lassen.

Die Mätresse kam. Grumbach half ihr aus dem Wagen, und hörte sie mit einem prächtig gekleideten Menschen, der neben ihr saß, Deutsch sprechen. Er redete sie an, und bat um ihren Schutz, den sie auch sogleich versprach. Es war ein sehr schönes Mädchen, und, was Grumbachen noch mehr galt, sie hatte in ihrem Gesicht etwas sehr Gutherziges. Sie ging zu dem General; und sogleich wurden Befehle gegeben, die Einwohner so viel als möglich zu schonen. Grumbach war mit Iglou allein auf dem Schlosse; die Uebrigen lebten bei den Bauern, und brachten die Nächte in einem kleinen Gartenhause zu. Die Mätresse des Generals klingelte; und Iglou eilte in das Zimmer.

Beide erstaunten, als sie einander erkannten. Die Mätresse war Julie Hedler. Iglou verrichtete schweigend ihren Dienst, und ging dann. Auch Julie sagte nichts; Iglou's Anblick hatte sie zu sehr überrascht, als daß sie sogleich bestimmt hätte denken können.

Julie reiste mit ihrem Bruder, als ihr Plan gescheitert war, von Berlin nach Petersburg. Unterweges machte sie die Bekanntschaft des Russischen Generals. Dieser wendete sich, mit dem vollen Zeugnisse seiner Leidenschaft in den Augen, an Juliens Bruder; denn Julie selbst hatte ihm ins Gesicht gelacht, weil sie es lustig fand, daß ein so alter Mann noch verliebt war. Hedler, der die Vermögensumstände des Generals schon kannte, machte ihm Hoffnungen. Julie schalt ihren Bruder einen Narren, als er in sie drang, den General nicht abzuweisen; er gab ihr aber eine goldene, mit Brillanten besetzte Uhr, und zeigte ihr die Aussicht auf Armuth und Mangel. Das wirkte auf die verschwenderische, eitle Julie. Sie ergab sich, doch nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie sogleich wieder frei seyn müßte, wenn ein junger hübscher Mann da wäre, der ihre Ausgaben bestreiten könnte. Ein solcher Mann fand sich nicht; Julie blieb also bei dem Generale, und ging mit ihm nach Königsberg, und dann, weil der Krieg ihr etwas Neues war, sogar noch weiter. Für ihre Bequemlichkeit sorgte der alte General auf alle nur mögliche Weise, und hätte auch sein ganzes Regiment darüber umkommen sollen.

Julie war mit ihrer Lage ganz wohl zufrieden, da sie den alten wilden Soldaten wie ein Kind lenken konnte, so daß sie die unsinnigsten Einfälle ihrer Verschwendungssucht durchsetzte. Hedler ging als Sekretär mit, und bekam eine sehr reichliche Besoldung. So brachte der Zufall die beiden Geschwister auf des Barons Güter.

Als Iglou die Thür zugemacht hatte, fiel Julien erst ein, wie sehr sie von diesem Mädchen und dem Baron beleidigt war. Ihr Zorn brannte lichterloh; aber nur, wie er bei einer Julie brennen konnte. Sie wollte Rache, doch auf ihre Weise; und diese Rache stand nun in ihrer Gewalt. Jetzt war sie unumschränkte Beherrscherin des Barons und ihrer Feindin Iglou: das sollten Beide fühlen, und zwar recht stark. Aber, dachte sie, als sie ihren Plan entworfen hatte; ist denn der Baron auch hier? In diesem Augenblicke flog die Thür auf, und Hedler sprang mit sichtbarer Freude herein. Julie! rief er; der Baron Flaming ist hier! Ich habe ihn gesehen und gedemüthigt. – Ist er da? fragte sie, und klatschte in die Hände; ist er da? Auch die Schwarze ist hier. Nun, ihr sollt an mich denken! Geh, bitte sie Beide zum Essen bei dem General, und laß mir mein Schmuckkästchen bringen. Der Friseur soll kommen. Nun, so mach doch!

Hedler lächelte. Zum Essen bitten? Den Teufel auch! Julie, bedenke doch, wie dieser Geck dich beleidigt hat! Zum Essen bitten! Ich will ihm ein anderes Essen besorgen. – Julie setzte nun ihren Plan auseinander, der am Ende auf weiter nichts hinaus lief, als Iglou und Flaming ihre Juwelen zu zeigen. Der General sollte den Baron mit ungeheuren Forderungen ängstigen, und dieser dann wie ein armer Sünder vor ihr stehen und sie um ihre Fürsprache bitten. Dann wollte sie mit einem stolzen Worte dem Generale befehlen, alle seine Forderungen zurückzunehmen. Sieh! endigte sie die Auseinandersetzung ihres Planes; dann erfährt er, wer ich jetzt bin! O, Bruder, ich will so stolz seyn wie die Kaiserin selbst.

Eine schöne Rache! erwiederte Hedler. Zum Essen bitten, und thun, was er verlangt! Nein, der stolze Narr muß anders büßen. So soll er mir nicht davon kommen! Und dieser schwarze Teufel, diese Iglou? Nein, nein! Sie sollen fühlen, wer wir sind.

Hedler war nicht ganz böse; aber er konnte es werden, wenn ihm ein Anschlag mißglückte, oder wenn sein Stolz beleidigt wurde. Er beschützte in diesem verheerenden Kriege Tausende; allein die Unglücklichen, die er rettete, mußten seinen Schutz mit den größten Demüthigungen erkaufen. Er war schon vorher gewohnt, wenn es ihm nicht an Gelde fehlte, alle Menschen mit einem wegwerfenden Stolze zu behandeln; und jetzt zumal, da er das Ansehen des Generals für sich hatte, hielt er sich für äußerst wichtig. Der General kannte die Gesetze der Menschlichkeit nicht, und Hedler ließ ihm seinen Willen. Man drohete den Einwohnern eines Dorfes oder einer Stadt; zugleich aber gab man ihnen zu verstehen, daß der Sekretär des Generals alles vermöge. Die Leute wendeten sich an ihn. Mit einer kalten Würde trat er nun in den Kreis der Unglücklichen, warf verachtende Blicke auf sie, sagte ihnen dann mit einem niederschmetternden Stolze, er wolle sie retten, und hielt in der That fast immer Wort.

Das war schon oft geschehen und seine kleinliche Eitelkeit dadurch noch immer stärker aufgeblähet worden, so daß er Menschen aus den ersten Ständen mißhandelte. Er hatte sich so oft vor dem Ahnenstolze der Vornehmen, mit denen er umgegangen war, demüthigen, so oft vor ihrem Range oder Reichthume kriechen müssen, daß er jetzt zur Rache von Andern ihres Standes eben so tiefe Demüthigung forderte. Der Schmeichler wird ja immer ein Tyrann, wenn er Gewalt bekommt. Hedler stand jetzt eben so stolz, kalt und nachlässig, mit der Dose in der Hand, vor einem Grafen, oder Edelmanne, dessen Güter der General besetzte, als ehemals demüthig und kriechend vor so manchem stolzen Thoren. Er pfiff, während daß sie ihm ihr Elend vorstellten, drehete sich von ihnen halb weg, schneuzte sich laut, spielte mit seinem Hunde, fuhr sie an, gab ihnen Lehren, tadelte; kurz, er machte den großen Herrn, weil die armselige Größe, die er von den Umständen erborgte, seinem Stolze schmeichelte. In der That rettete er endlich, und Tausende nannten den Sekretär Hedler ihren Schutzengel, Tausende beteten für ihn; aber für den erhabenen Stolz, der Retter von Tausenden werden zu können, war sein Herz zu klein.

Als er aus dem Wagen gestiegen war (er hatte nehmlich in prächtiger Kleidung neben Julien gesessen), ging er sogleich mit stolzer, verachtender Miene durch das Dorf, um sich Ehrfurcht erweisen zu lassen. Er ließ die Bauern, unter denen auch der Baron war, zusammenrufen, um ihnen seine Befehle anzukündigen. Wem gehört das Dorf? geschwind! – Dem Baron von Flaming! antwortete ein Bauer. In dem Augenblicke sah Hedler den Baron in Bauernkleidern dastehen, und sein eitles Herz hüpfte vor Freude. Du dort! rief er ihm zu; komm näher! – Der Baron erkannte ihn sogleich.

Sie sind Flaming! sagte er, und betrachtete ihn von oben bis unten spöttisch. Er hoffte, hier den höchsten Triumph der Eitelkeit zu genießen und den Baron vor sich im Staube zu sehen. Mehr wollte er auch nicht. Sie sind Flaming! – „Ja“, sagte der Baron einfach und erwartend; „ich bin der Baron von Flaming.“ – Die Titel, mein Herr, fallen jetzt weg. Ich bitte, das nicht zu vergessen. Was soll die Mummerei? warum stecken Sie in Bauernkleidern? Antworten Sie. Aber nehmen Sie Sich in Acht, daß Sie nicht Ein unwahres Wort sagen!

„Ich habe diese Kleidung gewählt, weil sie mich vor Mißhandlungen sichert.“

Ihr Ton ist sehr stolz, Herr von Flaming. Ziehen Sie Ihre gewöhnlichen Kleider an.

„Ich habe keine andre.“

Ohne Widerrede! Ich will, sage ich Ihnen. Und ihr da ... Glauben Sie mir, wir sind hier nicht in Berlin! ... ihr da, macht euch gefaßt, das anzuschaffen, was der Dienst meiner Monarchin fordert. Es wird nicht wenig seyn.

„Ihr Herr General wird doch Vorstellungen annehmen.“

Ihr Herr General! Ihr Herr General! Sie haben zu thun, was ich befehle.

„Wir können nichts liefern.“

Man wird euch den Willen machen! ... Nun, was stehen Sie noch, Herr von Flaming? Ich habe befohlen.

„Ihre Monarchin“, sagte Flaming, erbittert über den Stolz des Menschen – „würde gewiß den Ton nicht billigen, den Sie Sich hier erlauben. Ich werde Ihren General selbst sprechen, und ihn fragen, ob er seinen Diener bevollmächtigt hat ...“

Herr, das ist Ihr letztes Wort! (Er winkte einem Husaren.) Du bewachst ihn! Ich will doch den Narren kirre machen.

„Aber erniedrigen werden Sie mich nicht“, sagte Flaming stolz. Hedler ging erbittert auf das Schloß.

Iglou suchte, sobald sie Julien gesehen und erkannt hatte, den Baron auf. Sie hörte, daß er gefangen saß, und eilte zu ihm. Man wollte sie nicht einlassen. Er rief ihr zu: „Hedler!“ und sie wußte nun den Grund seiner Gefangenschaft. Sie eilte zurück, überlegte, was zu thun sey, ging zu Julien, und sagte ihr mit trauriger Stimme, in welchem Elende die Einwohner des Dorfes lebten. Als sie Rührung in Juliens Gesichte sah, erzählte sie auch, daß der Baron gefangen wäre.

Gefangen? sagte Julie. Das ist ohne meinen Willen geschehen; obgleich der Narr es verdient. – Verdient? fragte Iglou unvorsichtig. Das Wort schien Julien ein Vorwurf. Ihr fiel wieder ein, wie sehr Iglou sie beleidigt hatte. Ihr werdet erfahren, sagte Julie stolz, was euer Schicksal seyn soll! Jetzt habe ich zu befehlen. Sag das dem Baron. Nun brauche einmal deine List, häßliche Schwarze, und mache ihn los, ohne meine Hülfe. Fort! geh mir aus den Augen!

Iglou stand demüthig vor Julien da, ohne ihre Verachtung nur mit einem stolzen Blicke zu erwiedern; sie wollte den Baron befreien, und fühlte, dachte nichts Anderes. Dies rührte Julien; sie ging zu dem General, den Hedler schon gegen den Baron erbittert hatte, forderte dessen Loslassung, und erhielt sie. Nun kündigte sie dem General an, daß Flaming heute bei ihm essen sollte. Er lachte, und erwiederte: meinetwegen! Aber dein Bruder, liebes Kind, hat es ganz anders mit dem Baron im Sinne.

Der Baron wurde losgelassen und zum Essen eingeladen. Julie kam, als er da war, geschmückt wie eine Fürstin, und that, als ob sie ihn kaum bemerkte. Hedler setzte sich, voll Erbitterung, daß der Baron wieder frei war, an den Tisch, und nahm sich vor, ihn seine Macht noch recht fühlen zu lassen. Der General befolgte das Beispiel Juliens und ihres Bruders, und behandelte den Baron mit der wegwerfendsten Verachtung. Der Baron hatte sich vorgenommen, wenig zu sprechen und schweigend zu dulden. Iglou mußte bei Tische aufwarten, und zwar auf Juliens Befehl, die gegen sie erbitterter war als gegen den Baron. Julie kannte die stolze Seele des Mädchens, aber nicht dessen Stärke. Iglou wartete mit der größten Demuth auf; sie schien alles nur für den Baron zu thun, und ihre freundlichen, geduldigen Blicke gaben auch ihm Standhaftigkeit.

Grumbach hatte dem Baron vorher seine Rolle gegeben. Er sah den eitlen Hedler gleich in dem ersten Gespräche durch, und milderte dessen unbarmherzige Absichten durch einige wohl angebrachte Schmeicheleien, so daß alles gut gehen konnte, wenn nichts verdorben wurde. Der General mußte auf Hedlers und Juliens Anstiften ungeheure Summen und Lieferungen von dem Baron fordern. Dieser machte mit aller Demuth Vorstellungen dagegen; der General erwiederte aber: jetzt nichts davon! Da ist mein Sekretär; an den haben Sie Sich zu wenden. Erläßt Ihnen der die Hälfte, oder das Ganze, so ist es gut; erläßt er Ihnen nichts, so müssen Sie schaffen, oder das Dorf wird, hol mich der Teufel! in Brand gesteckt.

Hedler saß mit einer stolzen Miene da, und spielte mit seiner Gabel. Der Baron machte, so schwer es ihm auch wurde, dem eitlen Menschen ein artiges Kompliment, das dieser mit einem stolzen Kopfneigen beantwortete. Schon fing der Baron an, freier Athem zu holen; aber ein unglücklicher Zufall vernichtete alles.

Iglou glaubte es recht gut zu machen, wenn sie den Gästen mit großer Demuth aufwartete. Der Baron betrachtete sie mitleidig. Seine Freundin mußte die Geschäfte eines Bedienten verrichten, und noch dazu für Menschen, die er so tief verachtete! Iglou bemerkte, was in des Barons Seele vorging, und ihr Blick wurde noch einmal so freundlich; sie schien stolz auf die niedrigen Dienste zu seyn, die sie leisten mußte. Das war aber ganz gegen Juliens Absicht. Sie wollte ihre Feindin demüthigen und bestrafen; nun aber blieb diese freundlich, anstatt mit Thränen in den Augen aufzuwarten. Julie bemerkte die lächelnden Blicke, die Iglou dem Baron zuwarf, hielt sie für Spott, und sann auf eine andere Rache an ihrer Feindin.

 

 

Sie lachte ein paarmal laut, wenn sie Iglou ansah. Der General wollte wissen, worüber; und Julie sagte: die häßliche Schwarze, Herr General, ist so häßlich nicht, wie Sie wohl meinen. Glauben Sie wohl, daß sie, trotz ihrer Haut, einen Liebhaber hat? – Das müßte der Teufel seyn! antwortete der General laut auflachend. Der nicht, sagte Julie; sondern dieser Herr da, der Baron Flaming liebt die häßliche Mohrin, und in einem so hohen Grade, sage ich Ihnen, daß er um ihretwillen die schönsten Mädchen verläßt.

Den Teufel auch! Ist das wahr, Flaming? Lieben Sie das Mädchen? Ist es wahr?

„Ja, Herr General“, antwortete Flaming, mit Freude, daß er Iglou seine Achtung bezeugen konnte; „ja, ich liebe das Mädchen, und Sie würden Sich darüber nicht länger wundern, wenn es der Mamsell gefiele zu sagen, warum ich es liebe.“

Das will ich wohl. Am Tage hat der Herr Baron so viel mit dem Generalbasse, den Menschen-Racen, und gelehrten Narrheiten zu thun, daß er keine Augen hat; aber bei Nacht sind alle Katzen grau. – Der General schlug ein schallendes Gelächter auf; der Baron erröthete vor Verdruß. – Und diese Liebe ist so zärtlich, Herr General! so zärtlich! Wenn wir bei dem Herrn Baron äßen, und nicht er bei uns, so würde die Schwarze, anstatt aufzuwarten, mit am Tische sitzen. – Der General lachte ungläubig aufs neue, und sah Iglou an.

„Es ist wirklich so, Herr General. Und wenn mein König bei mir äße, so würde diese Schwarze mit an meinem Tische sitzen; denn ihr Herz ...“

Ihr Herz? – O, schweigen Sie doch! Sie stahl ihm einmal vierzig tausend Thaler, und ging damit durch.

Diese Unverschämtheit verdroß den Baron unglaublich, und doch hielt er an sich. „Ihre Absicht war edel, Herr General. Ich gewann dadurch!“

Was gewannen Sie denn? fragte Julie empfindlich, weil sie in diesen Worten einen Vorwurf fühlte. Was gewannen Sie denn?

„Lassen Sie uns davon abbrechen! Aber darum bitte ich Sie, verschonen Sie ein Mädchen, das der Stolz Ihres Geschlechtes ist, wie der Stolz der ganzen Menschheit. Ja, ich liebe das Mädchen; noch mehr: ich achte, ich ehre es.“

Und ich, sagte Hedler erbittert, halte diese Schwarze für eine verächtliche Kreatur, die mit ihrer List Sie zum Narren hat.

Jetzt verlor der Baron die Fassung; seine Lippen bebten, seine Augen blitzten. Iglou sagte ihm zitternd und in dem flehendsten Tone: bonus nulla affici contumelia potest! 1) Hedler sprang auf, faßte Iglou heftig an, und rief: schweig, Elende! und vergiß die Achtung nicht, die du uns schuldig bist! – Auch der Baron sprang auf, und rief, vor Zorn bebend: „Achtung? Ihnen Achtung? Sie sind ja nicht einmal fähig, dem Mädchen die Achtung zu erweisen, die es verdient. Wahrhaftig, Sie sollten nicht so reden; ich kenne Sie ja!“

Julie erröthete, und wurde erbittert, weil der Baron die Worte: „ich kenne Sie ja!“ mit einem spottend mitleidigen Lächeln sagte. Sie weinte vor Zorn. Der General sprang, als er ihre Thränen sah, mit seiner gewöhnlichen Wildheit auf, und rief in schrecklichem Tone Iglou zu: Bestie! fort, oder du bist verloren! Der Baron trat schnell vor Iglou hin. „Bei Gott!“ rief er außer sich; „es soll ihr Niemand etwas zu leide thun um einer verächtlichen Buhlerin willen!“ Julie tobte; Hedler knirschte mit den Zähnen; der General fluchte. Wart! rief der General; plündern will ich das Dorf lassen! Plündert! – Bei diesem Worte rannten ein paar Husaren, die aufwarteten, in das Dorf hinunter, und riefen: plündert! der General will es! Die Husaren fingen sogleich an, den willkommnen Befehl zu erfüllen. Die Bauern wollten Einhalt thun, und die wilden Feinde zogen die Säbel. In dem Tumulte, der immer zunahm, wurde ein Russe niedergeschlagen. Nun ging ein fürchterliches Gemetzel an. Die unglücklichen Einwohner flohen, und die Husaren steckten zur Rache ein paar Häuser in Brand. Der Wind trieb die Flammen von Haus zu Haus. „O Gott im Himmel!“ rief der Baron, als er die Flamme aufsteigen sah. „Julie!“ rief er erschüttert; „helfen Sie! retten Sie!“ Julie bat den General, Einhalt zu thun, und rang die Hände. Der General fluchte und tobte. Erst hetzt ihr mich, sagte er unwillig; dann soll ich helfen! Er rief aus dem Fenster den wütenden Leuten zu, inne zu halten, und schickte Officier hinunter. Aber zu helfen war nicht mehr; hier schlug eine Flamme heraus, dort wieder eine. Die Einwohner verkrochen sich in die Häuser, und die Flammen trieben sie hinaus in die Säbel der Wütenden. Ein lautes Jammergeschrei drang zum Himmel.

Feuer! schrie man jetzt im Schlosse selbst; und bald nahm die Flamme überhand. Der Lärm wurde immer betäubender; man packte ein, und spannte die Pferde an. Noch unter den fallenden Trümmern plünderten die Husaren. Der General ließ Appell blasen, und das Regiment sammelte sich, indeß hier ein Haus, und dort wieder eins stürzte. Lissow eilte die Gassen auf und nieder, und rief mit gräßlicher Stimme: „meine Kinder! meine Kinder!“ Er hatte sie in ein Haus verschlossen, um sie gegen die Grausamkeit der Husaren zu schützen; und als er nun nach dem Schlosse eilte, um den Baron zu suchen, wurde das Haus plötzlich von den Flammen ergriffen. Er wollte wieder dahin; doch die Säbel der Husaren hielten ihn ab. Jetzt wollte er durch die Gärten; aber auch dort wurde er zurückgetrieben. Nur nach einer langen und gewaltigen Anstrengung kam er wieder zu dem Hause, worin seine Kinder waren.

O Entsetzen! Da lag der alte Grumbach, von einem Säbelhiebe niedergestreckt, am Boden, und athmete kaum noch. Das Haus, worin er die Kinder verschlossen hatte, war von oben bis unten Eine große Flamme. „Wo sind meine Kinder?“ schrie Lissow dem Alten zu, und rang die Hände. – Grumbach erwiederte matt: ich wollte sie retten, als das Haus brannte; da schlug ein Unmensch mich nieder. Ich hörte ihr Jammergeschrei, und verlor die Sinne. Sind sie gerettet? Ich weiß es nicht.

Lissow half dem Alten auf, verband seine Wunde in der Schulter, brachte ihn dann mit Hülfe eines Bauern aus dem Dorfe, und übergab ihn einigen Landleuten, die ihn einer um den andern trugen. Er selbst eilte den übrigen Flüchtigen nach, und fand den Prediger, dessen Schwester, den Justiz-Amtmann mit seiner Familie; aber niemand wußte etwas von seinen Kindern. Lissow rannte verzweifelnd in das Dorf zurück, und drang durch die Flammen, durch fallende Balken. Vergebens; seine Kinder waren nicht da. Er würde sich in die Flammen gestürzt haben, wenn der alte Grumbach nicht seine Hülfe nöthig gehabt hätte. Starr, wie eine Bildsäule des Schreckens, stand er allein da, mitten in einer gräßlichen Einsamkeit. Kein Seufzer tönte mehr; nur der dumpfe Schall eines zusammenstürzenden Hauses, und das Knistern der Flamme störte zuweilen die Grabesstille der Verwüstung.

Noch war eine Hoffnung für den unglücklichen Vater übrig. Vielleicht, dachte er, hat der Baron oder Iglou sie gerettet. Jetzt eben kam ein Bauer durch die Flammen gestürzt. „Hast du meine Kinder gesehen?“ fragte ihn Lissow. – Nein! – „Oder den Baron, oder Iglou?“ – Der Baron ist todt; Iglou schleppen die Husaren mit weg. – Auch diese Hoffnung war also dahin.

Lissow eilte wieder rund umher, und rief mit lauter verzweifelnder Stimme seine Kinder bei Nahmen; niemand antwortete. Er suchte die Flüchtigen wieder auf, um zu hören, ob die Kinder sich gefunden hätten. Sie fehlten und mit ihnen der Baron, Iglou und einige Wenige, die unter den Säbeln der Husaren gefallen waren. An dem Tode des Barons zweifelte niemand. Mehrere hatten ihn fallen, mehrere ihn todt gesehen. Iglou war mit fortgeschleppt. „Und meine Kinder! auch die!“ sagte Lissow, und rang die Hände; „was thaten die Unschuldigen!“

Einige Bauern hatten die Kinder sogar noch in dem brennenden Hause gesehen, als es eben eingestürzt war. Alle Umstände trafen zusammen. Der unglückliche Vater konnte an ihrem gräßlichen Tode nicht mehr zweifeln. Er hatte jetzt seine Jakobine noch einmal verloren, und sank wieder in die alte Verzweiflung zurück.

Es verhielt sich wirklich so, wie die Augenzeugen erzählten; die Kinder waren in dem brennenden Hause, noch kurz vorher, ehe es ganz zusammenstürzte, und als das Dach schon niedersank. Da aber kam der Mörder ihrer Mutter, Rheinfelden, sie zu retten. Schon am Morgen zogen die Husaren durch den Wald, worin er sich aufhielt. Er folgte ihnen von weitem, sah sie in Zaringen einrücken, und blieb in der Nähe des Dorfes, um es zu beobachten. Auf einmal schlug die Flamme aus dem Hause hervor, und der Ritter lief durch den Schloßgarten in das Dorf. Er irrte vorsichtig in dem Tumult umher, und suchte nur Lissow. Endlich entdeckte er ihn, und folgte ihm von weitem nach, damit er nahe wäre, jede Gefahr von ihm abhalten zu können. Er verlor ihn einige Male aus dem Gesichte; dann hörte er ihn laut schreien: meine Kinder! Gott, meine Kinder! Der unglückliche Lissow streckte die Hände nach einem brennenden Hause aus, und wollte sich durchschlagen; aber er wurde in dem Tumulte zurückgerissen. Rheinfelden, der besonnen genug war, alles zu sehen, bemerkte einen Weg durch die Gärten. Er drängte sich mit kühner Entschlossenheit durch das wilde Getümmel, und kam glücklich in das brennende Haus, worin Lissows Kinder sich befanden.

Der Knabe war entschlossen gewesen, das Haus zu verlassen; aber die kleine Jakobine wollte schlechterdings nicht heraus, weil ein Husar vor ihren Augen eine Frau und dann sogar auch ihren Großvater niedergehauen hatte. Sie zitterte, und war nicht wegzubringen. Wir werden verbrennen, Jakobine! sagte ihr Bruder, und wollte sie hinausführen; aber sie schrie laut, und riß sich von ihm los. Der Knabe wurde bleich, als er die Flamme immer näher kommen sah, und bat Jakobinen, mit ihm zu gehen. Vergebens; sie befürchtete, ermordet zu werden. Gut, so will ich mit dir sterben! sagte der kleine Lissow, und umarmte seine weinende Schwester. In diesem Augenblicke – die Treppe im Hause brannte schon – flog die Thür auf. Der Ritter stürzte in das Zimmer herein; und mit ihm schlug die Flamme dem Zuge der Luft nach. Er hob Jakobinen auf seinen Arm, nahm den Knaben bei der Hand, war in zwei Sätzen durch die Flamme, und hinter ihm stürzte die Treppe. Alle drei blieben unbeschädigt; nur ihre Haare waren versengt, die Kleider von Funken ergriffen. Schnell eilte der Ritter mit den Kindern durch den Tumult auf das Feld, und verbarg sich hinter einigen Gebüschen. Aber er mußte weiter, da die Wagen der Husaren anrückten. Nun wollte er seitwärts ausbeugen und wieder nach dem Dorfe hin; doch auch von daher kamen Husaren. Es war ihm unmöglich, das Dorf wieder zu erreichen, weil die Husaren langsam hinter ihm aufmarschirten. Er wußte die Ursache des Plünderns, des Gemetzels nicht, fürchtete daher das Aergste, und trug Jakobinen, die sich gar nicht von ihrer Angst erholen konnte, immer weiter. Als er eine ziemliche Strecke von den Husaren entfernt war, setzte er das Mädchen nieder. Sie verlangte nach ihrem Vater; und er sagte ihr: der sey voraus gegangen. Nun hatte Jakobine auf einmal alle ihre Kräfte wieder, und eilte mit vorwärts. Noch immer stieg hinter ihnen und von allen Seiten der Staub des fortrückenden Regiments auf. Als der Ritter einige Stunden so gegangen war, fand er einen Marketender, und bat ihn, die Kinder auf seinen Karren zu nehmen. Der Marketender nahm sie auf, fuhr weiter, bis Abends spät, wo er endlich fütterte und ein Feuer anzündete. Rheinfelden wußte nicht mehr, welcher Weg ihn nach Zaringen führen sollte; und auch der Marketender, der selbst fremd war, und sich von einem Infanterie-Regimente, zu dem er gehörte, verloren hatte, konnte ihn nicht zurecht weisen. In der ganzen menschenleeren Gegend war kein Bote zu haben, der dem unglücklichen Lissow hätte ankündigen können, daß seine Kinder noch lebten. Der Ritter sah sich, weil Jakobine von dem Schrecken Fieberanfälle bekommen hatte, am folgenden Tage gezwungen, mit dem Marketender weiter zu ziehen, um ein Fuhrwerk für das Kind zu haben. So entfernte er sich mit den beiden Kindern immer mehr von Zaringen und dem unglücklichen Lissow. Er gewann den Marketender durch ein paar Goldstücke, ihn für seinen Knecht auszugeben, und nun befand er sich nach einigen Tagen mitten in der Russischen Armee.

Jetzt gab er sich alle ersinnliche Mühe, etwas von Lissow und dem Baron zu erfahren; aber niemand konnte ihm mehr sagen, als daß Zaringen ganz niedergebrannt wäre und alle Einwohner sich zerstreuet hätten. Endlich verschaffte er sich einen Paß von dem Russischen General, und ging nun mit den beiden Kindern nach Berlin. Hier ließ er eine Anzeige für Lissow in alle Zeitungen setzen; aber es war unmöglich, Nachrichten aus dem Rücken der Russischen Armee zu bekommen. So mußte der Ritter es dem Schicksale überlassen, ob Lissow die Rettung seiner Kinder erfahren würde. Er ging, nachdem er lange vergebens gehofft hatte, mit den beiden Kindern endlich auf seine Güter; und nun erst schien es ihm, als ob Jakobine mit ihm versöhnt sey, und der Himmel ihm verziehen habe.

Auch der Baron war so wenig todt wie Lissows Kinder. Er warf sich mit einigen Officieren unter die Plünderer, vergaß, daß er jetzt nichts zu befehlen hatte, riß einen Husaren von hinten zurück, und stürzte von einem Säbelhiebe, der indeß nicht gefährlich war, zu Boden. Schrecken und Blutverlust hatten ihn blaß gemacht. So sahen einige Bauern ihn liegen, und hielten ihn für todt. Iglou schrie laut. Gleich einer wüthenden Löwin drängte sie sich durch den Haufen, und suchte den Baron, von dem sie getrennt war. Julie hatte ihr ein paar Husaren mitgegeben, welche sie schützen sollten. Diese gingen neben ihr, und hatten sie angefaßt. Natürlich glaubte man nun, sie sey von den Russen weggeschleppt. Sie fand endlich den Baron, warf sich über ihn her, und jammerte vor Verzweiflung. Es war ein rührendes Schauspiel, als Iglou neben dem Baron auf den Knieen lag, seine Hände küßte, und des Wundarztes Knie umfaßte, weil er sagte: die Wunde hat nichts zu bedeuten.

Der Baron erholte sich endlich, und ging mit ihr. Julie fuhr in ihrem Wagen an ihnen vorbei, ließ halten, und rief aus dem Fenster ihnen zu: vergeben Sie mir, Herr Baron; ich bin mehr bestraft als Sie. Sie riß eine mit Brillanten besetzte Uhr hervor, und gab sie einem Husaren, daß er sie dem Baron bringen sollte. Dieser schlug sie mit einem verachtenden Blicke aus, zeigte auf die Brandstätte, und sagte: „sieh hin und freue dich; das ist dein Werk! Dieser Anblick begleite dich durch dein ganzes elendes Leben!“ Julie wurde bleich. Es war mein Wille nicht! rief sie schmerzlich und ganz außer sich: was machen Sie mir Vorwürfe? Sie warf ihm die Uhr zu; und er gab sie einem Husaren. Julie fuhr traurig ab, und Iglou führte nun den Baron in den Wald, zu Rheinfeldens Hütte.

Erst unterweges fragte der Baron nach dem Schicksale seiner Freunde. Iglou meinte, sie waren alle glücklich entkommen; doch mit Sicherheit wußte sie es nicht, da sie sich ganz allein um den Baron bekümmert hatte. Diese treue Anhänglichkeit rührte ihn unaussprechlich. Er blieb stehen, umfaßte sie mit dem rechten Arme, und sagte innig, mit Thränen in den Augen: „Iglou! meine gute Iglou!“ Jetzt erst, da seine heftigen Leidenschaften vorüber waren, und andere Empfindungen sich in seine Seele drängten, fing er auf einmal an, den Schmerz seiner Wunde, seine Schwäche, und seinen Verlust zu fühlen. Er setzte sich kraftlos mit Iglou unter einen Baum, und fragte, wohin sie ihn zu führen gedächte. An einen Ort, der dich in Sicherheit bringt, antwortete sie, und redete ihm zu, noch den kurzen Weg zu machen. Er wurde mehr von ihr getragen, als er ging, und endlich kam er mit Iglou zu Rheinfeldens Hütte. Gegen Iglou's Erwartung war der Ritter nicht da. Dies, sagte sie mit Thränen in den Augen, soll deine Wohnung seyn, bis uns ein hellerer Himmel lacht. Wenn treue, zärtliche Liebe dich glücklich machen kann, so sollst du es hier werden.

Der Baron wunderte sich, als er hier Bequemlichkeiten fand, welche diese Wildniß nicht versprach. Ich habe, sagte Iglou, unser Geschick geahnet, und für die Zukunft gesorgt. Sie entkleidete den Baron, weil er den linken Arm nicht brauchen konnte, und brachte ihn zu Bett. Dann zündete sie Feuer an, und kochte ihm ein Gericht, das er mit ihr von Einem Teller aß. Nun holte sie ihre Laute hervor, und sang ihm sanfte Lieder voll Geduld und Ergebung. „Iglou! herzensgute Iglou!“ rief er noch einmal, streckte ihr die Hand entgegen, küßte ihren Mund, und schlummerte dann, ruhiger als er gehofft hatte, unter ihren sanften Melodien ein.

Am folgenden Morgen, als er die Augen aufschlug, fand er das Frühstück schon fertig. Iglou hatte nehmlich, als die Durchzüge der Truppen häufiger wurden, sehr viel hierher getragen, um es vor den Russen zu sichern. Sie verband nun seine Wunde, und erheiterte ihn dann mit Erzählungen, mit Gesang, mit Musik. Der Tag verging dem Baron wie eine Feierstunde. Er bat Iglou, einmal in das Dorf zu gehen und sich um Nachricht von seinen Freunden zu bemühen; aber das schlug sie ihm ab. Als er die Ursache ihrer Weigerung zu wissen verlangte, sagte sie: ich selbst möchte gern Nachrichten haben; doch ich gehe nicht. Man könnte mich erblicken, mich wegschleppen, mich sogar tödten. Wenn du gesund wärst, möchte man das; ich stürbe dann für dich. Aber jetzt? Wer sollte dich pflegen, wer für dich sorgen, wer dein Essen bereiten? Jetzt bin ich dir nothwendig. Sobald du mich entbehren kannst, will ich gehen; dann wage ich nur mein, und nicht auch dein Leben. Der Baron antwortete ihr mit zärtlichen Blicken, und Iglou wich nicht eine Stunde von seinem Lager.

Iglou würde, wenn sie auch wirklich nach dem Dorfe gegangen wäre, keinen Bekannten angetroffen haben. Freilich flohen die unglücklichen Einwohner von Zaringen, als das erste Schrecken vorüber war, nicht weiter. Auf Lissows Antrieb, der noch immer glaubte, seine Kinder wieder zu finden, nahmen viele fürs erste ihren Aufenthalt in einem Walde bei dem Dorfe, und in der Nacht untersuchten sie, ob noch etwas zu retten sey; aber sie fanden nichts als glühende Schutthaufen. Lissow drang darauf, man sollte sich, so gut man könnte, einige Hütten erbauen, da die Ernte noch stehe, und also Lebensunterhalt für den Winter da sey; aber auch diese Hoffnung war bald vernichtet. Am folgenden Morgen trieb eine Menge Wagen, das Gepäck der Russischen Armee, die Unglücklichen aufs neue in den Wald. Die Ernte wurde nun sogleich abgeschnitten und den Pferden vorgeworfen, oder verwüstet. Trostlos sahen die Armen einander an, und schwiegen in starrer Verzweiflung.

Grumbach ließ die ganze Gemeinde in einen Kreis treten, und redete ihr zu, den Muth nicht sinken zu lassen. Der Baron lebt noch, sagte er. Wäre er todt, so würden wir seinen Leichnam gefunden haben. Nun, ihr kennt ihn ja, meine Lieben; er wird euch nicht verlassen. Eure Aecker bleiben euch, und Hütten werdet ihr wieder bekommen. Ihr habt noch nichts verloren, meine Freunde, wenn ihr Muth und Vertrauen auf die Vorsehung behaltet. Sonst wäret ihr glücklich; jetzt beweiset durch Geduld und Muth, daß ihr es zu seyn verdientet.

Man hielt nun Rath, was zu thun sey. Zaringen lag an der Heerstraße, die zu der Oder führt; folglich mußte man ewige Durchmärsche der Armeen, und mit ihnen auch neue Verwüstungen, befürchten. Zwar besaß jede Familie noch einen kleinen Geldvorrath, den die Hausmütter auf Grumbachs Antrieb schon früh in die Kleider genähet hatten; aber den an eine ungewisse Hoffnung zu wagen, wäre nicht vernünftig gewesen, da der Krieg noch lange fortdauern konnte. Man beschloß einmüthig, den Frieden, oder doch gewissere Hoffnungen zu ihm, geduldig abzuwarten. Wenn der Baron lebt, sagte Grumbach, und wir etwas von ihm erfahren, oder unsere Hoffnungen besser werden, so lassen wir die Zaringer in der Berlinischen Zeitung auffordern. Bis dahin, meine Kinder, thue jeder von euch, was ihn gut dünkt. Wir können nicht beisammen bleiben; Trennung ist nothwendig. Aber zieht euch, wenn ihr meinem Rathe folgen wollt, weiter gegen die Gränze von Preußen. An der Oder ist der Aufenthalt der Armeen. Haltet euch so entfernt von ihnen wie möglich, oder sucht euer Brot bei der Armee selbst.

Der Prediger hielt nun noch eine kleine Ermahnung an sie, worin er sie bat, tugendhaft zu bleiben. Alle versprachen es sich unter einander, laut weinend. Man ging noch einige Tage in Gesellschaft; dann trennten sich die Familien nach und nach. Der Prediger, Grumbach und Lissow blieben zusammen, um in Königsberg Ruhe zu suchen. Der Amtmann ging nach Stettin, wo er Verwandte hatte.

Das alles geschah nicht unvorbereitet; Grumbach hatte hierüber, als über einen möglichen Fall, oft mit dem Baron gesprochen, und dieser konnte also ziemlich sicher wissen, wo seine Freunde und seine Unterthanen sich aufhalten würden. Man trennte sich, in der Hoffnung, einander wieder zu finden.

Der Baron setzte indessen sein Einsiedlerleben mit Iglou fort, und erkannte immer mehr, wie reich des Mädchens Herz an Liebe, Tugend und Freundschaft war. Sein Verlust hatte größere Wirkung auf ihn gethan, als er dachte. Er überrechnete in Gedanken, wie viel ihm noch übrig bleiben würde, wenn er seine Güter wieder in den Stand setzen wollte, in welchem sie gewesen waren. Unfehlbar mußten Wohnung und Viehstand allein beinahe alles wegnehmen, was er noch etwa aus dem Bankerot des Handlungshauses zu retten hoffen konnte.

Je mehr er diesen Gedanken nachhing, desto tiefer und schmerzlicher fühlte er seinen Verlust. Das einzige Buch, das er, nebst einigen Heften über sein Menschenracen-System, gerettet hatte, war ein Band von Seneca. Er ließ sich von Iglou die Schrift: de consolatione (vom Troste) wohl hundertmal vorlesen, besonders die Stellen, welche die Trostgründe gegen Armuth enthalten. Aber er fühlte jetzt, daß es ein Anderes ist, bei Reichthum über Armuth zu philosphiren, als bei Mangel und Noth. Doch wenn er schwermüthig wurde, so setzte Iglou sich hin, und kommentirte eine Stelle, bei der sie im Vorlesen abgebrochen hatte, mit einem tröstenden Gesange, und mit Versicherungen ihrer ewigen Liebe. Bald erinnerte sie den Baron, daß der nicht arm ist, der aus dem Schiffbruche seines Glückes noch einen Freund gerettet hat; bald erheiterte sie ihn mit den Bildern einer lachenden Zukunft, mit Hoffnungen, die ihr Glaube zur Gewißheit erhob. Kurz, Iglou's Liebe tröstete ihn mehr als Seneca's Schriften de consolatione, de constantia sapientis, de providentia. 2). Durch ihre Heiterkeit, ihre Geduld bekam auch er Geduld und Heiterkeit wieder.

Seine Wunde schloß sich, und er fand nun Geschmack an diesem Einsiedlerleben. Was könnte durch die Liebe nicht Reitze erhalten! – Mit unerschöpflicher Erfindsamkeit wußte Iglou alle Bedürfnisse des Lebens anzuschaffen oder zu verfertigen. Der Baron konnte nicht länger zusehen, wie seine gute Iglou alles für ihn that, und er für sie nichts. Er fing nun an, die Sorgen der Haushaltung mit ihr zu theilen; und diese Beschäftigungen, die er sonst verachtet hatte, rissen ihm den Tag schneller hin als ehemals seine Bücher und seine Spekulationen. Jetzt begriff er, wie die rohen Völker in dem Kreise ihrer Beschäftigungen das ganze Leben zubringen und glücklich seyn können, ohne je darüber zu philosophiren. Er sammelte auf seinen ehemaligen Feldern und in seinen Gärten Wurzeln, Gemüse für den Winter ein, auf den Fall, daß er gezwungen wäre, noch länger mit Iglou hier zu bleiben; er vergaß den Seneca und alle seine Systeme über einen Keller für seine Lebensmittel, den er graben wollte. Freilich machte er einige Male Versuche, mit Iglou aus dem öden Walde wegzukommen und eine Stadt zu erreichen; aber die ganze Gegend war mit räuberischen Kosaken bedeckt, und menschenleer. Wenn er ja einmal einen Menschen antraf, so hörte er weiter nichts als Erzählungen von den Grausamkeiten der Feinde. Bei diesen Umständen hatte Iglou nicht viele Mühe, ihn zu bereden, daß er wieder umkehrte. Diese Versuche dienten zu weiter nichts, als daß der Baron einsehen lernte, woher die wilden Nationen so scharfe Sinne haben und alle äußeren Gegenstände sich so genau merken können.

Ehe der Baron und Iglou ihren sichern Aufenthalt verließen, besprachen sie sich über die Mittel, ihn wieder aufzufinden, wenn sie etwa nicht fortkommen könnten. Sie gingen nur bei Nacht; am Tage verbargen sie sich in Gehölze oder Waldungen. Iglou rieth dem Baron, auf die Sterne, auf den Zug der Luft, und auf andre Umstände zu merken. Er horchte bei jedem kleinen Geräusche, und bestieg mit Iglou jeden Hügel, um zu sehen, ob nicht etwa Kosaken zu entdecken wären. Dies that er mit aller möglichen Anstrengung, und sah und hörte nun in Kurzem so scharf, wie er es einem Celten nie zugetrauet hatte.

Sieh, sagte Iglou, so macht man bei uns alle Reisen, ja noch mit weit größerer Vorsicht. Wilde Thiere, und noch wildere Menschen, drohen dem Reisenden den Tod. Meine Landsleute müssen ihre Sinne wohl schärfen. Wir können an den Fußstapfen die feindlichen Horden unterscheiden, so wie du jetzt sehen lernst, ob die Spuren der wilden Kosaken neu oder schon älter sind. In Strecken von zwanzig Meilen, und oft noch weiter, findest du bei uns keine Hütte. Wege sind in dem Sande gar nicht zu sehen; und wer sich irrt, ist verloren. Daher merken wir so genau auf alles Auszeichnende, auf jeden einzelnen Strauch. Wir gewöhnen uns sogar, uns eine Gegend aus einem andern Punkte zu denken, als in dem wir stehen; und es gelingt uns: denn die Gefahr macht dem Menschen alles möglich. Du glaubst nicht, wie viel besser meine Landsleute sich auf ihre Sinne verlassen können als hier die Deutschen. Aber natürlich! Ihr habt hier Dorf an Dorf, Stadt an Stadt, Weg an Weg, Meilenzeiger, allenthalben Menschen, die ihr fragen könnt; wozu hättet ihr nun so scharfe Augen und Ohren nöthig? Doch der Jäger, der sie braucht, hat sie fast eben so scharf wie meine Landsleute.

Iglou erzählte das nur, um dem Baron die Zeit zu vertreiben, und wußte nicht, daß sie dadurch einen Theil seines Systems von den Menschen-Racen umwarf. „Die schlechteren Menschen-Racen“, hatte der Baron wohl hundertmal gesagt, „haben schärfere Sinne als die Celten“; und nun lernte er hier aus eigener Erfahrung, daß Uebung und Noth auch dem Celten diese scharfen Sinne geben. Er selbst hörte jetzt, weil er vor den Kosaken und ihren Säbeln zitterte, in der größten Ferne das Wiehern und den Gang der Pferde. Sein Leben hing davon ab, die Hütte im Walde wieder zu finden; und nun war der Weg, den er über Felder und durch Heiden nehmen mußte, so bestimmt und lebendig in seiner Phantasie, daß er sich getrauete, ohne Iglou ihn wieder zu gehen. Er konnte jetzt mit Iglou um die Wette, auch in beträchtlicher Entfernung, Felder, wo Rüben oder Herbstgemüse standen, von allen andern unterscheiden. So schlimm hatte noch niemand seinem System mitgespielt wie jetzt er selbst.

Der Baron und Iglou gingen nach einem vergeblichen Versuche von einigen Tagen denselben Weg, den sie gekommen waren, zurück, ohne zu fehlen, und erreichten ihre Hütte wieder. Nun verschob der Baron seine Reise bis auf den Winter, und machte mit Iglou Anstalt, auf allen Fall noch drei Monathe da leben zu können. Beide sammelten die Ueberreste von Obst in Zaringen; und selbst die nicht eingestürzten Rauchfänge einiger Hütten verschafften ihnen einen Vorrath von Lebensmitteln. Sie gruben den Schutt des Schlosses auf, um zu dem Keller zu kommen, und waren so glücklich, ihn zu öffnen. So verschwanden durch Nachdenken und Arbeitsamkeit alle ihre Sorgen, und der Baron wurde heiter, weil seine Plane ihm so gut gelangen. Iglou bereicherte die kleine Wirthschaft noch mit mancher Bequemlichkeit, die sie unter dem Schutte fand, und brachte einmal sogar auch einige Bücher mit, die der Zufall ihr gegeben hatte. Der Baron warf sie verächtlich an die Seite, und sagte: „Iglou, ich lerne immer mehr, daß Weisheit und Glück nicht in Büchern, sondern in dem Herzen der Menschen wohnen!“ Iglou lächelte ihm Beifall zu.

Sobald die nothwendigen Arbeiten gethan, die Hütte gegen die Kälte des Winters geschützt, ein Holzvorrath angeschafft, die Lebensmittel gegen Fäulniß und Frost gesichert waren: sorgten der Baron und Iglou auch für das Vergnügen, für die Bequemlichkeit. Noch nie fühlte er sich so heiter, so zufrieden als jetzt, wenn er mit Iglou den Tag über gearbeitet hatte, sich nun Abends ermüdet in einen von ihm selbst gezimmerten Lehnstuhl warf, und Iglou dann die Laute nahm, um ihren Gesang damit zu begleiten. Aber nie war auch sein Herz so voll von Iglou gewesen wie jetzt. Er hatte sie Anfangs für sich arbeiten lassen; jetzt fand er Vergnügen daran, für sie zu arbeiten. Es war ihm unmöglich, eine Bequemlichkeit zu genießen, die Iglou nicht mit ihm theilte; und er empfand ganz bestimmt ein höheres, verlangenderes Wohlwollen für sie in seiner Seele. Ihre Gesänge drangen nun tiefer in sein Herz, und versetzten ihn in dunkle, sehnsuchtsvolle Träumereien. Er konnte jetzt mit Wohlgefallen ihre Gestalt betrachten, und sie schien ihm noch einmal so edel, so schlank als sonst. Oft saß er neben ihr, hielt ihre Hand, seufzte, schwieg, und war dennoch glücklich. Er fing an, jede Beschäftigung mit ihr zu theilen, half ihr in der Küche, bei der Wäsche, oder stand doch neben ihr, sah ihr zu, und sprach mit ihr.

Kurz, Iglou's tausendfältige Dienste, ihre Freundschaft, ihre Treue, ihre innige Liebe, ihr Geist, ihr Charakter, ihre Tugend machten endlich tiefen Eindruck auf das Herz des Barons; und ihre Liebkosungen, ihre Umarmungen, ihr zärtliches Hingeben, das durch keinen fremden Eindruck mehr gestört wurde, erregten auch seine Sinnlichkeit. Er sah kein andres weibliches Geschöpf mehr als seine Iglou. Schon längst war sie ihm nicht mehr häßlich gewesen, und jetzt fing sie an, ihm sogar reitzend zu scheinen. In der stillen Abenddämmerung saß er so oft bei ihr, wenn sie die Laute spielte, und hatte seinen Arm um sie geschlungen. Dann drückte er sie zärtlich an sich; und sie erwiederte seine Liebkosungen. Er lag an ihrem Busen, an ihren Lippen, und seine Phantasie wurde aufgeregt. Iglou war ja das einzige Geschöpf, dem er seine Empfindungen mittheilen konnte; und natürlicher Weise hatten auch alle seine Empfindungen nur sie zum Gegenstande. Ohne es selbst zu wissen, liebte er sie wirklich. Er nannte seine Empfindung: Freundschaft; aber sie war die zärtlichste Liebe geworden.

Allmählich stiegen Begierden, Ahnungen, Sehnsucht und Wünsche bei ihm auf, die ihn über die Natur seiner Gefühle zweifelhaft machten. Besonders war Abends sein Herz gewöhnlich so voll, daß er sich gestehen mußte, seine Empfindung für Iglou sey anders als sonst. Eines Abends, da sie wieder neben ihm saß, ihm vorsang, und er seinen Arm um ihren Leib geschlungen hatte, drückte er sie auf einmal heftig an sich, und rief: „ o, meine geliebte Thusnelde!“ Dies Wort vollendete. Dunkle Empfindungen, welche ehemaligen ähnlich waren, hatten es hervorgerufen, und es gab nun diesen dunkeln Empfindungen einen hohen Grad von Klarheit und Stärke.

Die Gefühle, die er einmal in Juliens buhlerischen Umarmungen gehabt hatte, erwachten wieder in ihm, und hefteten sich auf Iglou. Sie schien ihm jetzt so schön, so lockend, so reitzend wie ehemals Julie, ja noch reitzender, da ihre Tugenden mehr Liebe verdienten. Er schlang beide Arme um seine neue Thusnelde, drückte sie mit Heftigkeit an sich, und sagte ihr, daß er unaussprechliche Liebe für sie fühle. Nun endlich kam der süße selige Augenblick für Iglou, da ihre treue, heiße Liebe durch Gegenliebe belohnt wurde. Schon längst hatte sie alle Hoffnung dazu aufgegeben, und auch jetzt konnte sie sich noch nicht überreden, daß ihr allzu großes Glück wirklich sey. Sie glaubte seinen furchtsamen, zitternden Bitten um Gegenliebe noch nicht, nicht dem Taumel, worin ihr Händedruck, ihre Seufzer, ihre Liebkosungen ihn versetzten. Dies alles schien ihr eine überspannte Dankbarkeit, eine stürmische Ueberraschung seiner Sinne, wie in jener Nacht zu Frankfurt. Nein, rief sie, und drängte ihn mit schwacher, zitternder Hand von ihrer Brust zurück: nein, du liebst mich nicht! du kannst mich nicht lieben! O, gieb mir keine Hoffnungen, die nicht erfüllt werden können! Sie würden den letzten Keim meines Lebens tödten.

„Iglou“, sagte der Baron mit Innigkeit, „ich liebe dich. Ja, theure Iglou, ich liebe dich unaussprechlich! Ach, lange habe ich selbst daran gezweifelt; doch nun fühle ich, daß ich ohne deinen Besitz nicht leben kann.“ Iglou war voll der seligsten Freude. Laut weinend lehnte sie ihr Gesicht auf seine Schulter, und ihr Herz schlug vor hoher Wonne, ihre Arme zitterten. Jetzt fing sie an zu glauben, daß er sie liebe, und doch zweifelte bald sie wieder. Sie drückte ihn an ihre Brust, wollte sich von ihm losreißen, und schlang die Arme nur noch fester um ihn. Ihre innige Bewegung ergoß sich auch in das Herz des Barons. Er fühlte in diesem Augenblicke die reine Seligkeit der heiligsten Liebe; seine Sinnlichkeit war verschwunden, und eine unnennbare Ruhe, eine himmlische Zufriedenheit an ihre Stelle getreten. Er faßte Iglou's Hand, und bat sie, sich neben ihn zu setzen. Nun beschrieb er ihr genau seine ehemaligen Empfindungen für sie, und dann auch seine gegenwärtigen. Nach jedem neuen Symptome fragte er: „sag, Iglou, ist das nicht Liebe? heiße Liebe?“

Er verhehlte ihr nicht, wie der Nahme „Thusnelde!“ aus seinem Munde gekommen war, und was er bei ihm gewirkt hatte. „Aber, liebe Iglou“, fuhr er fort; „selbst aus dieser sinnlichen Empfindung beweise ich dir, daß ich dich liebe, daß ich ohne deinen Besitz nicht glücklich seyn kann. Ja, Iglou, du mußt mein werden. Meine Hand, mein Herz, mein Nahme, alles, was ich bin, ist dein. O wollte Gott, daß ein Prediger hier wäre! er sollte sogleich unsre Hände zum ewigen Bunde in einander legen. Aber sieh, Iglou! dort, dort! (Er zog sie von dem Sitze auf, und öffnete die Thür der Hütte.) Dort die Sterne, und der Ewige über ihnen, sind die Zeugen des Bundes, den ich jetzt mit dir schließe. – Willst du meine Frau seyn?“

Iglou sank voll inniger Empfindung auf die Kniee, streckte die Hände zu dem Himmel empor, und betete um Stärke, jetzt Nein sagen zu können. Sie sprang wieder auf, flog an des Barons Brust, umarmte ihn heftig, und sagte mit schmelzender Stimme: ich bitte dich um Eins. Willst du es mir gewähren? – „Ich will es!“ erwiederte der Baron. – Sie war auf dem Wege, ihre eigne Glückseligkeit zu hindern, und dennoch brachte sie endlich schluchzend hervor: nun, ich habe dein Versprechen. Frage mich, so lange wir allein sind, nie wieder, ob ich deine Gattin seyn will!

Er wollte die Ursachen dieser sonderbaren Bitte wissen; aber sie sagte ihm nur: er würde sie in der Folge erfahren. Sie blieb unerbittlich, so sehr der Baron auch in sie drang. In dem Feuer des Gespräches und der Umarmungen brach er sein Wort einmal; sie erinnerte ihn sehr ernst daran, und er war gezwungen zu schweigen. Iglou schloß in der ganzen Nacht kein Auge. Am Morgen vermuthete sie, des Barons Leidenschaft würde sich abgekühlt haben, und nun eine Scene, wie die in Frankfurt, erfolgen; aber er blieb eben so zärtlich, wie er den Abend vorher gewesen war.

Er bat Iglou, ihm wenigstens die Versicherung ihrer Liebe zu geben, wenn sie ihm auch jetzt ihre Hand noch nicht versprechen wollte. Sie blickte ihm mit der innigsten Liebe in die Augen, und legte dann schweigend ihre Wange an seine Brust. Es schien ihr sonderbar, daß der Baron sich damit nicht begnügte, und in sie drang, ihm ihre Liebe mit einem bestimmten Ja zu versichern. Sie that das; doch selbst damit war er nicht zufrieden. Er warf Iglou ihre Kälte vor, und betheuerte ihr, daß sie ihn nicht halb so zärtlich liebe wie er sie. Kurz, er beging alle die Thorheiten, zu denen die Liebe immer treibt. Die glückliche, unendlich glückliche Iglou! Alle die langen kummervollen Jahre des hoffnungslosen Grams ersetzte ihr itzt eine Minute; und dennoch schien sie nicht anders zu seyn als sonst.

Gerade das machte der Baron ihr zum Vorwurfe. So wenig er vorher den stillen Gram ihres Herzens gesehen hatte, so wenig sah er jetzt das hohe Entzücken, unter dem ihre Seele beinahe erlag. Ihre Augen hingen fast immer voll Thränen, ihre Brust arbeitete stets unter der süßen Last ihrer Gefühle. Sie mußte sich hüten, ihre Augen auf den Geliebten zu richten; denn ein zärtlicher Blick von ihm setzte sie jedes Mal außer sich, so daß sie beinahe zu seinen Füßen niedergesunken wäre. Dann aber hätte er sie umfaßt; ach! und sie wäre gewiß ihren Vorsätzen untreu geworden.

So wahrscheinlich, so gewiß es ihr jetzt bei seiner immer wachsenden Zärtlichkeit wurde, daß er sie wirklich liebte, so stand doch der unglückliche Gedanke: er liebt mich nur, weil er mit mir allein ist! immer vor ihrer Seele, und goß einen Tropfen Wermuth in ihr Entzücken. Die Liebenden waren Beide allein, und jeden Augenblick beisammen. Iglou's Lager stand nicht eine Elle breit von dem seinigen entfernt. Sie hörte seine Seufzer, er die ihrigen; und ihre Hände ruheten verschlungen in einander, bis der Schlummer sie trennte. Liebkosungen, Umarmungen, Betheuerungen ewiger Treue, flammende Liebe, Einsamkeit, Stille und Dunkelheit bekämpften das heiße Herz des Mädchens, und zogen sie einer Schwäche entgegen, die selbst der strengste Rigorist unter solchen Umständen wohl nur „menschlich“ genannt haben würde; und dennoch besiegte ihre Tugend alle diese Feinde.

Iglou wußte aus des Barons eignem Munde, daß er sie, wenn er in Frankfurt mit ihr gefallen wäre, von dem Augenblicke an als sein Weib betrachtet haben würde; und sie kannte seine Redlichkeit. So war sie denn, wenn sie sich ihm ergab, seiner Hand gewiß; aber eben das verlieh ihr Stärke, allen Angriffen, ihrem eigenen brennenden Herzen, und – warum sollte man es nicht sagen? – ihrer Sinnlichkeit zu widerstehen. Vielleicht, dachte sie seufzend, verschwindet dieser Taumel bei ihm wieder, wenn er nichts anders ist als Sinnlichkeit. Er liebt mich wohl nur, weil er mich mit keinem anderen weiblichen Geschöpfe vergleichen kann. Könnte er das, ach! vielleicht würde dann mein armes Herz wieder ein Raub des alten Grames. Nein! und sollte mein Herz brechen, ich gebe ihm meine Hand nicht eher als unter Menschen, unter den Augen der weißen Mädchen, die alles haben, was ihm gefallen kann, nur nicht mein Herz für ihn. – Sie blieb ihrem Vorsatze treu, und siegte, so schwer der Baron und ihr eignes Herz ihr den Kampf auch machten. Mehr als Einmal schwebte sie nahe an dem Rande des Abgrundes; aber mit der Kraft, welche wahre Tugend im Augenblicke der Gefahr immer hat, riß sie sich wieder zurück.

Die Tage verschwanden Beiden nun wie Augenblicke unter kleinen Zänkereien der Liebe, unter Versöhnungen, unter Arbeit, Sorge für einander, unter Spielereien, unter den tausend Kleinigkeiten, welche die Liebe so wichtig macht. Nie war Iglou, nie war der Baron so glücklich gewesen wie hier bei so mancher Entbehrung und mitten in der Einsamkeit. Die kleine elende Hütte wurde ein Aufenthalt des höchsten Glückes, das die Vorsehung auf der Erde ertheilen kann: ein Aufenthalt der Liebe, der Tugend und der Zufriedenheit.

Gewiß, wenn nicht Mangel und Sorge für die Zukunft die Liebenden erinnert hätten, daß hier ihre Wohnung nicht bleiben könne: ihr Herz, ihre Wünsche würden sie nicht daran erinnert haben. Sie hatten die Russen, die ganze Erde vergessen, und lebten nur in sich selbst. O, wehe dem Menschen, der, um sich für glücklich zu halten, mehr braucht als Liebe, Tugend, eine kleine Hütte, ein Kornfeld, und einen Garten! Iglou und der Baron bedurften nicht mehr; und hätte sie ihm ihre Hand gegeben, so würde er es auch mit dem rauhen Winter aufgenommen und seine glückliche Stille nicht verlassen haben. Noth trieb sie in die Hütte, welche Liebe ihnen zu einem Paradiese machte; Liebe trieb sie wieder unter die Menschen, von denen sie so gern entfernt geblieben wären.

Dem Baron wurde endlich die Hütte, die Wohnung seines Glückes, zuwider, und er wünschte, sie verlassen zu können, um noch glücklicher zu werden. Iglou liebte ihn, das sah er augenscheinlich; aber die ganze Gewalt seiner Liebe konnte das zärtliche Mädchen nicht dahin bringen, ihm zu sagen, daß sie seine Gattin seyn wollte. Er liebkoste ihr, drang in sie mit Bitten, mit Schwüren, zärtlichen Vorwürfen, Umarmungen, zog sie auf seine Kniee, lehnte ihre Wange an sein Herz, mahlte ihr in dieser vertraulichen Stellung das Glück ihrer Ehe mit den reitzendsten Farben, und lockte dadurch Thränen der Freude aus ihren Augen, Seufzer der süßesten Sehnsucht aus ihrer Brust. Nun fehlte nichts mehr als ihr Versprechen, seine Gattin zu werden. Es lag schon auf den lächelnden Lippen, in den vor Freude glänzenden Augen. Er wollte es hervorreißen. „Nun, Iglou, theure, geliebte Iglou; willst du mein Weib werden? Sag doch Ja; ich bitte dich bei unsrer Liebe darum.“ Sie seufzte, legte ihm die Hand auf den Mund, und sagte: Flaming, was hast du mir versprochen? O, thu die Frage nicht wieder, so lange wir allein sind. Ich kann, ich darf sie jetzt nicht beantworten!

„Nun wohl, so laß uns die Einsamkeit verlassen, Iglou. Ohnehin kommt der Winter.“ Iglou schwieg; ach, sie befürchtete, daß unter Menschen ihr Glück wieder zusammen stürzen würde. Sie wollte, wenn es nur ein schöner Traum wäre, gern noch länger so fort träumen; allein Flaming drang mit aller ersinnlichen Gewalt auf ihre Abreise. „Ich will, ich muß wissen“, sagte er, „ob ich der glücklichste Mann oder der unglücklichste seyn soll.“ Gern hätte Iglou gerufen: du ein glücklicher Mann; ich das glücklichste Weib! aber sie schwieg und seufzte. Beide dachten nun mit Ernst auf ihre Abreise. Sie forschten die Gegend aus, und fanden schon wieder hier und da einzelne Menschen, welche ihnen die Nachricht gaben, daß die Russen sich die Oder weiter hinunter gezogen hätten. Doch wäre, setzte man hinzu, die Straße noch immer nicht sicher, weil die Oestreichischen leichten Truppen die Verbindung zwischen beiden Armeen machten.

Der Baron wollte gern nach Berlin hin, wo seine Mutter sich jetzt bei Käthen aufhielt. Iglou ließ sich die Wege, die Gegenden bezeichnen, welche am sichersten waren, und Beide traten nun, mit einer Büchse, einem Hirschfänger bewaffnet, und mit Lebensmitteln versehen, ihre Reise an. Die Gefahr schien ihnen größer, als sie war. Die Russen und auch die Oestreicher hatten sich zurückgezogen. Nur am ersten Tage sahen sie noch Spuren von Verwüstung. Den folgenden Mittag stießen sie schon auf ein Dörfchen, wo die Einwohner wieder Hütten gebauet hatten, freilich um sie im künftigen Frühjahre noch einmal zu verlieren. Des Barons Gesicht erheiterte sich, als er das Dorf erblickte. Er schloß in froher Trunkenheit Iglou an seine Brust, und weidete sich dann an dem Anblicke von thätigen Menschen, die zum Theil noch beschäftigt waren, sich aufs neue einzurichten. Aber auf einmal faßte er Iglou's Hand mit einem heftigen Entzücken, und sagte mit zitternder, froher Stimme: „nun, Iglou, sind wir unter Menschen. Jetzt frage ich dich: willst du meine Gattin werden? Sieh hin, dort steht ein Geistlicher. Ich habe Wort gehalten; nun aber, liebe, theure Iglou ...“

Iglou gerieth in Verlegenheit, weil des Barons Dringen ihre ganze Absicht störte. Aber schnell fiel ihr ein Vorwand ein, den er selbst gegründet findet mußte. Lieber Flaming, sagte sie: wenn ich auch hier Ja sagen wollte – was würde es dir und mir helfen? Ich bin noch nicht getauft.

Flaming konnte die Richtigkeit dieser Einwendung nicht bestreiten, und schwieg mit gerunzelter Stirn; aber desto schneller eilte er nun nach Berlin, und bezog dort seine vorige Wohnung, die gerade offen stand. An Gelde fehlte es ihm und Iglou nicht, da Beide ziemlich viel in ihre Kleider eingenähet hatten. Noch am Tage seiner Ankunft sorgte er für Kleider, und dann sprach er mit einem Prediger, der Iglou unterrichten und nachher taufen sollte. Er sagte Iglou, was er gethan hatte, und bat sie dringend, ihm nichts in den Weg zu legen. Sie weinte Freudenthränen, aber dennoch forderte sie von ihm, er sollte sie nun einen Monath lang sich selbst, der Einsamkeit und dem Unterrichte des Predigers überlassen. Als er eingewilligt hatte, bat sie ihn noch, bei der Frau von Graßheim zu wohnen und von seinem Verhältnisse mit ihr den ganzen Monath hindurch zu schweigen.

„Wohl, Iglou! auch das!“ sagte der Baron. „Aber wenn der Monath vorbei ist – was dann? was dann?“

Dann will ich, was du wünschest.

„Was ich wünsche, Iglou? Weiter nichts in der Welt als deine Liebe und deinen Besitz. Iglou, du hast Mißtrauen gegen mich. Glaube mir, ich werde nie etwas wünschen als den Besitz deines Herzens, und dich ewig lieben. Nun, so leb wohl auf einen Monath.“

Der Baron ging zu Käthen, der er ihren muthwilligen Streich mit den Porträts, an den er überdies jetzt gar nicht dachte, schon längst vergeben hatte. Bei ihr fand er auch seine Mutter, die sich aus Schlesien, des Krieges wegen, hatte entfernen müssen. Nach den ersten frohen Umarmungen wurde er sichtbar traurig. Man schrieb diese Stimmung dem Verluste seiner Güter zu; er trauerte aber um nichts als um Iglou's Abwesenheit.

Käthe hatte den Plan, ihren Vetter zu verheirathen, noch gar nicht aufgegeben. Sie brachte ihn in Gesellschaft mit den schönsten Mädchen in Berlin; aber er sah sie kaum, weil er nur an Iglou dachte. Käthe fragte ihn nun, ob er etwa wieder eine Braut hätte; und er schwieg, weil er es Iglou versprochen hatte. Sie suchte ihn mit sehr hübschen blonden Mädchen in Unterredungen zu verwickeln, und die Mutter unterstützte sie bei ihren Planen; aber er war gefällig, höflich, freundlich, und nichts weiter: er liebte, und hatte für jetzt alle seine Systeme vergessen. Seine Mutter fand ihn viel vernünftiger, als sie ihn sich gedacht hatte, und weinte fast bei jeder Unterredung mit ihm an seinem Herzen süße mütterliche Thränen.

„Ja, meine theure Mutter“, sagte er einmal: „ich ging wohl mitunter zu weit, ob ich gleich – das versichere ich Ihnen – nie ganz Unrecht hatte; aber dieses Herz blieb immer Ihrer werth. Ich theilte die Menschen in Klassen ein, und glaube noch jetzt, daß meine Meinung richtig ist, sobald ich nur Ausnahmen zugebe; aber nie habe ich einen Menschen, von welcher Klasse er auch war, gehaßt oder gedrückt. Ja, liebe Mutter, in jedem Augenblicke meines Lebens wird mein Herz nur für den Menschen und für sein Wohl schlagen. Wenn ich nichts gelernt habe, so weiß ich doch mit Ueberzeugung, daß Tugend mehr ist als Wissenschaft, daß Tugend und Liebenswürdigkeit nicht nothwendig an blauen Augen und blondem Haare hangen, und daß sie unter allen Himmelsstrichen gedeihen können. Ein Mädchen ist meine Lehrerin gewesen.“

Ein Mädchen? fragte die Mutter, und wollte mehr wissen. „Sie sollen sie kennen lernen, und das bald!“ sagte der Baron mit Entzücken: „die Retterin Ihres Sohnes, seine Freundin, seine ...“ – Er brach ab. Geliebte? fragte die Mutter lächelnd. O, mein Sohn, mit Freuden will ich sie an dies mütterliche Herz aufnehmen. – Der Baron wollte sich nicht näher erklären, so viel seine Mutter auch fragte. Sie erkundigte sich nun wenigstens nach dem, was ihr das Wichtigste war, dem moralischen Charakter seiner Geliebten; und der Baron brach in ungemessene Lobeserhebungen über sie aus. Er zog einen Brief von dem Obersten Brensen hervor, der Iglou betraf. Diesem hatte er geschrieben, daß er und Iglou gerettet wären. Der Oberste antwortete ihm: „ich danke Gott, lieber Baron, daß Sie entkommen sind; denn ich liebe Sie. Aber, daß er mit Ihnen auch das edle Mädchen gerettet hat, dessen erhabenen Charakter ich erst aus den Briefen der Hilbert recht habe kennen lernen, das werden ihm alle Unglückliche danken, die sich diesem wohlthätigen Engel in der Folge nähern. Grüßen Sie Ihre Freundin von mir, lieber Baron. Was ich nicht konnte, hat sie doch gekonnt: Ihr verdammtes Menschen-Racen-System über den Haufen geworfen. Gott segne das Mädchen dafür!“

Frau von Flaming, die den Obersten Brensen kannte, freuete sich, daß ein so edler Mann ihrer künftigen Schwiegertochter ein solches Zeugniß gab. Sie erzählte Käthen davon, und diese brannte vor Neugierde, ihre künftige Cousine zu sehen. Sie sagte: Von seiner ersten Braut, liebe Tante, habe ich hier viel gehört. Sie soll ein herrliches Geschöpf seyn, die Hilberten: gut wie ein Engel, und auch eben so schön. Die reitzendste Blondine auf der Erde, hat man mir gesagt. Aber der Vetter Quinctius liebt nun einmal die sehr Blonden. Geben Sie Acht, blond wird diese wieder seyn. Ich kann sie mir schon recht denken. Ein schlankes Mädchen, weiß wie Alabaster, mit blaßrothen Lippen, langem blondem Haar, hellblauen Augen. O, wenn ich sie doch erst sähe!

Der Baron hielt Wort. Er sah Iglou nicht; aber desto öfter erkundigte er sich nach ihr bei dem Prediger. Dieser erstaunte über den einfachen hohen Geist der Mohrin, und meinte, es hätte, da sie das Religions-System schon recht gut kenne, zu ihrem Unterrichte nur einige Tage, und nicht eines Monaths, bedurft. Doch Iglou bestand auf diese Verzögerung. Endlich kam der Tag der Taufe, die in aller Stille und nur in des Barons Gegenwart vorgenommen wurde. Iglou war tief gerührt, und Flaming nicht weniger. Er beschenkte den Prediger sehr reichlich, und fuhr nun sogleich mit Iglou nach ihrer Wohnung. Kaum war er in das Zimmer getreten, so faßte er ihre Hand, und fragte mit gespannter Erwartung: „nun, Iglou? nun? Nein, ich werde dich nie anders nennen als bei diesem wohlklingenden Nahmen, den ich so liebe.“ (Sie hatte bei der Taufe den Nahmen Christiane bekommen.) „Nun Iglou? Ich habe alle Bedingungen erfüllt, und frage dich jetzt noch einmal: willst du meine Gattin seyn.“

Und wenn nun meine Antwort Nein wäre? fragte sie ihn mit einem scharfen Blicke. Er erblaßte, und rief: „Gott im Himmel! habe ich mich auch in diesem Herzen betrogen? Ist es möglich? kann auch Iglou falsch seyn? Iglou, du brichst mein Herz!“

Dein Herz? rief Iglou; Liebe, Treue, Entzücken sollen es brechen. (Sie warf sich mit einem Strome von zärtlichen Thränen in seine Arme.) Ich bin dein, theurer, geliebter Flaming; ich bin dein! O, verzeihe mir! Ach, wie konnte ich an die Erfüllung aller meiner so oft zerstörten Wünsche glauben!

Eine Scene voll unaussprechlichen Entzückens: der Triumph der Liebe. Die Liebe war Tugend geworden, die Tugend Liebe; Beide hatten, eine in das Wesen der andern verwandelt, zwei Herzen vereinigt. Tugend, Freundschaft, Dankbarkeit und Treue, alle die bessern Empfindungen der höheren Seelen, bildeten die Liebe, durch welche diese beiden Menschen so glücklich waren. So lernen die höheren Geister einer bessern Welt sich lieben; mit diesen Empfindungen sinken sie einander an das Herz, schwören sich, eins zu seyn, und der ganze Himmel jauchzt in die heilige Verbindung. Iglou und Flaming standen da, in einander versunken, auf ewig vereinigt: nicht mehr Mohrin und Celte; zwei edle, geistige, glückliche Wesen, die sich ewige Liebe, ewige Tugend versprachen, und mit Sicherheit wußten, daß sie ihren Schwur halten würden.

Nun wollte aber der Baron auch nicht länger zögern. Iglou mußte sogleich mit zu seiner Mutter fahren, bei der er Käthen gerade antraf. Er stellte ihr Iglou vor, und sagte: liebe Mutter, dies ist das Mädchen, dem ich alles, was ich bin, verdanke; dies ist meine edle Freundin, meine theure Geliebte, und, wie ich hoffe, in wenigen Tagen meine Gattin.

Frau von Flaming war in einer seltsamen Lage. Sie hatte freilich ihrem Sohne eine sonderbare Heirath zugetrauet, und ihn in diesem Punkte gleichsam schon aufgegeben; aber eine Mohrin! das überstieg doch alle ihre Erwartungen. Sie blieb stumm da sitzen, ohne ein Wort hervorbringen zu können. Käthe hingegen äußerte ihren Unwillen ganz sichtbar; sie stand auf, stellte sich in ein Fenster, und murmelte: der abscheuliche Narr! Erst ist ihm kein Mädchen weiß genug; und nun holt er sich eins, das schwarz ist wie die Nacht! – Sie verließ das Zimmer mit auffallender Hitze, ohne noch einen Blick auf Iglou zu werfen.

Frau von Flaming sah ihren Sohn an, weil sie anfing zu glauben, er könnte wohl einen Spaß machen wollen; aber die zärtlichen Blicke, die er Iglou zuwarf, überzeugten sie bald von dem Gegentheile, und ihre Verwirrung wurde nun immer größer. Sie fühlte, daß sie etwas sagen mußte, und konnte doch nicht mit sich einig werden, was. Jetzt lächelte sie, und schlug die Augen auf; dann blickte sie wieder zu Boden. „Mutter“, sagte der Baron endlich; „wie sind Sie?“ – Ja, mein Sohn, erwiederte sie mit Kopfschütteln: eine Heirath zwischen einem Deutschen und einer Afrikanerin ist so selten, daß ich mich in diesem Augenblicke sehr verlegen fühle. Ich glaube, selbst dieses Mädchen wird meine Betroffenheit natürlich finden. In der That, mein Sohn, ich billige deine Wahl nicht, weil ich nichts billigen kann, was von den gewöhnlichen Verhältnissen so weit abweicht. Wie kannst du lieben, könnte ich fragen, was die Natur so sichtlich durch körperliche Gesetze von dir trennte?

Ein höheres Gesetz, sagte Iglou mit zitternder Stimme, ein besseres Gesetz mußte es doch möglich machen; denn wie kann ich ihn lieben? könnte ich wieder fragen. Diese Farbe, fuhr sie traurig fort, und hob ihre schwarze Hand nahe vor ihr thränenvolles Auge – ach! die unglückliche Farbe meines Körpers, trennte unsre Seelen lange, sehr lange; aber soll denn nicht eher, als bis dieser Körper Erde ist, soll nicht schon in diesem Leben Dankbarkeit, Treue, Tugend einmal mehr seyn als der Glanz einer Haut, der Blick eines Auges? Die Geister am Throne des Ewigen würden mich lieben; denn ich fühle mich ihrer werth. Sind nun die Gesetze des Himmels weniger als ein Gesetz, welches das Auge des Menschen giebt? Du verdammst mich zu Unglück, weil ich schwarz bin. Würdest du es nicht für ungerecht halten, wenn man in meinem Vaterlande dich quälte, weil du weiß bist? Ich denke, du handelst nicht gegen mich, wie du solltest. Aber du bist nicht die erste, die durch Verachtung meinem Herzen den Glauben an die ewige Güte beinahe rauben könnte. Nun, wenn der Gram diesen Körper in Staub verwandelt hat, dann werde ich doch einmal wissen, warum der Ewige dieses treue, liebende Herz in eine schwarzgefärbte Brust legte! – Sie schluchzte laut. Ich will dich nicht beleidigen, setzte sie abgebrochen hinzu. Euer Abscheu gegen mich scheint natürlich, weil er so allgemein ist; aber klagen darf ich doch, daß der Ewige mich mit diesem heißen Herzen hierher führte! klagen – und sterben!

Sie wendete sich langsam um, und machte eine Bewegung gegen die Thür. Der Baron umfaßte sie mit zärtlicher Heftigkeit, und hielt sie fest. „Mutter“, sagte er zugleich, „wenn Sie dieses Herz erst kennen, so werden Sie es Sich nie vergeben, daß sie ihm wehe thaten.“

Iglou's Ton war sanft und eindringend; ihre Worte kamen tief aus der Seele hervor, und in jedem, das sie gesagt hatte, lag ein hoher, geduldiger, seelenvoller Schmerz. Es waren nicht Töne, die schnell verhallen, wenn sie die Lippen verlassen; nein, Geister, welche Ohr und Herz noch immer umschwebten. Die sanfte, alles Edle schätzende Frau von Flaming fühlte unaussprechliche Rührung, aber zugleich noch immer einen heftigen Widerwillen – nicht gegen Iglou, sondern gegen die Verbindung ihres Sohnes mit ihr. Sie würde Iglou von diesem Augenblick an geliebt haben, wenn das Mädchen nicht ihres Sohnes Hand verlangt hätte. Eine Mohrin! Stärker konnte doch in der That eine Mutter nicht auf die Probe gesetzt werden. Sie warf einen nachdenkenden Blick auf Iglou, hatte bald Thränen in den Augen, und verlangte nun sanft eine Unterredung mit ihrem Sohne.

Ich weiß, was du willst, sagte Iglou: deinen Sohn bereden, mich zu verlassen. Du könntest ihm alles in meiner Gegenwart sagen. Ich selbst habe gethan; was du thun willst, und seine Verbindung mit mir verzögert. Schon längst könnte ich seine Frau seyn; ich wurde es nicht, weil ich ihn liebe, weil ich ihn glücklich machen wollte. Rede ihm zu, mich zu verlassen. Ich bin mit diesem Opfer lange bekannt, und werde schweigen. – Mit diesen Worten ging sie in das Nebenzimmer. Da war Käthe, die gehorcht hatte, und jetzt Iglou gerührt mit einem Händedruck empfing.

Frau von Flaming ließ sich von ihrem Sohne erzählen, wie er mit Iglou bekannt geworden, und wie seine Liebe, wie die ihrige zu ihm, entstanden war. Sie bat ihn, das mit aller Aufrichtigkeit zu thun. Mein Sohn, sagte sie, du hast nicht nöthig, mir etwas zu verhehlen. Sie ist deine Gattin, so bald du willst, so ungern ich es auch sehen könnte. Ich will nichts als dir rathen.

Der Baron erzählte. Sobald er anfing in Ekstase zu kommen, kühlte seine Mutter ihn durch ein paar Fragen wieder ab. Sie zitterte, als sie hörte, daß Iglou ihn aus den Händen der Buhlerin Julie gerettet hatte; aber zugleich fühlte sie, daß die Welt eine Verbindung mit dieser Buhlerin nicht so seltsam finden würde wie die mit einer Mohrin. Das sagte sie auch dem Baron. „Die Welt“, erwiederte er, „freilich die würde so denken; aber Sie, Mutter, ich, mein Herz, mein Gewissen, jeder Tugendhafte, Gott – denken auch die so? Und bin ich denen nicht mehr schuldig als der Welt?“ – Ja, lieber Sohn; aber die Welt verlangt Rechenschaft von dir: und die kannst du nicht geben. Mein Sohn, es gehört großer Leichtsinn, oder große heroische Tugend dazu, sich über die Urtheile der Welt hinaus zu setzen, entweder das nicht zu hören, was sie urtheilt, oder das ehrwürdig zu finden, was ihr lächerlich scheint. Leichtsinnig bist du nicht; aber wirst du so standhaft, so groß, so heroisch seyn, daß die Mohrin, ihr Lächeln, ihre Tugend, ihre Umarmung dir immer mehr sind als der Beifall der Welt? Wird nie in einem unbewachten Augenblicke ihr Hohngelächter dein Herz treffen? Schon die leichteste Berührung deines Herzens würde dann sogleich eine Wunde werden, die deine Glückseligkeit tödtete und die Seele deiner Gattin langsam vergiftete! Ueberlege das, mein Sohn! Tausende waren standhaft gegen die Lockungen der Welt; aber nur Einzelne haben Spott verachtet.

„Spott? Mutter, ich will mit Iglou den Spott der ganzen Welt verachten. Sie wissen nicht, wie sehr ich sie liebe.“

Was du jetzt könntest, weiß ich. Aber, was du nach zwanzig Jahren noch können wirst, wenn Alter und Ueberlegung deine Liebe kälter gemacht haben: davon rede ich; daran, bitte ich dich, zu denken.

„Meine Liebe? Was nennen Sie so? Liebe ich denn, wie thörichte Jünglinge, eine weiße Haut, Rosen auf den Wangen? Meine Liebe ist von anderer Natur: aus Achtung, Werthschätzung, Vertrauen, Dankbarkeit, Tugend, Unterhaltung entstanden. Iglou ist nicht schön, sagen Sie selbst; und ich will das einmal zugeben. Wohl denn! so ist meine Liebe nicht die vergängliche, die mit dem Blumenmonath entsteht, und, wenn die Blume welkt, mit ihr verschwindet. Ich liebe Iglou's Geist, dieses unsterbliche Wesen, dessen Schönheit immer wächst, dessen Reitze sich immer verdoppeln.“

In der That, lieber Quinctius, ich kann dich nicht begreifen. Ich glaubte, Dankbarkeit, Pflicht, hätten dich an dies Mädchen gefesselt. Du liebst sie also zärtlich? Wie ist das möglich! Wie kannst du ein so häßliches Geschöpf lieben!

„Häßlich, liebe Mutter? Was ist denn an ihr häßlich? Nur die Farbe. Ihre Gestalt ist edel, groß; ihr Arm, ihr Fuß schön; ihr Busen gewölbt; ihre Augen voll Geist, Feuer und Leben; ihr Gesicht voll himmlischer Unschuld und Güte. Und ihre Stimme! – haben Sie je eine wohlklingendere gehört? Selbst ihre Farbe hat sich sehr verschönert, seitdem ich sie kenne, besonders in den letzten sechs Monathen. Sehen Sie ...“

Genug, genug! unterbrach ihn die Mutter; erzähle nur weiter. Du gingst also nun mit der Mohrin nach Zaringen?

Er erzählte ihr seine fernere Geschichte. Als er auf sein Leben mit Iglou in der Einsamkeit kam, wußte die Mutter sich das Entstehen seiner Liebe zu erklären; zu gleicher Zeit fühlte sie sich aber von Iglou's Edelmuthe tief gerührt, und fing nun an, der Liebe ihres Sohnes eine längere Dauer zuzutrauen. Sie sah jetzt, wie viele Schwierigkeiten es gekostet haben mußte, ehe aus ihres Sohnes Freundschaft für Iglou diese zärtliche, begeisterte Liebe hatte werden können, da sein System von den Menschen-Racen ein so großes Hinderniß gewesen war. Hieraus schloß sie mit Grund auf die Allmacht seiner Neigung, und gab fast schon die Hoffnung auf, etwas gegen seinen Entschluß zu vermögen.

Indeß wußte sie immer noch nicht, ob alles so sey. Sie bat ihren Sohn, sie mit Iglou allein zu lassen, ging zu dieser hin, und ließ sich nun auch von ihr ihre ganze Begebenheit mit dem Baron erzählen. Iglou sprach mit ihrem natürlichen Feuer von ihrer Liebe, ihrem Kummer, ihrer Verzweiflung, und dann von ihrer Freude, ihrem Entzücken.

Als sie fertig war, faßte die Frau von Flaming mit zärtlicher Güte ihre Hand, drückte sie, und sagte: „ich sehe, du bist eben so edel und vortrefflich, als du unglücklich gewesen bist. Wenn du das nicht wärest, meine Tochter – (Bei diesem Worte sank Iglou vor der Mutter nieder; die Baronin hob sie auf, und fuhr fort): – wenn du nicht so vortrefflich wärest, so würde ich keine Sylbe verlieren, liebes Kind. Mein Sohn gäbe dir dann seine Hand; ich hoffte, schwiege, und betete für euer Glück. Aber bei dir, liebe Tochter, kann ich mehr: dir rathen; noch ein größeres Opfer von dir fordern, als du bis jetzt gebracht hast. (Iglou zitterte.) Mein Sohn hat dich Anfangs nicht geliebt; du sagst selbst, daß deine Farbe, deine Gestalt ihm zuwider gewesen sind. Er liebt dich jetzt; aber gutes Mädchen – wie ist seine Liebe entstanden? In der Einsamkeit, als er mit dir abgeschieden von allen andern weiblichen Geschöpfen lebte. Du selbst bist mißtrauisch gegen seine Empfindung gewesen; soll ich es nicht noch jetzt seyn? Liebes Kind, wenn nun seine Empfindung für dich weiter nichts als eine Selbsttäuschung wäre! wenn diese Liebe, die in der Einsamkeit entstand, unter den Menschen wieder verginge! wenn einst sein Herz eine andere Liebe fühlte, und er dann entweder dir untreu würde, oder unter der Erfüllung seiner Pflicht erläge: würdest du dann glücklich seyn? Und sag selbst, ob das nicht möglich ist!“

Iglou zitterte, und wurde sichtbar blaß. Sie ging in großer Bewegung einige Male das Zimmer auf und nieder, stand dann plötzlich vor der Baronin still, faßte ihre Hand, und fragte sie feierlich: glaubst du, daß es so seyn wird?

Wenn es so wäre! liebes, edles Mädchen, sage ich; wenn es so ginge!“

Meinst du, fragte Iglou ernst, daß es so gehen kann? Du hast viel erfahren, und kennst das Herz genau, hat Lissow mir gesagt. Ich bitte dich, denke, ehe du sprichst, und sage nichts, was du nicht einst, wenn Europäer und Afrikaner vor dem Richterstuhle des Ewigen stehen, und nicht mehr die Farbe uns unterscheidet, wiederholen möchtest. Sag, ist es so, wie du vermuthest? Du triffst mit einem Ja mein Leben. Aber, wenn du mußt, so zerschlage getrost dies Herz; es gehört dem Glücke deines Sohnes.

Die Baronin stand einen Augenblick an, weil sie nicht mit sich selbst eins werden konnte. Sie war in großer Bewegung; ihre Augen funkelten, und ihre Brust hob sich. „Iglou!“ sagte sie dann auf einmal, und umfaßte sie. Doch bald ließ sie das Mädchen wieder los, und besann sich aufs neue. „Iglou“, fing sie endlich wieder an; „es ist so, wie ich sagte. Mein Sohn täuscht sich selbst; er glaubt dich zu lieben, und liebt dich nicht. Das will ich dir an dem großen Tage, den du nanntest, wiederholen. Du würdest ihn unglücklich machen. Gewiß, das würdest du!“

Iglou stand betäubt da, und eine Thräne, die aus ihrem erstarrenden Herzen hervorbrach, blieb in dem todten Auge hangen. Nur ihr schnelleres Athmen zeugte, daß sie noch lebte. In dieser Minute zerfloß die Welt vor ihrem Blicke; das Daseyn schien ihr ein giftiger Nebel, der Tod die Sonne hinter ihm. Das Opfer, das sie bringen wollte, war ihr leicht; denn sie fühlte, daß sie mit ihrer Liebe auch dem Leben entsagte. – Und dann! dann! rief sie nach einigen Minuten mit heiteren Blicken. Mit diesem Ausruf flogen ihre Hoffnungen in die Ewigkeit hinüber, da sie nun auf der Erde nichts mehr zu verlieren hatte. Ihre Stellung wurde stolz und heroisch. Beides, der reichste Besitz, und gänzlicher Mangel, selbst an Hoffnung, macht gleich stolz und kühn. – Iglou sagte kalt, doch mit einem Tone, der das Herz der Baronin bewegte: ich gebe ihn auf; aber ich will ihn nicht wiedersehen.

Die Baronin betrachtete sie mit leuchtenden Augen; dann sagte sie: „nein, edles Mädchen; du selbst mußt dein Opfer vollenden. Du selbst mußt ihm sagen, daß du nie seine Gattin werden willst. Würde er mir glauben, Iglou, daß du ihn freiwillig aufgiebst?“

Muß ich? ... Was muß ich noch, ehe ich vergehe? ... Ja, ich will es ihm sagen. – Sie eilte zu der Thür, riß sie auf, und stürzte, mit dem Tode im Blicke, zu dem Baron in das Zimmer. Die Mutter folgte ihr schnell, nahm sie bei der Hand und sagte mit Thränen der Freude: „hier, mein Sohn! nimm deine Gattin aus den Händen deiner Mutter! So treu hat nie ein Weib geliebt, wie diese schöne Seele dich.“

Die Freude traf zu schnell. Iglou sank ohne Bewußtseyn an des Barons Herz. Als sie wieder zu sich kam, warf sie sich der Baronin in die Arme. Sprechen konnte jetzt niemand; nur einzelne Wörter, Seufzer, brachen aus dem vollen Herzen hervor. Käthe kam und fragte. „Sie ist seine Braut! sie ist meine Tochter! – Ich werde seine Gattin! – Sie ist mein!“ so riefen sie Alle auf einmal, und umarmten Käthen wechselsweise. Käthe begriff noch immer nicht, wie ihre Tante über eine so seltsame Verbindung so vergnügt seyn konnte. Liebe Tante, sagte sie nachher, als sie mit der Baronin allein war, und die ganze Begebenheit wußte: ja, er liebt sie, und sie ihn. Aber, bedenken Sie doch! was wird die ganze Stadt dazu sagen!

„Du, liebe Käthe, berufst dich auf die Stadt? du? Wäret ihr, du und Lissow, einander treu geblieben, – liebes Kind, würdest du mich nicht für sehr hart gehalten haben, wenn ich dir meine Einwilligung verweigert hätte, ohne einen andern Grund anzugeben als den: was würde die Welt dazu sagen, wenn das Fräulein von Nothafft einen Predigerssohn heirathete?“

O, liebe Tante, das wäre doch aber auch ganz etwas Anderes gewesen!

„Willst du mir wohl den Unterschied sagen?“

Darüber hätte sich nicht die ganze Welt aufgehalten; höchstens der Adel. Die Bürgerlichen würden gesagt haben: es ist recht! Die jungen Leute lieben einander; und kann sie nicht mit ihm glücklich seyn, wenn sie ihn liebt?

„Nun, könnten die Menschen nicht gerade das auch jetzt sagen?“

Das könnten sie freilich. Aber, liebe Tante, gegen diese Verbindung ist nicht der Adel allein, sondern alle Menschen von allen Ständen.

„Ja, das sind sie ohne Zweifel. Aber Käthe, wenn du nun nicht anders hättest glücklich seyn können als mit Lissow, hätte ich mich dann an das Urtheil des Adels kehren sollen?“

Nein, Tante; aber eine Mohrin ...

„Ruhig, Liebe! Warum hätte ich mich an das Urtheil des Adels nicht kehren dürfen?“

Weil es ungerecht gewesen wäre.

„Nun, worin denn ungerecht?“

Ei, Liebe und Glück gehen vor Rang und Geburt.

„Aber mich dünkt, auch vor Farbe. Ist die Forderung aller Menschen, mein Sohn soll ein Mädchen, das er liebt, das ihn liebt, nicht heirathen, weil das Mädchen eine schwarze Haut hat – ist die nicht eben so ungerecht als die Forderung: er soll kein Mädchen heirathen, das nicht von Adel ist?“

Das ist wohl wahr, liebe Tante; aber ich fühle doch einen Unterschied. Darin, daß er eine Mohrin heirathet, liegt etwas, wodurch es weit unangenehmer wird.

„Nichts, mein Kind, außer, daß alle Menschen zusammen genommen ihre Vorurtheile so gut haben wie der Adel, nur daß keiner sein Vorurtheil für das will gelten lassen, was es ist. Du würdest deinem Sohn ohne Zweifel erlauben, eine edle Bürgerliche zu heirathen. Aber eine Mohrin ...“

Ja, damit sollte er mir kommen! Ich wollte ihn ...

„Und du könntest doch wahrhaftig gerade nur antworten, wie mein seliger Mann dir, wenn du Lissows Frau hättest werden wollen. Er ist edel, Onkel, würdest du gesagt haben; er ist gut, und verständig; er liebt mich, und wird mich glücklich machen; ihm fehlt nichts als das Wörtchen: Von. Und dein Sohn könnte von der Mohrin sagen: sie ist edel, Mutter, gut und verständig; sie liebt mich, und wird mich glücklich machen; ihr fehlt nichts als eine weiße Haut. Was könntest du ihm antworten? Gewiß, wenn alles so wäre, nichts Kluges. Du siehst, liebe Käthe, daß alle Menschen ihre Vorurtheile haben so gut wie der Adel. Der Bürger schilt auf unsern Stolz, und auch er hat den seinigen, den er mit eben so vieler Hitze vertheidigt.“

Aber, Tante, woher kommt es denn, daß man etwas gegen die schwarze Farbe hat? Da sollte man ja beinahe auf des Vetters System von Menschen-Racen fallen.

„Man hält den Adel für etwas Gutes; darum wollen die Adeligen keine Mißheirathen. Man hält die Schönheit, wozu nach unsren Begriffen die weiße Farbe gehört, für etwas Gutes; und darum will der Europäer keine Verbindung mit einer Schwarzen gelten lassen. Tugend und Geist, liebes Kind, sind nur Kleinigkeiten, um die man sich höchstens nach der Trauung bekümmert.“

Ach, ja! das sehe ich nun wohl.

„Jeder Stand hat seine Mißheirathen. Tausend Bürgerliche aus den besseren Ständen, die auf unsern Stolz schelten, und ihn unmenschlich nennen, würden Himmel und Erde bewegen, ehe sie ihrem Sohne erlaubten, die Tochter eines Handwerkers, oder eine Magd, zu heiraten.“

Ja, da ist doch aber die Bildung zu ungleich.

„Das ist ihr Vorwand. Aber laß das Mädchen gebildet seyn; – und was fehlt denn einer Magd, die in guten Häusern gedient hat, an der gewöhnlichen Bildung? Nichts als die Kleider ihrer Frau, ein Bedienter, und eine Equipage – laß eine Dienstmagd gebildet seyn; und sie werden dennoch Nein sagen.“

Liebe Tante, halten Sie es denn für billig, daß der Adel sich so absondert bei den Verbindungen seiner Kinder?

„Schlägt der Adelige seinem Sohne ein Mädchen ab, das edel, liebenswerth ist, das ihn glücklich machen würde, und dem nichts fehlt als das Wörtchen Von: so ist er ein Unmensch, ein Thor. Doch der Bürger, der so handelt, ist das ebenfalls.“

Aber, Tante, mit dem Adel muß es doch auffallender seyn; denn uns wirft man ja hauptsächlich diesen Stolz vor.

„Natürlich. Die meisten Schriftsteller sind Bürgerliche: sie sehen nur unser Vorurtheil, weil es sie beleidigt; und so wird es in Schauspielen, Romanen und Satiren verspottet. Vertheidigen läßt sich dieser Stolz des Adels nicht; darum müssen wir schweigen, wenn es auch Schriftsteller unter uns giebt. Den Bürger über seinen Stolz wieder zu geißeln, fällt keinem Adeligen ein, weil dieser Stolz nicht ihm fühlbar wird, sondern der Klasse, die unter ihm steht. Diese Klasse hat keine Schriftsteller; hätte sie die, so solltest du sehen, wie sie den Stolz der bessern Stände unter den Bürgerlichen geißeln würden ... Man wird es unnatürlich, rasend, abscheulich nennen, daß mein Sohn eine Mohrin heirathet, so edel, so treu, so erhaben das Mädchen auch ist. Ja, glaube mir, liebe Käthe, man fände eine solche Heirath sogar in einem Romane unnatürlich; doch, niemand würde sagen können, warum. Tadelt der Philosoph die Thorheit eines Standes, so ruft Alles, nur diesen Stand ausgenommen: o schön! Greift er aber die Thorheit der Menschen an, so hat er Alles gegen sich.“

Nun, liebe Tante, ich will Iglou recht herzlich, recht wie eine Schwester lieben. Aber – Sie konnten es ja mit dem Vetter Quinctius so machen wie damals mit mir und Lissow. Durch Trennung würde auch diese Liebe wohl vergangen seyn.

„Diese Liebe wohl schwerlich so leicht wie eure damalige kindische. Freilich würde sie am Ende vergehen, so fest und stark sie auch ist. Allein, liebe Käthe, glaubst du nicht, daß mein Sohn einmal eine Heirath schließen könnte, bei der vielleicht die Stadt nicht lachen, aber mein Mutterherz bluten würde? Willst du nicht lieber Iglou deine Cousine nennen als jene liederliche Julie? Mein Sohn ist nun einmal gewohnt, alles höchst seltsam anzugreifen; und ich danke Gott, daß er ihm ein Herz für diese Mohrin gegeben hat.“

Das alles sah Käthe ein, und dennoch blieb es ihr unerklärbar, wie Flaming eine Mohrin lieben konnte. Sie begriff es nicht eher, als bis sie einige Wochen mit Iglou umgegangen war, und nun das treue, edle Mädchen selbst mit Innigkeit liebte. Jetzt sagte sie wieder: wie war es möglich, Vetter, daß Sie so lange kalt gegen die edle Iglou bleiben konnten! – Die Baronin fühlte sich, als sie Iglou's Herz erst ganz kennen lernte, unaussprechlich glücklich. O, meine Tochter, sagte sie oft: in deine Hände wollte ich kühn das Glück einer Welt legen; dein Herz wäre groß genug dafür. Jetzt trieb sie selbst Iglou an, den Hochzeitstag zu beschleunigen. Iglou zögerte noch immer mit banger Furchtsamkeit. O Gott! sagte sie, als die Mutter aufs neue in sie drang: wenn er aufhörte, mich zu lieben! – Iglou, erwiederten Käthe und die Mutter; hörte er auf dich zu lieben, welches Mädchen könnte dann einem Manne seine Hand geben, ohne zu zittern?

Iglou bestimmte endlich den Tag. Die Trauung wurde in der Stille vorgenommen und sonst niemand dazu eingeladen als der Oberst Brensen, der gerade in Geschäften nach Berlin gekommen war. „Ist es möglich?“ sagte der Baron, nach der Trauung. „Wer hätte denken sollen, daß eine Mohrin meine Frau werden würde! Aber dennoch bin ich so glücklich, so selig!“ Er faßte Iglou mit einer Hand, den Obersten Brensen mit der andern, führte Beide an den Kamin, und holte nun einen Stoß Papiere, die sein System der Menschen-Racen enthielten, und die er aus dem Brande seines Schlosses mit Mühe und Noth gerettet hatte. „Sieh, Iglou“, sagte er, und drückte sie mit Innigkeit an sein Herz; „du hast mein System gestürzt.“ (Er warf die Papiere mit großem Muth in die Flamme.) „Mache ich es so recht, lieber Oberst?“ Recht so, lieber Flaming! Und wer das abscheuliche, Menschen trennende System wieder aus der Flamme hervorholt, dem gebe der Himmel zur Strafe eine Frau, die so blond ist wie ein Blaffard, und inwendig so schwarz wie der Teufel! Aber in das Feuer auch mit Ihren übrigen Systemen! Sie sind alle nichts Besseres werth, Ihr System von den Schönheitslinien im Gemüth, vom Generalbasse, dem Lateinlernen, und was des Plunders mehr ist, den Sie erfunden haben.

„Nur nicht allzu rasch, lieber Oberst! Selbst in dem System, das dort brennt, war viel Gutes, viel Gedachtes. Und mein System von der Liebe – das hat Iglou erwiesen. Seitdem ich sie liebe, entdecke ich alle die Schönheitsformen und Linien an ihr, die ich ehemals an Emilien fand. Wie sollte das anders zugehen, als daß diese Form in meinem Gemüthe ist, und daß ich sie jetzt nur an Iglou übertrage? Denn – setzen Sie Sich doch, lieber Oberst – denn die äußere Erscheinung, oder das, was Iglou eigentlich an sich ist ...“

Iglou, Herzens-Iglou, unterbrach ihn der Oberst; ich bitte dich, mach, daß du mit ihm weg kommst! Der Mensch erfindet sonst heute Abend noch ein System, nach welchem er dir beweist, was du eigentlich und uneigentlich bist. Eigentlich bist du seine Frau; aber wenn er erst in das Systemmachen kommt, so kannst du morgen noch etwas sehr Uneigentliches seyn: weder Frau noch Mädchen! – Er ließ die beiden Liebenden allein. Der Baron vergaß in Iglou's Armen seine Systeme wieder, und der Morgen begrüßte ein glückliches Paar Eheleute.

Die Stadt erfuhr diese Heirath, und erstaunte. „Eine Mohrin!“ Man sagte aber dabei: „der Baron hat in diesem Kriege sein Vermögen verloren, und die Mohrin ist eine reiche Erbin aus Amerika. Er wird sich schon schadlos halten. Sie muß doch ungeheuer reich seyn! Wie viel mag sie wohl haben?“ – Man forschte, und erfuhr, daß sie arm war. Nun wunderte man sich erst recht. Eine Menge Leute drängten sich zu Graßheims, die junge schwarze Frau von Flaming zu sehen. Man sah, man sprach sie. Nun erklärte man den Baron hinter seinem Rücken für einen Narren, und seine Mutter für toll. Dabei blieb man auch, trotz dem, was einige Vernünftige von dem Charakter und dem Geiste der Mohrin rühmten.

Zuweilen machte man der Frau von Flaming auch ins Gesicht Vorwürfe darüber, daß sie die Verheirathung ihres Sohnes mit dieser häßlichen Mohrin zugegeben hätte, und prophezeiete daraus großes Unglück. Dann aber holte sie ganz ruhig den la Bruyere, und las die Stelle vor: Si une laide se fait aimer, ce ne peut être qu'éperduement: car il faut que ce soit par de plus secrets et de plus invincibles charmes que ceux de la beauté. 3) „Wie viel Geist“, sagte sie, „wie viel Güte des Herzens, wie viele Reitze des Charakters und der Seele muß meine Schwiegertochter haben, daß sie meines Sohnes Augen gegen ihre Gestalt hat verblenden können! Wie stark muß eine Liebe nicht seyn, die solche Wunder thun konnte!“ Frau von Flaming hatte Recht. Der Baron liebte seine Gattin mit jedem Tage zärtlicher; Liebe für sie wurde sein ganzes Wesen, sein ganzer Charakter: er war glücklich, und Iglou war es mit ihm.

Jetzt fiel ihm keine seiner gewöhnlichen Grillen ein. Er dachte und lebte wie ein anderer Mensch; das Einzige, was ihn auszeichnete, war seine zufriedne Ruhe, und die Einsamkeit, die Iglou ihm zu einem Genusse von tausend Freuden machte. Endlich aber verschaffte sich doch auch die Mutter mit ihrer Sorgsamkeit Gehör; sie machte ihren Sohn auf den Zustand seiner Güter aufmerksam. Freilich konnte er jetzt nichts thun, da die Russen schon wieder anfingen, sich zu nähern; indeß rieth ihm die Mutter, er sollte sich schon im voraus das Wohlwollen der Minister zu erwerben suchen. Man hatte in Berlin einen so großen Begriff von der Gelehrsamkeit des Barons, daß ein gewisser Minister, ein Bekannter des Graßheimischen Hauses, der Mutter zu verstehen gab: ihr Sohn würde wohl daran thun, wenn er irgend ein Amt annähme; bei seinen Kenntnissen müßte er bald vorwärts kommen.

Die Mutter sprach mit dem Baron darüber, und diese ganz und gar neue Idee gefiel ihm. Er konnte nicht begreifen, wie er selbst nicht schon lange den Gedanken gehabt hatte, seinem Vaterlande zu dienen. Jetzt ließ er sich mit großem Enthusiasmus darauf ein, und sah schon im Geiste, wie er als Staatsminister das Ruder der Regierung führte, und die Bürger glücklich machte. Diese edle Idee lockte Freudenthränen in seine Augen. Er suchte jetzt mehr als Einen Minister auf, machte sich Verbindungen, und nichts ging ihm schnell genug. Graßheims Freund, der Minister, versprach ihm, seinen Einfluß für ihn zu verwenden, und hielt Wort. Doch nun kam man zu bestimmteren Ideen und Fragen.

Auf welches Fach, Herr Baron, fragte der Minister, haben Sie Sich denn besonders gelegt? auf Finanzsachen, Kameralia, oder das juristische? – Der Baron wußte nicht recht, was er antworten sollte, und bat sich Bedenkzeit aus. Ich wünschte, sagte der Minister gütig, Sie wählten das Justizfach. Dann könnte ich Ihnen unmittelbar nützen; und gerade darin fehlt es an philosophischen Köpfen, die das barbarische Dunkel nach und nach erhellen. Geben Sie mir weitere Nachricht von Ihrem Entschlusse.

Der Baron käuete, als er wieder zu Hause kam, an den Nägeln, und untersuchte, in welchem Fache er am thätigsten für das Wohl der Menschen arbeiten könnte. „Der Minister hat Recht“, sagte er nach einigem Ueberlegen; „das Fach der Justiz! Welche barbarische, willkührliche Gesetze!“ Er nahm Feder und Papier, machte einen Entwurf zu einer philosophischen Gesetzgebung, ließ sich den Montesquieu, den Xenophon holen, machte Auszüge, und vergaß über diese Arbeiten beinahe seine Iglou. In Kurzem hatte er sein System einer ganz neuen Gesetzgebung vollendet, welche Preußen zu einem philosophischen Staate machen und auf die höchste Stufe des Glückes erheben sollte. Nun eilte er mit seinen Papieren zu dem Minister, und legte sie ihm triumphirend vor. Der Minister schüttelte den Kopf. Lieber Herr Baron, sagte er sanft: Ihre Meinung mag recht gut seyn; aber das alles sind unausführbare Plane, zu denen Sie Sich erst eine eigene Erde und eigene Menschen schaffen müßten. Auch ich habe die Cyropädie gelesen; doch eine solche Erziehung ist in unsern monarchischen Staaten nie auszuführen, wenigstens in den nächsten Jahrhunderten nicht. Glauben Sie mir, so etwas ist leichter gesagt, als gethan. Ich will Sie nicht ansetzen, daß Sie dem Staate eine andere Form geben, sondern, daß sie in ihm, so wie er nun einmal ist, dazu beitragen sollen, Menschen zu beglücken. Anstatt ihres ganzen Systems machen Sie eine Relation, in der Sie zeigen, daß Sie die Landesgesetze kennen.

„Die Landesgesetze, Ew. Exzellenz? Ich muß aufrichtig gestehen, daß ich mich damit nie abgegeben habe.“ Der Minister wunderte sich. Nicht? sagte er; das bedaure ich sehr: denn glauben Sie mir, um nur die kleinste Verbesserung in einem Staate mit gutem Erfolge zu unternehmen, muß man die unbedeutendsten Landes- und Provinzialgesetze, ja selbst die Privilegien einzelner Personen kennen. Freilich soll der Diener des Staats immer ein Ideal vor sich sehen, nach welchem er handelt; aber es sogleich ausführen wollen, heißt den Staat umstürzen, nicht, ihn verbessern. Montesquieu, Plato und Xenophon haben wohl daran gethan, daß sie ihre Ideale zeichneten; aber der thut nicht wohl, der sich einbildet, dieses Ideal könne, wie durch den Schlag einer Zauberruthe, zur Wirklichkeit gebracht werden. Vielleicht vergehen noch Jahrtausende, ehe unsre gewöhnlichen Staatsdiener Ihren Plato für etwas Andres als einen Rasenden halten. Ihr Herren auf den Studierzimmern habt gut Staaten bauen! Doch unser einer zittert und bebt, wenn er auch nur den unsinnigsten Mißbrauch abschaffen will. Alles ist einem dann entgegen. Nein, Herr Baron, studieren Sie Landesgesetze, den Gang unsrer Justiz. Glauben Sie mir, unsere jungen Herren prahlen mit der Philosophie gewöhnlich nur, um ihre Unwissenheit und Trägheit dadurch zu verstecken. Freilich ist es ganz bequem, an der Staatsmaschine, die Zufall, Krieg und mehrere Gesetzgebungen gebauet haben, Fehler aufzusuchen; aber diese Maschine so fortzutreiben, da sie so wenig Menschen als möglich verletzt, hier den Gang anzuhalten, dort ihn zu beschleunigen, hin und wieder, ohne Aufsehen, ganz in der Stille, etwas auszubessern: das ist mühsamer, doch auch verdienstlicher, als einen neuen Staat auf Papier zu zeichnen. – Ich hoffe Sie anzusetzen, sobald Sie mir werden gesagt haben, welches Fach Sie am besten kennen, aber nicht in Platons oder Xenophons Staate, sondern in dem Preußischen.

Der Baron kam ziemlich abgekühlt zu Hause. Er fing eine genaue Untersuchung mit sich an, und fand zu seinem Erstaunen, daß er, wenn der Minister es so nehmen wollte, nicht in Ein Staatsfach ganz paßte. Indeß war ihm doch die Idee schmeichelhaft, seinen Mitbürgern Dienste zu leisten; er nahm daher ein Fach nach dem andern vor, und fand überall in seinem Kopfe Lücken. „Das Alles weiß ich nicht“, rief er am Ende verdrießlich, und warf die Bücher zurück: „nicht ein Wort weiß ich davon. Aber eben deswegen, weil ich so unwissend darin bin, tauge ich ganz zum Reformator. Gerade diese Unwissenheit gibt mir einen höheren Charakter; sie macht mich zu einem Bürger der Welt, des ganzen menschlichen Geschlechtes. Der Minister ist wunderlich, daß er Werth auf Kenntnisse legt, die eine Meile jenseits der Preußischen Besitzungen nichts sind, und mit denen ich in Asien für einen Wahnsinnigen gelten würde. Nein, ich gehöre dem ganzen menschlichen Geschlechte, und von nun an will ich nur im Großen arbeiten, das Ideal eines philosophischen Staates zeichnen.“

Aber trotz diesen stolzen Vorsätzen fühlte er doch eine kleine Scham, da er sich gestehen mußte, daß er auch das Fach, auf welches er sich berief, die Philosophie, nicht gründlich kannte. Selbst Platons Schriften hatte er nie studiert. Es giebt ja viele Philosophen von seinem Schlage, die gar nichts gelesen haben als ein paar politische Romane und die Zeitungen, und die sich dennoch zu Reformatoren des menschlichen Geschlechtes aufwerfen!

Der Baron fing nun sogleich mit großem Eifer an den Plato zu lesen, und sah freilich wohl, daß Sokrates nur zum Wohl seiner Mitbürger philosophirt hat. Indeß fand er in dem Theätetus eine Stelle, die ein rechter Triumph für ihn war. Er eilte mit glühendem Gesichte zu seiner Mutter in das Zimmer. „Hier, liebe Mutter“, sagte er; „hier ist eine Stelle, aus der Sie sehen werden, wie sehr Unrecht der Minister und auch Sie haben, wenn Sie fordern, daß ich die Landesgesetze wissen soll.“ (Er hatte seiner Mutter die Unterredung mit dem Minister erzählt, und sie war der Meinung gewesen, daß dieser nicht Unrecht hätte.)

Der Baron legte einen Folianten auf den Tisch, und hob mit lauter Stimme an: „Sie kennen den Sokrates, Mutter, und lieben ihn als den edelsten, weisesten Menschen. Nun hören Sie, was er von dem Philosophen sagt, wie er ihn beschreibt, den wahren, den erhabensten Philosophen. Hören Sie!“ ‹Der erhabenste Philosoph kennt von Jugend auf nicht einmal den Weg zum Gerichtshofe; er weiß nicht, wo das Justiz-Kollegium, wo das Rathhaus, wo das Kammergericht in der Stadt ist. Von den Landesgesetzen, von den Edikten hört er so wenig, als er sie liest. Sich Konnexionen zu machen, damit er zu einem Amte gelange, deshalb Feten zu geben, dazu etwa die Vorsprache hübscher Mädchen zu brauchen: das fällt ihm nicht im Traume ein. Der ehemalige Zustand des Staates, ob er gut oder übel war, ob seine Vorfahren daran Theil genommen oder nicht, hat eben so wenig Interesse für ihn, als den Sand des Meeres zu zählen. Es fällt dem Philosophen nicht einmal ein, daß man so etwas wissen könne.› – „Sehen Sie, liebe Mutter, auch ich wußte wahrhaftig nicht einmal, daß ich die Landesgesetze nicht kenne, als bis es der Minister mir sagte. Doch hören Sie weiter!“ – ‹Und es ist nicht etwa Prahlerei, daß er sich um das Alles nicht bekümmert. Nein! Er ist nur mit seinem Körper in dem Staate zugegen; sein Geist aber, der das alles für kleinlich, für zu niedrig hält, schwebt immer über der ganzen Erde, untersucht nur die Natur des ganzen Universums, und dessen was dazu gehört, nicht aber die Kleinigkeiten, die um ihn her vorgehen.›

Steht das da, mein Sohn? fragte die Mutter, ein wenig ungläubig.

„Soll ich es Ihnen Griechisch vorlesen? ????? ?? ???...“

Ich verstehe kein Griechisch. Aber es muß nothwendig in einer andern Bedeutung da stehen, als du es gelesen hast; sonst würde ich meine Meinung von Sokrates zurücknehmen.

„Ich versichere Ihnen, es steht hier so. Er vergleicht den Philosophen mit dem Juristen. Und nun sehen Sie, liebe Mutter, wie das so ganz auf mich paßt. Ich habe studiert, und bin fleißig gewesen; aber nichts, gar nichts, weiß ich von den so genannten nützlichen Wissenschaften. Alles weiß ich, doch nur das ganz Allgemeine der Dinge. Es ist mir, wie hier Sokrates sagt, nicht einmal eingefallen, daß man etwas Anderes wissen könne; und eben dadurch gehöre ich der Welt, den Menschen: nicht Einem Lande, Einem Volke. Sie waren ängstlich, und nun sehen Sie doch, daß wenigstens Sokrates und Plato meiner Meinung sind.“

Ich kann die Stelle nicht lesen; aber steht sie so da, und ist sie eine Vergleichung des Philosophen mit dem Juristen, so wollte ich wetten, daß sie anders gemeint seyn muß. Es ist sicher von den Rabulisten die Rede, nicht von den Juristen, welche das Wohl, das Eigenthum, die Ehre und das Leben ihrer Mitbürger vertheidigen. Wenigstens würde hieraus folgen, daß nicht alle Menschen Philosophen seyn können, wie du immer behauptest. Denn wenn niemand sich um die Landesgesetze bekümmerte, so würde ...

„Es würde nichts weiter folgen, liebe Mutter, als daß bei einer Welt voll Philosophen die Gesetze unnütz wären. Und dahin muß es kommen! Der Zweck des Staates ist, den Staat unnütz zu machen. So widersprechend das Ihnen auch scheinen mag, so ist es dennoch wahr; und ehe noch ein halbes Jahrhundert vergeht, wird man das von den Dächern predigen.“

Ich weiß nicht, Quinctius, ob ich mich über dich betrüben, oder über dich lächeln soll. Wann wirst du doch endlich die Mittelstraße halten lernen!

Der Baron blieb aber, trotz dem Allen, dabei, es sey thöricht, etwas zu wissen, das auf die Landesverfassung Beziehung habe. So wurde, wie man leicht denken kann, der Umgang mit dem Minister abgebrochen, und der Baron wußte von jetzt an nicht, wo die Kammer, das Kammergericht und das Rathhaus in Berlin waren. „Wer kann das wissen!“ sagte er; „solche Kleinigkeiten!“

Der Minister hatte ihn indessen zu einer Stelle empfohlen, die weniger positive Kenntnisse als gesunden Menschenverstand erforderte. Da Flaming sich nicht wieder meldete, so redete der Minister ihn an, als er ihn einmal bei Graßheim sah. „In der That, Ew. Excellenz“, sagte Flaming lächelnd; „ich fühle mich vollkommen unfähig, dem Staate in irgend einer Stelle zu dienen. Diese feste Ueberzeugung allein hat mich abgehalten, Ihnen beschwerlich zu fallen.“

Herr Baron, erwiederte der Minister, und ergriff mit Wärme seine Hand: dieses Selbstgeständniß ist mir so viel werth als die beste Relation, die Sie hätten machen können. Bei dieser Ihrer Bescheidenheit kann ich hoffen, daß Sie sehr bald ein andres Urtheil über sich fällen werden, und ich habe schon für eine Stelle ...

„Ew. Excellenz sind sehr gütig“, sagte der Baron; „ich bedaure nur, daß ich von dieser Güte keinen Gebrauch machen kann. Kleinliche Angelegenheiten, wie die Umstände meiner Mitbürger, würden mich nie interessiren. Die Juristen, die Staatsbedienten überhaupt, sind Sklaven gegen den Philosophen. Sie müssen thun, was der Staat will; ich thue, was ich will. Ihr Dichten und Trachten betrifft immer nur Geld, Eigenthum, Leben. So werden sie kleinlich, schlechtdenkend, eigennützig, kriechend. Ihr Geist wird erdrückt, und nun erlauben sie sich Ränke, Betriegereien, Ungerechtigkeiten. So sinkt endlich ihr Charakter, ihre ganze Seele in die niedrigste Sklaverei.“

Welch ein seltsames Bild zeichnen Sie da! sagte der Minister empfindlich.

„Ich zeichne es nicht eigentlich. Sokrates hat es entworfen; und leider! sind die Züge nur allzu ähnlich, man betrachte, wen man will.“

Aber fühlen Sie nicht, Herr Baron, daß solche Sätze Sie lächerlich machen werden?

„Was wollte ich nicht! Sokrates sagt: ‹wenn der Philosoph eigene oder Staatsgeschäfte treiben soll, so dient er gewiß allen Menschen zum Gelächter. Man wird ihn für blödsinnig halten. Er versteht nichts von dem, was die meisten Menschen verstehen. Er kann nicht einmal wieder schimpfen, ohne Gelächter zu erregen; denn er weiß von niemanden etwas Böses, das er ihm vorwerfen könnte. Er wird ihn also mit etwas schimpfen, das die Menge nicht für schimpflich hält.› Lesen Ew. Excellenz die ganze Stelle; sie steht beim Plato im Theätetus. Sie werden dann sehen, warum ich mich unfähig fühle, je ein Amt anzunehmen, das mich um den menschlichen Charakter bringen müßte.“

In der That ein albernes Geschwätz von Plato, wenn er es gesagt hat, erwiederte der Minister lächelnd. Doch vielleicht sagte er es, als er aus Sicilien verbannt worden war. Man muß dergleichen einem verabschiedeten Günstlinge zu gut halten. Es ist die Sprache des Neides.

„Sein Prognostikon hat er sich selbst gestellt, Ew. Excellenz. Er sagt am Ende dieser Betrachtung von den Juristen: ‹diese Menschen bilden sich Wunder ein, wie wichtig sie sind, und halten die Lehren des Philosophen für albernes Geschwätz, für Raserei.› Natürlich kann ich kein besseres Geschick verlangen als Plato.“

Der Minister drehete sich mit einer leicht spottenden Miene, mit einer kleinen Verbeugung, von dem Baron ab, weil das Geschwätz ihn verdrossen hatte. Der Baron handelte gerade wie der Philosoph, den Plato beschreibt. Er beleidigte den Minister, ohne es zu wissen, ohne es einmal zu ahnen. Er meinte, der Minister sollte ihn bewundern; und dieser sagte vor sich: der Mensch ist ein ausgemachter Narr! Der Minister war nicht rachsüchtig, aber doch ein Mensch. Bei Gelegenheit sprach die Baronin mit ihm über das ganz von den Russen zerstörte Gut ihres Sohnes. Gnädige Frau, antwortete er lächelnd; der Staat soll und wird helfen, sobald Hülfe möglich ist: nach Endigung des Krieges; aber dann erlauben Sie, daß man bei den Unglücklichen und Verdienten anfängt. – „Mein Sohn ...“ – bedarf nach seinem eigenen Geständnisse keiner Hülfe. Sein Gut gehört zu den Dingen, über die er sehr weit erhaben ist. Und überdies – wer dem Vaterlande nicht dienen will, darf auch auf keine Gegendienste rechnen.

Frau von Flaming fragte nicht einmal nach dem Zusammenhange, um den Minister nicht noch mehr zu erbittern. Sie machte ihrem Sohne einige sanfte Vorstellungen. Er lächelte, und fragte: „welcher Minister? ... Ah! ist der Minister? das habe ich ganz vergessen. Liebe Mutter, was kümmern mich solche Dinge! Wenn nur der Krieg erst zu Ende ist, das Geld zum Bau wird sich finden. Was soll ich um diese Kleinigkeit besorgt seyn!“ – Kleinigkeit? erwiederte die Mutter. Ich glaube, du träumst. Vielleicht wird der Bau allein mehr als zwanzig tausend Thaler kosten.

Iglou zog lächelnd eine Brieftasche hervor, und sagte: in der That eine Kleinigkeit, liebe Mutter. Hier ist ein Wechsel auf die Summe, die Sie eben nannten; und mit umgehender Post kann ich noch einmal so viel haben. – Frau von Flaming wunderte sich; der Baron fragte ruhig: „woher?“ – Von Hilberts, antwortete Iglou eben so ruhig. Ich schrieb ihnen deinen Verlust, ohne ihn genau zu bestimmen. Da schickte mir Hilbert diesen Wechsel für die ersten Verlegenheiten. – „So?“ fragte der Baron kalt ... „Aber“, fragte er dann sogleich mit voller Wärme, „was machen denn unsre guten Hilberts?“ Iglou erzählte, und von der Geldsumme wurde nicht ein Wort mehr gesprochen, Frau von Flaming fand freilich die Ruhe ihres Sohnes, da er solche Freunde hatte, ganz natürlich. Sie erkundigte sich näher nach der Summe; doch Iglou wußte ihr nicht viel mehr zu sagen, als daß sie da war. Auch in Emiliens Briefe, den sie von Iglou zu lesen bekam, war zu ihrem Erstaunen von dem Wechsel nur beiläufig, als von einem leichten Opfer der Freundschaft und Dankbarkeit, die Rede.

Mehrere Male hatte der Baron nach Königsberg geschrieben, mehrere Male einige Artikel für Lissow in die Zeitungen rücken lassen; aber nie bekam er Antwort, und war nun über das Geschick seiner Freunde sehr unruhig. Doch endlich erhielt er unvermuthet Briefe durch einen Preußischen Kaufmann, der eine Zeitlang mit der kleinen Kolonie von Flüchtigen ihr Geschick getheilt hatte. Sie waren geplündert worden, und dem Hunger, der Verzweiflung ausgesetzt gewesen. „Ach, lieber Flaming!“ schrieb Lissow; „ich habe Tage erlebt, Grausamkeiten gesehen, bei denen ich der Vorsehung dankte, daß Jakobine und meine Kinder schon dahin sind. Ist es nicht schrecklich, daß Rachsucht und Wuth den Menschen dahin bringen können, die Todten zu beneiden! Laß dir von dem Ueberbringer unsre Begebenheiten erzählen. Er ist in der ersten Zeit der treue Gefährte unsrer Unglücksfälle gewesen; und kannst du helfen, so nimm dich seiner an, da wir ihm Freundschaft und Liebe schuldig sind. Doch, ich Unglücklicher! Vielleicht schreibe ich vergebens. Vielleicht bist du schon bei meiner Gattin, bei meinen Kindern! Und ich Verlassener bin noch allein auf diesem großen Leichenfelde, sehe, wie das Elend um mich her wüthet, wie die Verzweiflung jammert, und wie der einzige Freund des Menschen, der Tod, endlich langsam folgt, aber dennoch grausam, wie alles, was menschlich heißt, erst ein junges, blühendes Weib, unschuldige Kinder wegreißt, ehe er mitleidig dem Leben des Trostlosen ein Ende macht.

Mein alter Vater allein ist größer als unser Geschick. Er tröstet uns lächelnd, wenn wir jammernd die Hände ringen, oder uns schweigend in das bleiche Angesicht sehen. Ach, sein Lebensfaden ist durch das Alter schon so schwach, daß es nur eines Hauches bedarf, ihn zu zerreißen. Darauf verläßt er sich. Er ist im Hafen, und spricht nun den Unglücklichen, die noch mit der stürmenden Welle treiben, Muth zu. Sein Ohr vernimmt schon die Friedensgesänge des Himmels; doch das meinige trifft, selbst im Schlafe, der Jammer einer zerstörten Welt, und dazwischen das Angstgeschrei meiner unglücklichen Kinder, wie die schreckliche Flamme – ach, Gott! könnte ich nur dies Einzige ungeschehen machen; gern wollte ich alle meine Hoffnungen dafür hingeben! – wie die schreckliche Flamme sie in der Ferne umringt, wie sie die unschuldigen Hände gen Himmel aufheben, dann von der Flamme ergriffen werden; wie sie nun brennen, noch immer um Hülfe schreien, und langsam unter Höllenqualen sterben!

O Flaming, da sitze ich, zittre, und frage: wozu wurde ich geboren! Hat die ewige Güte den dunkeln Plan meines Lebens entworfen? oder gab sie mich allein dahin, ein Spiel des Zufalls, oder eines bösen Wesens zu seyn? Ich freue mich, daß ich nun ganz nackend in meinem Elende da stehe, und daß mir nichts mehr geraubt werden kann als das Leben. Das Leben? O, schon längst ist mein Geist in jenen stillen Gefilden der Ruhe, des Grabes. Nur mein Körper athmet noch hier unter dem Geschrei des Todes. Wollte Gott, meine letzte Stunde hätte geschlagen! Mein Vater hält diesen Wunsch für unrecht, für unmenschlich. Aber soll denn der Mensch nicht einmal hoffen? darf er sich nicht aus dem Sturme, aus dem Schiffbruche an das Land sehnen? soll er den Giftbecher des Geschickes mit Blumen kränzen?

Ach, du solltest einmal deine Blicke auf den Kreis deiner unglücklichen Freunde werfen! Ich lächle, daß sie so viel für die Erhaltung eines Jammers thun, den sie Leben nennen; daß Karoline und ihr Bruder so fleißig an dem Wollrade spinnen, um ihren Athem zu Klagen, zu Seufzern, zu fristen. Auch mein Vater braucht den letzten Rest seiner matten Kraft, den schwachen Faden seines Lebens zu erhalten. Ich spinne mit, um sie nicht zu betrüben. Sie freuen sich, wenn sie am Abend ihre Arbeit verkauft haben, und zählen die wenige Kupfermünze, ihren Gewinn, als ob sie der Bürge eines besseren Schicksals wäre; aber eine Stunde darauf ist sie verzehrt, und wir fangen aufs neue unser Tagewerk an.

Ich verberge meine Thränen, verhülle die Wunden meines Herzens, und scheine mich mit ihnen zu freuen; denn auch die besten Menschen – und das sind sie – können den Schmerz eines Andern nicht immer ahnen. Neulich fand mein alter Vater in dem Gurte seiner Beinkleider noch ein Goldstück, das den raubsüchtigen Menschen, die uns plünderten, entgangen war. Alle traten zu dem elenden Stücke Metall hin, und betrachteten es wie ein Unglücklicher die Hoffnungen des Himmels. Karoline kaufte ein besseres Gericht Essen ein, und machte dadurch Alle, nur mich nicht, heiter. Sie sagte: nun noch Iglou's sanfte Lautentöne; was fehlte uns dann? Ach! dachte ich; können ihre Lautentöne die Todten erwecken? Sieh, Flaming! das ist es; ach! das ist es, weshalb ich mich weg wünsche von diesem Schauplatze des Jammers. Ein Vater sitzt zwischen ihnen, dessen Kinder die Flamme verzehrt hat; und sie denken nicht daran. Sie ahnen nicht einmal, daß die Flamme, die meine Kinder tödtete, noch immer verzehrend in meiner Brust brennt. Vielleicht bist auch du glücklich, wenn diese Klagen vor deine Augen kommen; und dann wird ein Seufzer, ein Achselzucken, alles seyn, was du für deinen Freund noch hast. Es ist nicht deine Schuld, es ist die Schuld der Natur; sie gab ja den Menschen ein Herz, das nichts als sich selbst fühlt.

Sie verweisen mich auf morgen, und dann wieder auf den folgenden Tag. Ach, sie bedenken nicht, daß mein Schmerz der Punkt ist, um den meine Zeit sich unveränderlich drehet. Sie wollen nicht begreifen, daß mich unmöglich etwas trösten, daß selbst die Allmacht des Himmels mich nicht anders retten kann als in das Grab. Ich soll mich überreden lassen, das Grab könne seine Todten zurückgeben. Sie stellen ein Vielleicht dahin, an das sie selbst nicht glauben, und schmähen, daß mein Schmerz vor diesem Trugbilde nicht weichen will. Das ist unser Zustand. Sie spinnen ihre Wolle, ihre Hoffnungen, ihr Leben ab; ich nähre meinen Schmerz mit blutender Seele, bis der Tod endlich rufen wird: es ist genug, du Armer! – Lebe wohl, Flaming: Ach du hattest wohl Recht, als du sagtest: man sollte nichts als unglücklich seyn; denn ist das Leben etwas Anderes als Unglück?“

Der Baron las die Briefe mit nassen Augen, ließ sich dann von dem Kaufmanne die Begebenheiten seiner Freunde erzählen, und hörte mit klopfendem Herzen. Er unterstützte den Kaufmann edelmüthig. Aber nun wollte er auch für seine Freunde thätig seyn, und wußte doch nicht wie, da die Verbindung zwischen Preußen und der Mark völlig wieder aufgehoben war. Er lief in Berlin umher, und fragte alle seine Bekannten um Rath, wie man Gelder nach Königsberg schaffen könnte; aber niemand wußte ihm ein sichres Mittel anzugeben.

Als er einige Tage geforscht hatte, entschloß er sich, selbst nach Königsberg zu reisen und seinen Freunden Hülfe zu bringen. Seine Mutter bat ihn, sich nicht solcher Gefahr auszusetzen; er blieb aber fest bei seinem Entschlusse. Nun forderte sie von Iglou, daß sie ihn davon abhalten sollte. Iglou's Augen standen voll Thränen; aber zur Erfüllung dieses Verlangens war sie nicht zu bringen. Jetzt erhob sich ein neuer Streit. Der Baron sprach mit Iglou darüber, wie sie während seiner Abwesenheit leben sollte. Sie sah ihn starr an, und sagte: ich? während deiner Abwesenheit? Flaming! du glaubst, ich würde dich in einem Augenblicke deines Lebens verlassen? Ich gehe mit dir!

„Du bleibst, Iglou! Bedenke doch die Gefahren dieser Reise!“

Eben die will ich mit dir theilen. Wäre die Reise sicher, so möchtest du sie ohne mich machen; aber jetzt? Ich reise mit dir.

„Iglou, liebe Iglou, in deinen Umständen! Du trägst ein Kind unter deinem Herzen. Ich bitte dich!“

Angst um dich würde mich hier tödten; aber in deinen Armen, an deiner Seite, ist alles, Schmerz und Tod, ein Glück für mich. Ich reise mit dir.

Iglou war nicht von ihrem Entschlusse abzubringen, und der Baron schwankte nun zwischen Liebe und Freundschaft. Jetzt fand sich ein Mann von bekannter Redlichkeit, der von dem Russischen Befehlshaber einen Paß zu einer Reise nach Danzig zu erhalten gewußt hatte, und dem man ohne Bedenken Geld anvertrauen konnte. Der Baron gab ihm eine beträchtliche Summe für seine Freunde mit, und sagte zugleich dem unglücklichen Lissow in einem Briefe, daß seine Kinder wohl noch leben könnten. Aber nach einigen Wochen brachte die Familie des Kaufmanns mit lautem Jammer dem Baron die Nachricht, daß er unterweges von umherstreifenden Räubern geplündert und ermordet worden sey. Nun war die vorige Verlegenheit wieder da. Der Baron konnte sich jetzt noch weniger entschließen, die Reise mit Iglou zu unternehmen, da ihre Entbindung immer näher herankam. Er schickte nun mit allen Gelegenheiten, die er finden konnte, kleinere Summen ab, und hoffte, daß wenigstens Eine an seine Freunde kommen würde. Eben so sehr wie diese, beunruhigte ihn jetzt auch Iglou, an deren Herzen ein stiller Kummer zu nagen schien. Er drang in sie; und sie sagte ihm endlich: ach, wir sind undankbar! Lissow hat Recht. Wir sind glücklich, und denken nicht einmal an die Menschen, die uns so nahe angehen. Können nicht deine Unterthanen vielleicht eben so unglücklich seyn wie deine Freunde in Königsberg? und haben sie nicht auf Hülfe eben das Recht wie diese? Flaming, konnte ich alle die Familien vergessen, mit denen wir ehedem lebten? O, ich bin undankbar gegen die Vorsehung gewesen, die mich so hoch erhob, und so reich machte!

Der Baron forderte nun sogleich durch die öffentlichen Blätter seine Unterthanen auf: sie sollten sich an ihn wenden, weil er im Stande sey, sie wenigstens vor drückendem Mangel zu schützen. Nach und nach meldeten sie sich auch größten Theils, und der Baron unterstützte sie sehr freigebig. Niemand hatte dagegen etwas einzuwenden, ausgenommen Graßheim.

Der Frau von Flaming war es mit ihrem kleinen Landsitze in Schlesien nicht viel besser gegangen als dem Baron mit seinem Gute. Sie floh zu Käthen; und diese schätzte sich glücklich, daß sie ihrer Erzieherin nun einmal ihre Dankbarkeit zeigen konnte. Endlich kamen auch der Baron und Iglou zu ihr. Herr von Graßheim äußerte gleich Anfangs zuweilen einige Unzufriedenheit darüber, daß Käthe sich bei so schweren Zeiten mit einer ganzen Familie belastete. Käthe tröstete, bat, maulte ein wenig, und wollte die Bedenklichkeiten ihres Mannes nicht einmal anhören. Nun bekam der Baron den Wechsel von Hilbert, und bestritt seine Haushaltung selbst. Als er aber seinen Freunden schickte, und dann gar auch seine Unterthanen aufforderte, sich an ihn zu wenden: da hielt Graßheim es für nöthig, ihm einige Klugheitsregeln über seine Verschwendung zu geben. Wissen Sie denn, fragte er, wie lange der Krieg noch dauern wird? Ich bin nicht karg, lieber Vetter; aber wegzugeben, was man selbst brauchen könnte, das fordert die Moral nicht. Die Moral will, man soll zuerst an sich denken, dann ...

„Erst an sich denken?“ fuhr der Baron auf; „das forderte die Moral? Graßheim, das ist die Moral der Hölle, der ärgsten Bösewichter, des Egoismus! Welch ein Grundsatz! Ich bitte Sie, wie kann er je eine Regel werden, eine allgemeine Regel für das menschliche Geschlecht? Wahrhaftig, Graßheim. Sie wissen offenbar nicht, welche Eigenschaften das Princip einer Wissenschaft haben muß!“

Ich rede hier nicht davon, ob sich das erweisen läßt. Aber es ist eine Regel, die jeder vernünftige Mensch anerkennt.

„Nun denn“, rief der Baron mit leuchtenden Augen; „so behüte mich Gott vor der Vernunft! Für sich sorgen! auf sich denken!“

Ich kenne ja Ihre Uebertreibungen, lieber Vetter. Aber fragen Sie nur Ihre Frau; sie wird meiner Meinung seyn.

Iglou stand auf. Nein, Herr von Graßheim. Gott behüte mich, daß ich je in einer Stunde meines Lebens Ihrer Meinung seyn könnte! Wenn diese Regel allgemein angenommen wäre, so hörte die Tugend, so hörte das Glück auf. Welche Mutter würde neun Monathe Schwäche und Hülflosigkeit ertragen, und die Gefahr, den Schmerz der Geburt übernehmen, wenn Ihre Regel wahr wäre! Nein, die Mutter vergißt sich und ihre Schmerzen, um an das Kind zu denken, das sie der Welt geben soll. Wer würde die gedrückte Tugend beschützen, wenn er immer nur an sein Wohlseyn dächte! O, guter Gott! die Zukunft und mein Geschick sind dein; aber mein ist die gegenwärtige Minute. Laß mich bei dem Anblicke eines Unglücklichen immer vergessen, daß ich noch eine Stunde zu leben habe! Laß mich nicht denken, daß ich noch etwas andres zu meiner Freude brauche als eine edle, aufopfernde That!

Ich habe nichts dagegen, – sagte Graßheim, ein wenig empfindlich, aber doch lächelnd – wenn Sie beide so denken; allein dann müßten Sie Sich auch auf Sich selbst verlassen können: denn wenn Sie Sich endlich arm gegeben haben, so erwarten Sie natürlicher Weise Hülfe von Andren. Ich sage das nicht etwa, um ...

„Hülfe von Andren?“ sagte der Baron: „das hieße seine Handlungen auf Wucher verleihen. Ich gebe, weil Unglückliche es bedürfen. Was kümmert es mich, wie der Erfolg für mich seyn wird! Das wäre eine sehr engherzige Großmuth, eine sehr eigennützige Tugend!“

Aber, lieber Vetter, – mißdeuten Sie meine Worte nicht – wenn der Krieg nun länger dauert, und Sie arm sind, wer soll Sie dann ernähren? Sie geben jetzt ohnedies nur auf fremde Kosten; und eben darum meine ich ...

Wer uns ernähren soll? Diese Arme! sagte Iglou.

Graßheim lächelte ein wenig spöttisch. Nun, wenn Sie das meinen, so muß ich nachgeben. Aber Sie würden ganz gewiß fühlen, daß es leichter ist, so etwas zu sagen, als zu thun. Diese Arme sind wohl gewohnt die Laute zu halten; doch ...

Was meine Arme vermögen werden, weiß ich nicht; wohl aber, daß der Vogel, der an Ihrem Hause nistet, ohne Arme ernährt wird.

Graßheim schwieg. Der Baron dachte über sein Princip der Moral, und auch Iglou versank in ein tiefes Nachdenken. Sie fühlte, daß Herr von Graßheim nicht ganz Unrecht hatte, und daß, bei ihrer Art Haus zu halten und zu geben, die Zeit bald kommen würde, wo sie entweder auf Hilberts oder Graßheims Hilfe rechnen müßten. Als sie dem Baron ihre Gedanken sagte, erwiederte er: „Nun, wer hat denn nun Recht? Sagte ich nicht immer: diese Weichlichkeit, dieser Luxus, diese Feste, mit Einem Worte, das Glück, hindert die Tugend? Da mußte ich aber Unrecht haben!“

Werden wir nicht glücklich seyn, liebster Mann, wenn wir Ein Zimmer bewohnen, Ein Gericht essen, und die Kleider völlig auftragen?

„Wir werden nicht an das Glück denken, liebe Iglou, und nichts als tugendhaft seyn.“

Der Baron ging mit seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit an die Ausführung des neuen Planes. Jetzt fand er von Graßheim Widerspruch, und sogar seine Mutter hielt seinen Entschluß für ein wenig allzu großmüthig. „Zu großmüthig, liebe Mutter?“ sagte der Baron mit seiner gerührten und dann so schönen Stimme: – „zu großmüthig, wenn ich mich einschränke, damit hundert Menschen nicht vom Hunger gequält werden, und nicht ihr Lager mit Thränen benetzen dürfen?“

Seine Mutter lächelte, und hatte nichts mehr zu sagen. Der Baron bezog nun mit Iglou ein kleines Zimmer, und strich alles, was nicht nothwendiges Bedürfniß war, aus dem Plane seiner Haushaltung weg; und Iglou konnte bei ihrer Denkart das leicht ertragen. Beide lebten in der That von sehr Wenigem, und gaben der Stadt ein Beispiel von Tugend, das, weil es so außerordentlich war, nicht ganz ohne Nutzen blieb. Es fand, wenn nicht Nachahmer, doch Bewunderer; ja manche Familie unterließ eine Gasterei, und gab wenigstens einen Theil des Geldes, die sie gekostet haben würde, den Unglücklichen, deren damals in Berlin so viele waren. Selbst Graßheim that, als er sah, wie einfach und dennoch heiter der Baron und Iglou lebten, seiner Gattin den Vorschlag, eine Schüssel weniger zu essen und das dadurch Ersparte unter Arme zu vertheilen.

Des Barons Wohlthätigkeit wurde zu bekannt, als daß nicht Betrieger, oder Unverschämte, sie sollten gemißbraucht haben. Er ahnete keinen Betrug, und gab reichlich. Es war ein Glück, daß er Iglou zur Almosenpflegerin machte. Sie lernte bald den Betrieger von dem Unglücklichen unterscheiden, und erhielt nun einen Theil der Summe, die der Baron, weil er nur zu geben verstand, in Kurzem verschwendet haben würde. In diesem Feldzuge näherten sich die Russen Berlin. Man zitterte vor ihren Grausamkeiten, und floh. Graßheim ging mit Käthen zu einem Verwandten in dem Herzogthume Magdeburg. Die Baronin fand es unschicklich, ihn dazu zu begleiten, und entschloß sich, mit ihrem Sohne und Iglou anderswohin zu gehen. In Berlin wollte der Baron nicht bleiben, weil Iglou's Entbindung ganz nahe war, und er sie itzt um so weniger einem Schrecken vor Feinden aussetzen mochte. Er reiste nun mit ihr und seiner Mutter nach einem Städtchen in der Altmark, nahe an der Hannoverischen Gränze. Hier fing die Familie sogleich ihre einfache Lebensart wieder an. Ihr Geld hatte sehr abgenommen; und dennoch verfloß ihr Leben unter Wohlthun und dem Genusse der reinsten häuslichen Freuden.

Iglou gebar mitten in diesem ruhigen Genusse einen gesunden Knaben. Obgleich das Kind schon nach einigen Tagen schwärzlich gelb wurde, so konnte der Baron doch nicht müde werden, es an seine Brust zu drücken, und ließ sich durch die Farbe nicht in seiner Vaterfreude stören. Jetzt schlang sich ein neues und heiligeres Band, elterliche Liebe, um des Barons und Iglou's Herzen. Iglou war, wie jede Schwarze, nach einigen Tagen wieder hergestellt, und konnte nach einem Augenblicke von Unruhe sogleich wieder Hausfrau, und auch Mutter seyn. Ihr ohnehin ernst erhabener Charakter erhielt nun durch ihren Sohn etwas Heiliges. Wenn sie das Kind an ihren keuschen Busen legte, schien sie ein Engel, der eine Welt beherrscht und segnet. Das Glück in des Barons Hause erreichte nun den höchsten Grad. Niemand von dessen Bewohnern konnte angeben, warum er sich für so glücklich hielt; jeder wußte nur, daß er zufrieden lebte, und daß Iglou die Quelle dieser Zufriedenheit war. Jetzt fiel der Baron zum ersten Male auf den Gedanken, daß er nichts zu dem Glücke seiner Familie beitrüge, und mit allem seinem Studieren wohl überhaupt noch nie etwas Nützliches gethan hätte. „Was haben meine Systeme gewirkt?“ fragte er sich selbst; „was hervorgebracht? In der That eigentlich nichts.“ Er fühlte, wie sehr Iglou's, und auch seiner Mutter Leben gegen das seinige abstach. Iglou stand mit der Sonne auf, und besorgte die Haushaltung. Dann arbeitete sie den Tag über mit ununterbrochenem Fleiße; bisweilen nahm sie auch wohl auf eine Viertelstunde die Laute, und sang sich Muth zu für ihre mütterlichen Sorgen, oder pries ihr stilles Glück, die Freuden anspruchsloser Wohlthätigkeit. Nun ging sie wieder neugestärkt an ihre Arbeit. Sie machte alles selbst: die Kleider für ihren Sohn, für ihren Mann, seine Mutter und sich. Für Alles wußte sie Hülfe; für Alles reichte ihr Geist und ihre Geschicklichkeit hin. Sie verfertigte Stickereien, die jedermann bewunderte, ließ sie verkaufen, und nannte das Geld, das sie dafür bekam, ihre Armenkasse. Am Abend las sie, oder schrieb, sang, erzählte; doch alles nur, um die Zufriedenheit ihrer Familie zu vermehren.

Frau von Flaming blieb wenigstens nicht ganz hinter ihr zurück, und arbeitete mit ihr um die Wette. Aber wer konnte Iglou gleich kommen! Alle Geschäfte, alle Sorgen übernahm diese allein; und alle Freuden, alle Bequemlichkeiten schienen nur der Mutter und ihrem Manne zu gehören. Die Baronin gewann ihre Tochter unaussprechlich lieb, und drückte sie oft voll Freude an ihr Herz. Sie suchte Iglou liebevoll zu helfen, ihr alles zu erleichtern; aber wenn sie etwas thun wollte, so war es längst geschehen. Flaming sagte: „welch ein Weib ist meine Iglou!“und die Mutter: Gott! welch eine Tochter habe ich gefunden! Flaming sah den nützlichen Fleiß seiner Gattin und seiner Mutter, und schämte sich, daß er so gar nichts wirkte. Er fühlte jetzt, daß man, um ein Mensch zu seyn, mehr thun müsse als spekuliren, und nährte den geheimen Wunsch, in das bürgerliche Leben einzutreten. Jetzt fehlte ihm die Gelegenheit dazu; indeß er that, was er konnte. Bald zeichnete er für Iglou Muster zu Stickereien, was sie sonst selbst gethan hatte; bald las er ihr und seiner Mutter während des Arbeitens vor. Er wurde Vater im eigentlichen Sinne des Wortes, hatte seinen Sohn auf den Knieen, während die Mutter nähete oder sonst etwas arbeitete, und legte sogar in der Haushaltung mit Hand an. So kleinlich diese Beschäftigungen auch waren, so schienen sie ihm doch jetzt wichtiger als seine ehemaligen Spekulationen; denn sie gaben seinem Herzen stille Zufriedenheit. Ein Stickerei-Muster, das ihm gelungen war, und das Iglou mit doppeltem Eifer ausführte, machte ihn heiterer, froher als ehemals alle seine Systeme.

Einige angesehene Häuser, die in dem Städtchen lebten, wurden aufmerksam auf diese glücklichen Menschen. So seltsam man Anfangs über die Familie auch sprach, zu der eine Mohrin gehörte, so erhielt sie doch endlich allgemeine Achtung. Man ersuchte Iglou nun, einige junge Mädchen aus den besten Häusern im Sticken zu unterrichten. Sie that das, und noch viel mehr. In kurzer Zeit gewann sie die Liebe der Mädchen, und hatte nun auch Gelegenheit, auf ihren Geist und ihr Herz zu wirken.

Jetzt erhielt der Baron endlich wieder einen Brief von Lissow. Dieser und seine Unglücksgefährten hatten von dem Gelde, das Flaming ihnen schickte, nur das wenigste bekommen. Ihr Elend war durch eine Krankheit des Predigers und Karolinens auf den höchsten Grad gestiegen, und des Barons Geschenke hatten nur so eben zugereicht, sie nicht in der Noth untergehen zu lassen. An eine Reise zu dem Baron, welche dieser den Unglücklichen angerathen, konnten sie gar nicht denken. Lissow bat den Baron, ihnen, wenn es ihm möglich sey, zu helfen, damit sie nicht verzweifeln dürften. Zugleich hatte er einen Zettel von einem Dänischen Kaufmanne beigelegt, der sich erbot, Briefe und Gelder richtig nach Königsberg zu schaffen, und selbst für die Ueberlieferung zu stehen. Der Baron gab Iglou den Brief mit tiefem Schmerze über die Noth seiner Freunde. Sie las ihn, und ihr Auge schwamm in Thränen. Kaum hatte sie ihn gelesen, so sprang sie auf, fiel dem Baron um den Hals, und rief: Gott Lob! Gott Lob! wir können helfen! – Vor Freude zitternd, packten Beide wieder eine große Summe für die Unglücklichen ein. Nach den beträchtlichen Summen, die sie auch den Unterthanen des Barons schon gegeben hatten, blieb ihnen in der That wenig von Hilberts Gelde übrig. „Guter Gott!“ sagte der Baron, und drückte Iglou mit Innigkeit an seine Brust: „jetzt sehe ich, was Fleiß und Arbeitsamkeit sind! Wie ruhig kann ich diese Summe weggeben, da du mein bist, Iglou! Was würde ich jetzt ohne dich anfangen! Der Krieg wüthet am Main so gut wie an der Oder; und wer weiß, ob nicht Hilberts jetzt unsre Hilfe nöthig haben! Iglou, welche eine schöne Seite des Lebens hast du mir gezeigt! Fleiß und Arbeitsamkeit! O, wie unnütz ist mein Leben sonst vergangen!“

Unnütz? fragte Iglou. Lieber Mann, setze dich nicht so tief herab. Deine Wohlthätigkeit, deine Liebe für die Menschen, die reine Güte ...

„Was würden sie gewesen seyn, wenn ich nicht reich gewesen wäre! Was hat diese Hand, dieser Kopf bis dahin erworben? Nein Iglou, ich erröthe vor dir; denn ich bin, so lange ich reich war, nie ein Mensch gewesen. Jetzt sehe ich, der Mensch soll denken, aber auch arbeiten. Was wäre ich ohne dich, Iglou? Ein Verzweifelter, der sich nicht helfen könnte.“ Er küßte mit Entzücken und tiefer Ehrerbietung die wohlthätigen Hände seiner Gattin, und sie lag, vor Freude lächelnd und weinend, an seiner Brust.

Was er sagte, fühlte er wirklich, und fing nun sogleich an, Unterricht im Zeichnen zu geben. Jetzt vereinigte sich mit der Zufriedenheit, die sein Leben beglückte, der Genius, der sie erhält: das Gefühl, sie zu verdienen. Iglou gab auch Unterricht in der Musik; so vermehrten sich die Erwerbsquellen, und mit ihnen die Zufriedenheit dieser genügsamen Menschen. Der Baron und seine Familie erhielten die Achtung der ganzen Stadt, und ihre Wohlthätigkeit erwarb ihnen die Liebe und Dankbarkeit der Armen. Iglou war hier auf dem Schauplatze, wo ihre Tugenden wirksam seyn konnten. Sie kannte die Unglücklichen, denen sie gab, die Größe des Elendes, dem sie abhelfen wollte; und sie rettete hier mit ihrem kleinen Ueberflusse in der That mehr Menschen als ehemals mit den großen Summen, die ihr zu Gebote standen. Sie hatte sonst, so wie der Baron selbst und die Frau von Flaming, oft nur gegeben; hier lernte sie wohlthun, und erhielt dafür das edelste Gefühl: Menschen glücklich gemacht zu haben.

Der Baron war jetzt mit seinem Unterrichte, den er auch in Sprachen gab, so beschäftigt, und in der Anwendung seiner Kraft so glücklich, daß es ihm an Zeit fehlte, neuen Grillen nachzuhangen, wenn er auch Lust dazu gehabt hätte; indeß seine alten Systeme hatte er noch immer nicht ganz vergessen.

Iglou erzog, wie natürlich, ihren Sohn, und zwar, wie ebenfalls natürlich, auf eine ziemlich Abyssinische Weise. Der Knabe saß neben ihr auf einer Decke im Zimmer, oder auf dem Grase im Garten. Sie war der Meinung, man müsse sich nicht viel mit den Kindern abgeben, sondern ihnen nur Gelegenheit schaffen, ihre Kräfte auszubilden. Dies hatte die Wirkung, daß ihr Sohn fertig ging, als andre Kinder von gleichem Alter noch getragen wurden. Der Baron erinnerte sich, als er seinen Jungen so früh laufen sah, mit Schrecken aus seinem Systeme, daß die unedleren Menschen-Racen alles Körperliche eher und besser lernen als die edleren. Der Knabe schrie nicht, wenn er fiel, und ließ sich ganz ruhig behandeln, wenn er sich verwundet hatte. „Ach“, seufzte der Baron; „der Mohr, der Neger, ist gegen den Schmerz unempfindlich!“ Er bemerkte nicht, daß Iglou, wenn der Knabe fiel, ihm gelassen zurief: nun, steh wieder auf! ohne sich von der Stelle zu bewegen; daß sie, wenn er sich verwundete, ruhig blieb, dann, während sie ihn verband, von einem Vergnügen sprach, das sie ihm machen wollte, und an die Wunde gar nicht zu denken schien. – Der Knabe lernte fertig und deutlich sprechen. Der Baron rief: „Gott behüte! da ist auch die verdammte Sprachfertigkeit!“ Aber der Knabe mußte wohl fertiger sprechen als andere Kinder; denn Iglou sagte ihm alle Wörter deutlich vor, zeigte ihm alle sinnliche Gegenstände, wenn es möglich war, und erfüllte nie sein Verlangen nach etwas, wenn er bloß mit der Hand darauf hinwies, ohne es zu nennen.

Nie haben wohl die Fertigkeiten, die Vollkommenheiten eines Kindes seinem Vater so viel Vergnügen gemacht als dem Baron Unmuth und Sorge. Rief Iglou: Friedrich! so ließ der Knabe das angenehmste Spielzeug fallen, und eilte gehorsam zu ihr. „Ach!“ seufzte Flaming dann; „die sklavische Natur seines Stammes! Er kann nur gehorchen!“ Als der Knabe zum ersten Mal ungehorsam war, funkelten des Barons Augen vor Freude. „O, Gott Lob!“ sagte er; „da wirkt doch endlich einmal mein Blut.“ Er nahm den Knaben gegen Iglou in Schutz, die ihm aber seinen Ungehorsam nachher sehr scharf verwies. Jetzt gehorchte der Knabe, wenn die Mutter nicht zugegen war, seinem Vater sehr oft nicht, oder widersprach ihm; und der Vater küßte ihn für diese Beweise seiner Celtischen Natur. Nach und nach äußerte der Knabe alle Celtischen Eigenschaften, doch nur, wenn er mit seinem Vater allein war. Er gehorchte nicht, sprach nicht mehr deutlich, konnte nichts mehr selbst stellen, oder ohne Hülfe machen, und fühlte den geringsten Stoß. Sobald aber seine Mutter kam, war er wieder der leibhafte Neger: gehorsam, körperlich geschickt, hart gegen Stöße und Wunden.

Der Baron wußte das nicht zu begreifen, und beinahe wäre er mit einem neuen Systeme von der Sympathie der Menschen unter einander zum Vorschein gekommen. „Bin ich da“, sagte er, „so ist der Junge Celtisch, wie es nur einer seyn kann; bei seiner Mutter aber wird er sogleich ein wahrer Neger. Natürlich! der Junge ist aus zwei Racen gemischt. Vielleicht wirken meine Ausdünstungen auf seine Celtischen Fibern!“ – Unser späteres Manipulations-System war damals noch nicht bekannt; sonst hätte der Baron gewiß geglaubt, seine Ausdünstungen manipulirten das Kind, und brächten seine Celtische Natur in Bewegung.

Iglou sagte zuweilen: du verziehst den Jungen, lieber Mann! Der Baron schwieg, weil er seine Gattin zu herzlich liebte, um ihr zu erklären, woran es lag, daß sein Sohn nur ihm nicht gehorchte. Aber zuweilen wurde ihm die Celtische Natur des Knaben doch ein wenig zu arg, und er mußte seine Zuflucht zu Iglou oder zu der Ruthe nehmen, die von der Mutter schon lange nicht mehr gebraucht wurde. Er und Iglou geriethen hierüber in einen seltsamen Streit. Sie hielt das Schlagen der Kinder für sklavisch, und erlaubte es sich nur im höchsten Nothfalle, wenn der Knabe ungehorsam war; er hingegen hielt nichts für sklavischer als den Gehorsam des Knaben. – Und doch mußt du ihn mit der Ruthe erzwingen! sagte Iglou. Der Baron konnte ihr darauf nichts antworten; es war ihm zu viel Räthselhaftes in diesem Phänomen. Noch größer wurde seine Verlegenheit, als er in der Folge einige Negeräußerungen bemerkte, die nur gegen ihn ausbrachen. Der Knabe gab, wenn der Vater ihn unterrichten wollte, nicht Acht, und antwortete verkehrt, kindisch, oder plauderte unaufhörlich dazwischen. „Wahre Negernatur!“ seufzte der Baron. Die Mutter nahm den Knaben vor; und nun war er aufmerksam, verständig, und faßte sehr schnell. „Wieder mein Blut!“ triumphirte der Baron. Nur konnte er nicht begreifen, wie es zuging, daß der Knabe bei der Mutter Celtisch, bei ihm aber negerartig war. „Ei“, sagte er endlich nach langem Sinnen mit großer Freude: „meine körperliche Natur wirkt auf seinen Körper: dann ist dieser, mit allem was davon abhängt, Celtisch, und seine Seele nimmt die Negernatur auf, die aus dem Körper weicht. Bei der Mutter macht ihre Ausdünstung, oder eine körperliche Sympathie, den Körper negerartig; und dann zieht seine Celtennatur in die Seele. Richtig! darum ist sein Körper bei mir weichlich, ungelehrig, und seine Seele unverständig, ohne Nachdenken.“

Iglou erklärte das alles ganz natürlich. Der Junge weiß, wie viel du ihm nachsiehst. Er spielt lieber als er lernt, und wagt es bei dir, unaufmerksam, ungehorsam und trotzig zu seyn, weil du es von ihm geduldet hast. Bei mir wagt er das nicht, weil ich ihm nie Ungehorsam oder andre Untugenden übersehen habe. Nach diesen Aeußerungen sagte der Baron nichts von seiner Erklärung, und auch in der Folge schwieg er ganz davon. Der Knabe zeigte so viel Geist, so viel Fähigkeit, und wurde durch seine Mutter zugleich so gut und sanft, daß der Baron ihr bald die Erziehung fast allein überließ, und sich nur selten hinein mischte. Seine Achtung für Iglou stieg immer höher; und seine Mutter konnte nicht aufhören zu sagen: mein Sohn, du hast eine herrliche Frau.

Endlich, als bei Iglou's weiser Leitung des Knaben Verstand und Herz sich immer vortheilhafter entwickelten, vergaß der Baron gänzlich, daß Negerblut in seinen Adern floß. Er dachte, wenn er Iglou oder seinen Sohn ansah, mit Beschämung an sein System der Menschen-Racen; und nun, da er überzeugt war, daß er vor der Negernatur seines Sohnes nicht mehr zu zittern brauchte, nahm er wieder mit großem Eifer Theil an seiner Erziehung. Jetzt suchte er Rousseau's Emile zum zweiten Male hervor. Er studierte die Erziehung seines Sohnes, und Iglou erzog ihn. Sie lehrte ihn lesen, und er lernte es ohne Schwierigkeit. Als er schon ziemlich fertig darin war, bemerkte der Baron es von ungefähr, und sagte: „um des Himmels willen, nicht lesen!“ Er kann es, erwiederte Iglou. – Der Knabe lernte von seiner Mutter Lateinisch sprechen. Der Baron meinte, es wäre besser, wenn er anstatt dessen zimmern oder tischern lernte. Iglou hob die Arme des Knaben auf, und sagte: sobald die können, auch das. Keine Idee von Rousseau gefiel dem Baron besser, als daß jeder Knabe ein nützliches Handwerk lernen soll. Er selbst hatte zu sehr gefühlt, wie gut es ist, etwas zu wissen, womit man sich im Nothfall ernähren kann. „Erst muß man dafür sorgen“, sagte er, „daß man unabhängig vom Unglück ist. Wenn ich dich nicht hätte, Iglou, und nicht zeichnen könnte, ich, ehemals ein reicher Baron, müßte jetzt umher laufen, und mein Brot vor den Thüren suchen.“ Er sah nicht, daß Iglou schon längst dafür sorgte, des Knaben Hände an alle Arten von Arbeiten zu gewöhnen.

Sie ließ ihn aus Brot Blumen machen, und übte dadurch seine Augen, so daß er früh ein Gefühl des Schicklichen, des Zusammenpassenden, erhielt. Der Baron rief, als er das bemerkte: „J'aime mieux qu'il pave les grands chemins que de faire des fleurs de procelaine – oder von Brot, liebe Iglou!“ Der Knabe mußte nun Leuchter, Tassen oder andre Gefäße aus Brot machen, und der Baron war zufrieden. Fast eben so ging es mit tausend andern Dingen. – Der Baron wollte seiner Frau den Emile vorlesen. Sie verbat es sich, weil sie glaubte, es sey besser, ein Kind nach einem fehlerhaften Plane zu erziehen, als nach zweien zugleich; aber dennoch machte sie es, zu des Barons Erstaunen, meisten Theils gerade wie Rousseau mit Emile, und oft noch schicklicher. Iglou dachte und handelte nach ihren Einsichten. Sie war selbst zu gut gebildet, um große Fehler begehen zu können; kleinere bemerkte sie bald, und verbesserte sie sogleich. Ihr Herz und ihr Verstand waren einfach; die Sitten der großen Welt hatten ihr nicht den Kleinigkeitsgeist gegeben, und sie liebte ihren Sohn: kein Wunder also, daß ihr seine Erziehung gerieth.

Der Baron fing nun an, den Locke zu studieren, und erstaunte, daß auch dieser Englische Philosoph eben der Meinung war, wie seine Frau. Bei Allem, was diese unternahm, zog er seine Bücher zu Rathe; und wenn ihr Verfahren denen widersprach, so mußte sie, trotz dem besten Erfolg, Unrecht haben. Er hatte große Lust, sobald der Knabe nur ein wenig denken konnte, ihn in alle Geheimnisse der spekulativen Philosophie einzuweihen. Iglou störte ihn eine Zeitlang nicht. Doch alsdann überzeugte sie ihn durch die Erfahrung, daß Spekulation nicht für den Geist der Kinder gehört, und daß bei ihrer Bildung weit weniger darauf ankommt, wie viel sie wissen, als darauf, daß alle ihre Seelenkräfte, Gedächtniß, Phantasie, Dichtungs- und Urtheilskraft, mit der Vernunft harmonisch ausgebildet werden.

Flaming machte Plane zur Erziehung; und Iglou erzog. Sie lächelte bei allen seinen Planen, hörte sie aber geduldig vorlesen. Er hatte eine Kritik der alten historischen Schriftsteller aufgesetzt, die, wie er wünschte, sein Sohn bald lesen sollte. Mit keinem von allen war er zufrieden. „Es giebt“, sagte er am Ende mit Unruhe, „für die christliche Jugend einen christlichen Virgil; wann wird doch endlich die Zeit kommen, da man einen Livius, einen Tacitus für die Jugend bearbeitet! Sag mir, welchen Historiker willst du mit unserm Kleinen lesen, wenn er zehn Jahre alt seyn wird?“

Keinen, antwortete Iglou. Der Historiker schreibt für Männer, nicht für Kinder. Das Kind bedarf aus der Geschichte nur einiger Blätter, und die muß ihm der Lehrer vortragen. Unser Sohn soll den Livius nicht früher lesen, als bis er Geist genug hat, ihn zu verstehen; aber er soll einzelne Stücke daraus kennen lernen, der Sprache wegen.

So ging es oft. Iglou wußte indeß immer Mittel, ihre Meinung mit der seinigen verträglich zu machen. Der Knabe bewies durch seine Fortschritte, daß sie Recht hatte; früh aber suchte sie auch sein Herz zu bilden. Sie behauptete gegen ihren Mann: das Herz für die Tugend zu gewinnen, ist mehr, als den Verstand davon zu überzeugen. Das Herz muß die Tugend lieben wie ein Glück, und das Laster hassen wie ein Unglück. Die bloße Ueberzeugung des Verstandes von der Pflicht, die Tugend auszuüben, ist, wenn die Sinnlichkeit erwacht, ein Kind gegen einen Riesen. Ich ziehe den Riesen, die Sinnlichkeit, auf die Seite der Tugend, weil ich glaube, daß die ersten Tugenden der Kinder lauter Gefühle des Glückes seyn müssen; dann erst überzeuge ich den Verstand, und gebe der Tugend eine neue Kraft.

Der Knabe bedurfte kaum dieser vorsichtigen Bildung, da er die Beispiele seiner edlen Eltern stets vor Augen hatte. Es verging kein Tag, den Iglou oder Flaming nicht mit einer guten That bezeichneten. Iglou glaubte, man müsse, wo möglich, selbst mit Leidenden sprechen, und ihnen Hülfe bringen. Oft machte sie auch ihren Sohn zum Zeugen ihrer wohlthätigen Handlungen und ihrer Freude über das süße Glück, das sie gewähren.

Der Knabe war ungefähr vier Jahre alt, als Iglou's Tugend recht eigentlich geprüft wurde. Ein Frauenzimmer in Lumpen, bleich und matt, hatte in der Stadt gebettelt, und lag jetzt in einem Wirthshause krank und elend. Sie war, wie sie sagte, von den Russen geplündert, gemißhandelt worden, und endlich unter Noth und Elend bis hierher gekommen. Iglou hörte von dieser Unglücklichen, erkundigte sich in dem Wirthshause näher nach ihr, und erfuhr nun, was wir erzählt haben. Ein menschenfreundlicher Arzt des Ortes, der täglich in Flamings Hause war, besuchte die Kranke, und brachte Iglou dieselbe Nachricht, doch mit dem Zusatze, daß ihre Krankheit anhaltend seyn würde. Er wußte übrigens noch nicht einmal, was ihr fehlte. Daß dieses Frauenzimmer aus den so genannten besseren Ständen war, hatte er an ihrer gebildeten Sprache bemerkt. Iglou machte sogleich Anstalt, dem armen Geschöpfe Pflege zu verschaffen. Sie ließ die Kranke noch an eben dem Tage auf ein kleines Stübchen in ihrem Hinterhause bringen, und nun ging sie zu ihr, um von ihr selbst ihr Schicksal zu hören.

Als die Kranke nur einen Blick auf Iglou geworfen hatte, schrie sie laut, und suchte sich in ihrem Bette zu verbergen. Iglou, die den Schrei für Ausdruck des Schmerzes hielt, ging mitleidig dem Bette näher, und fragte, was ihr so weh thue. Die Kranke antwortete nicht. Iglou setzte sich zu ihr, drückte die dürre, schlaffe Hand, und versicherte ihr, daß sie Unterstützung und Freundschaft finden solle.

Die Kranke war ängstlich; sie sah Iglou nur mit einzelnen Blicken, wie verstohlen, an, und sprach nur mit dumpfer Stimme einige Worte. Erholen Sie sich erst, sagte Iglou; wir sprechen weiter. Seyn Sie ohne Sorge; Sie sind bei Menschen, die Sie nicht verlassen werden. Gewiß nicht! – Gewiß nicht? wiederholte die Kranke mit einer Art von Heftigkeit. – Gewiß nicht! sagte Iglou noch einmal. Die Kranke schien nicht daran zu glauben; sie seufzte mit sichtbarer Unruhe.

Die Kranke konnte Iglou's Versicherung, daß sie nicht verlassen seyn sollte, in der That nicht leicht glauben; denn sie war – Julie Hedler, durch ihren Leichtsinn nach und nach bis zur Bettlerin herabgesunken. Sie verschwendete als Mätresse des Russischen Generals ungeheure Summen, so sehr ihr Bruder sie auch bat, an die Zukunft zu denken. Das konnte sie nicht, ja nicht einmal sich gegen den General mit Klugheit betragen.

Unter der Schwadron des Generals war ein junger, schön gebildeter Husar, von Geburt ein Deutscher, der, um seiner Sprache willen, natürlicher Weise viel mit dem General zu thun hatte. Er wurde zu allem gebraucht, weil man sich auf ihn verlassen konnte. Julie sah den hübschen jungen Menschen täglich, und er gefiel ihr, da seine Figur edel, groß, und sein Gesicht jugendlich schön war. Er wagte es einige Male, Julien für Unglückliche, die er retten wollte, zu bitten, und sie, die von Natur Gutherzigkeit hatte, erfüllte sein Verlangen durch ihr vielgeltendes Vorwort. Juliens Bekanntschaft mit dem jungen Husaren war nun gemacht; er begegnete ihr indeß immer mit tiefer Ehrerbietung, und wagte es kaum, das reitzende Geschöpf anzublicken. Damit er Muth bekäme, lächelte sie ihm zu, wenn er etwas bei ihr zu bestellen hatte; er blieb aber immer in der ehrerbietigsten Entfernung, obgleich die freundlichen Blicke des reitzenden Mädchens sein Blut in Wallung brachten. Julie konnte dabei nicht stehen bleiben; dazu war der junge Mensch zu hübsch. Ihr Lächeln, ihre Blicke wurden bedeutender, und sie ließ sich seine Geschichte von ihm erzählen. Er war von guter Herkunft; aber sein feuriges Temperament hatte ihn zu Unvorsichtigkeiten, und endlich unter die Husaren gebracht. Julie sah ihn mit einem lockenden Blick an, sagte: ich will für dein Glück sorgen! und legte ihre Hand auf seinen Arm, der sogleich anfing zu zittern.

Sie gestand ihrem Bruder ihre Neigung unverhohlen, und er verwendete sich für den jungen Husaren, weil sie es bei ihrem Leichtsinne sonst selbst gethan und dadurch Argwohn bei dem General erregt haben würde. Frick – so hieß der junge Mann – wurde Quartiermeister der Schwadron, und blieb nun ganz im Gefolge des alten Generals. Er hatte wirklich vielen Edelmuth; allein er war ein Mensch ohne Grundsätze, ohne Tugend. Juliens Blicke lockten ihn; er konnte ihrem zauberischen Lächeln nicht widerstehen, und seine Augen fingen an ihre Blicke zu beantworten. Nach und nach wurde er dreister, aber nur wie ein Neuling in der Liebe. Ein ernster Blick von Julien schreckte ihn wieder sehr weit von ihr zurück. Sie sah, wie das Verlangen nach ihr in seinen Augen blitzte; wie ängstlich, wie sehnsuchtsvoll seine Brust in ihrer Gegenwart schlug; in welche reitzende Verwirrung er gerieth, wenn sie mit ihm allein war; wie er mit sich selbst kämpfte, ob er sich ihr zu Füßen werfen, oder ehrerbietig schweigen sollte. Dies Schauspiel machte ihr großes Vergnügen, und erinnerte sie an die süßen Stunden in den Armen des jungen Franzosen, den sie vielleicht allein geliebt hatte.

Was sollte Julien abhalten, den jungen, heiß liebenden Menschen glücklich zu machen! Eines Tages, als er allein bei ihr war, faßte sie seine Hand, drückte sie, ohne zu sprechen, sah ihn schmachtend, lächelnd, halb spottend an, legte ihre kleine, weiße Hand auf sein Herz, und sagte scherzend: o, wie das schlägt! Hast du mich denn so lieb? – Der Jüngling zitterte, und wußte nicht, was er antworten sollte. Sie näherte ihre frischen, rothen Lippen seinem Munde; und seine Augen blitzten von heftigen Flammen. Noch immer wußte er nicht, ob das Spott oder Liebe war. Sie legte endlich ihre Lippen an die seinigen; und nun warf er seine zitternden Arme mit unbeschreiblichem Feuer um ihren Leib, küßte sie, und fühlte ihre Küsse auf seinen Lippen brennen. Sie erstaunte über die heftige Leidenschaft des jungen Menschen, der ihr dabei zugleich die größte Ehrerbietung erwies. Mit zärtlichem Hingeben umarmte sie ihn nun, und sagte ihm unter Küssen, daß sie ihn liebe. Er sank vor ihr nieder, und weinte auf ihre schönen Hände. Sie hob ihn wieder auf an ihren Busen; und er blieb, so leidenschaftlich er auch war, dennoch in den Gränzen der reineren Zärtlichkeit.

Julie empfand freilich nichts als Wollust; aber dennoch wirkte zu ihrem Befremden die Bescheidenheit des jungen Menschen sonderbar auf sie. Sie fühlte sich durch seine Schüchternheit geehrt, und konnte sich nicht überwinden, ihn ihre Wünsche merken zu lassen. Ihre Neigung zu ihm wuchs gerade dadurch, daß er so bescheiden war; ihre eigenen Begierden wurden ruhiger, und sie fühlte nun in ihrem Herzen einen feineren Genuß der Liebe, den sie vorher nicht kannte.

Frick gehörte zu jenen Feuerseelen, die das Schicksal zu hohen Tugenden, zu den edelsten Gefühlen bestimmt hat; aber zu seinem Unglück blieb sein Geist ungebildet. Er war unbesonnen gewesen, doch niemals niedrig. Das Feuer seiner hohen Seele trieb ihn, anstatt zu Tugenden, in Gefahren. Sein Herz schwankte beständig zwischen dem feurigen Antriebe zu allem Edeln, und zwischen seinen Schicksalen, und den Menschen, die ihn zu Vergehungen zogen. Die Kraft seiner Seele ging in seine Leidenschaften über; doch nie schwieg die laute Stimme der Tugend in seiner Seele. Kurz, er war einer von denen Menschen, die mit Leidenschaften anfangen und mit Verbrechen endigen, weil sie das Wesen der Tugend nicht kennen lernten.

Jetzt liebte Frick zum ersten Male, und mit glühender Leidenschaft; er würde aber auch mit edler Reinheit geliebt haben, wenn er an ein tugendhaftes Mädchen gerathen wäre. Julie entzündete Liebe und Wollust zugleich in seiner Brust; doch seine Liebe bekam den edleren Charakter, weil er noch nie geliebt und nie ausschweifend gelebt hatte. Nur der Umstand, daß Julie des Generals Mätresse war, bewirkte Regungen der Wollust bei ihm; doch die Liebe war viel stärker als diese. Selbst bei der Mätresse Julie wagte er es nicht, mehr zu fordern als ihr Herz; aber es ließ sich voraus sehen, daß die Sinnlichkeit in Kurzem das Uebergewicht bekommen würde.

Julie selbst verlangte das. Sie öffnete dem Jünglinge die wollüstigen Arme, und er sank hinein; doch mitten in dem Genusse der Freuden forderte er noch immer ihre Liebe. Er hing mit voller Seele an ihr; aber er war durch Eifersucht auch ihr Tyrann, in seiner Liebe fürchterlich. Mit Thränen der Wuth, der Verzweiflung, mit schrecklichen Drohungen, forderte er von Julien, sie sollte den General verlassen. Julie suchte ihn zu überzeugen, daß es besser sey, den General so fort zu betriegen, und bot ihm Kostbarkeiten, Gold an. Verachtend stieß er Ringe, Uhren und Gold zurück, und sagte mit blitzenden Augen: Julie, dich will ich! dich! Im Elende wollte ich mit dir vergehen, in Verzweiflung umkommen, und, wenn du mir gehörst, nur mir, dennoch glücklich seyn. Er fiel ihr zu Füßen, und rang die Hände vor Wuth und Eifersucht. Du liebst mich nicht! rief er; es ist nicht wahr, du liebst mich nicht! Denn wie könntest du sonst noch etwas außer mir wünschenswerth finden? Julie, ich beschwöre dich, sey mein! O, ich will dich unendlich, unaussprechlich lieben; für dich arbeiten, daß mir die Sehnen springen! Bringe mich nur nicht zu der rasendsten Verzweiflung.

Eine solche heftige Liebe war Julien noch nicht vorgekommen. Was sie that, ihn zu beruhigen, die zärtlichsten Liebkosungen, die sorgfältigste Aufmerksamkeit, die Ueberwindung aller ihrer Launen – nichts konnte diesen Menschen zu dem machen, wozu sie schon so manchen gemacht hatte: zu ihrem Sklaven. Sie fühlte, daß sie inniger als je geliebt war, und freuete sich darüber, ob sie gleich auch fühlte, daß Frick sie gewaltsam beherrschte. Er zwang sie, an die Wahrheit seiner Empfindungen zu glauben; noch mehr! er zwang sie zu ähnlichen Empfindungen, und brachte einige Funken von seinem Feuer in ihre Seele. Die Wollust, die sie geben konnte, war nicht das Ziel, nach welchem er strebte; nein, es war ihre Liebe, sie selbst. Er wollte nicht ihrer genießen, sondern sie besitzen. Wenn sie die schönen Arme um ihn schlang, ihre heiße Wange an der seinigen lag, und er sich nun mit ihr in die Zukunft hin träumte, wie sie einander Alles, ewig Alles, seyn wollten: das war der Augenblick, wo sein Auge sich mit Thränen, seine Brust mit Entzücken füllte; der Augenblick, wo er betheuerte: er sey glücklicher, als eine Sprache es sagen könne.

Anfangs hatte er genossen, war aber nicht glücklich gewesen, und am Morgen mit finstern, mißtrauischen Blicken von ihr weggegangen. Erst als sie das Fremde für ihn verloren hatte; als der Gedanke, sie ist die Mätresse des Generals, ein prächtig gekleidetes Frauenzimmer, nicht mehr auf seine Phantasie wirkte; als er sie Julie und Du nannte: erst da wurde er glücklich, aber auch eifersüchtig. Jetzt wollte er mit ihr entfliehen. Wo können wir hin? sagte Julie. Und denk an die Rache des Generals, wenn wir eingeholt würden! Wir wären Beide verloren! – Er rang die Hände, und knirschte mit den Zähnen. Aber was konnte er erwiedern? Er fügte sich in die Nothwendigkeit.

„O Julie“, sagte er einst, und betrachtete sie mit verschlingenden Blicken; „ich liebe dich! Der Gedanke, ob auch du mich liebst, nagt wie ein Geier an meinem Herzen.“

Aber, antwortete sie lächelnd, wie soll ich dich Ungläubigen überzeugen, daß ich dich liebe?

Er legte die Faust an die Stirn, und rief grimmig: „das ist es, das ist es! Sieh, wenn ich dich in einem Bettlerkleide, in Noth und Elend gefunden hätte, und die Welt wäre mein gewesen – ach, Julie, Alles würde ich für dein Herz dahin gegeben haben. Barmherziger Gott, daß ich dich so, so finden, so lieben mußte!“

Lieber Frick, wer hat versprochen, mir meine ehemaligen Begebenheiten nicht mehr vorzuwerfen? Sie sind geschehen. Aber habe ich dir nicht gesagt, daß ich dich, dich allein, liebe wie noch keinen Mann?

Er schüttelte den Kopf, und betrachtete sie mit finstern Blicken. „Was du sagst, kann wahr seyn; aber das ist ja eben das Unglück, das Schreckliche bei der Lebensart, die du geführt hast, daß dir kein Mann trauen darf! O Julie! könnte ich dein Leben bis zu dem Augenblicke, da du verführt wurdest, zurückkaufen – sieh! hier im Schnee wollte ich Jahre lang knieen, von Wurzeln, von Wasser leben; ich würde es lächelnd ertragen, und für dich beten. Nein, Julie, du kannst mich nie ganz glücklich machen! Ach, alle deine Reitze gäbe ich für deine Unschuld!“

Ihr Männer seyd doch seltsam! erwiederte Julie, und suchte ihre Empfindlichkeit durch einen leichten Spott zu verbergen. Da spricht der Mensch von Unschuld; und ich wollte nur den Lärm sehen, den er machen würde, wenn ich ihm mein Schlafzimmer verschlösse! Du, Frick, bist um nichts besser als die übrigen Männer.

„Ja, ich bin mit dir gefallen; aber eben, daß ich darauf rechnen konnte, ist das Gift, das an meiner Seele nagt. Wenn du unschuldig gewesen wärst, Julie, ... so ...“

Hättest du mich dann mehr geliebt?

„Nein, das nicht. Ich liebe dich bis zum Wahnsinn; aber die Liebe hätte mich dann zu einem guten Geiste gemacht, zu einem Glücklichen: und jetzt macht sie mich zu einem Teufel, zu einem Verzweifelten. Julie, ich könnte morden, wenn du meiner überdrüßig würdest, einen Andern an dich locktest, und mich verstießest. Wenn du das thätest – lächle nicht! – wenn du das je thätest, so ... Ich mag nicht daran denken, daß es möglich ist! Du würdest sehen, was Liebe kann!

So waren ihre Gespräche fast immer; und Julie, die wirklich alle die Liebe, deren ihr leeres Herz fähig war, für den jungen Mann empfand, fing endlich an zu begreifen, daß Unschuld, Keuschheit, doch nicht etwas ganz Gleichgültiges seyn müsse. Frick lehrte sie eine Liebe kennen, die nicht bloßer sinnlicher Genuß ist, und erwarb sich zugleich durch Uneigennützigkeit ihre entschiedene Achtung. Er nahm nie Geschenke von ihr, so viel, so oft sie ihm auch etwas anbot. „Das ist nicht dein!“ sagte er mit Stolz und Unwillen: „Geld, an dem mein Elend, meine Verzweiflung hängt. Ich wünschte, du ständest nackend da, frei von dem Prunke, den ich mit meiner Ruhe bezahlen muß! Dann würde ich dich mit meinen Kleidern bedecken, und dieser Säbel sollte dir alle die Nichtswürdigkeiten erfechten, ohne die du nicht leben, nicht glücklich seyn zu können glaubst!“ Als sie einmal in Ernst böse wurde, daß er einen simpeln goldnen Ring nicht nahm, den sie ihm anbot, um seine Zweifel an ihrer Liebe zu besiegen: da schnitt er ihr mit einer Schere eine Locke von ihrem blonden Haare. „Das ist dein“, sagte er, „meine geliebte Julie! Dieses Haar schenke mir!“ Er band die Locke zusammen, und trug sie nun auf seinem Herzen.

Julie lachte über diese empfindsamen Tändeleien, diese Kleinigkeiten, denen ein volles Herz so hohen Werth giebt; doch es währte nicht lange, so legte sie, zu ihrer Verwunderung, selbst Werth darauf. Sie steckte einen goldnen Ring, den er ihr schenkte, lieber an als einen brillantenen, und trug ebenfalls Haar von ihm auf ihrem Herzen. Mit Unmuth, mit sichtlichem Widerwillen erduldete sie die Liebkosungen des alten Generals, und machte tausend Erfindungen, um mit seinen Besuchen verschont zu bleiben. Sie hängte sich mit einer Art von Schwärmerei an ihren Geliebten; und wenn Frick reich gewesen wäre, so würde sie den General gewiß verlassen haben.

Jetzt theilte sie wirklich mit ihrem Geliebten alle Gefühle, und wünschte sogar, noch unschuldig zu seyn, um ihn ganz glücklich machen zu können. Stunden lang hörte sie seine Träumereien von der Zukunft mit innigem Vergnügen an; ja, in manchem Augenblicke ihrer Schwärmerei versprach sie ihm mit vollem Herzen, ihn zu heirathen.

Eines Tages stand der General mit einem Theile seines Regiments auf den Vorposten. Da er jetzt vor einem Angriffe sicher zu seyn glaubte, so ließ er Julien, die bei der Bagage in einem entfernteren Dorfe war, bitten, zu ihm zu kommen. Frick und ein paar Husaren begleiteten sie bis zu dem Dorfe, in welchem der General sein Quartier hatte. Gegen Abend entstand Lärm, und Alles gerieth in Verwirrung. Die Preußischen Vorposten waren durch einen Wald gegangen, um den Russen in den Rücken zu kommen. Julie mußte sich nun sogleich wieder in den Wagen setzen, den eine kleine Bedeckung von Husaren, unter Fricks Anführung, begleitete. Am folgenden Morgen, als eben die Sonne aufging, hörte man in dem Walde ein Pferdegetrappel, und es sprengten einzelne Husaren heran. Der General war genöthigt, sich zurückzuziehen, und ließ Frick sagen: er sollte Julien sogleich links fahren lassen, weil rechts der Feind stände. Kaum war Frick wieder aufgebrochen, so kam auch der Feind schon zum Vorschein. Julie schrie vor Angst. Frick sprengte an den Wagen, und sagte in Eil: „Julie, so lange ich lebe, wird kein Feind an den Wagen kommen!“ Er befahl dem Kutscher, langsam und vorsichtig zu fahren; dann sprengte er zu seinem kleinen Trupp.

Sobald die Preußischen Husaren den Wagen sahen, stürzten sie hinzu, um Beute zu machen. Frick sprengte ihnen mit gezücktem Säbel entgegen, und sein Muth begeisterte seine Kameraden. Sie wehrten die Preußen ab, und eilten dann wieder zu dem Wagen. Die Feinde stürzten aufs neue heran, und Frick ihnen sogleich wieder entgegen. Hier fiel einer, dort einer. Vier Russen lagen schon, und auch fünf Preußen, von denen Frick viere niedergehauen hatte. Nur er und ein Russe waren noch am Leben, aber Beide leicht verwundet; sie hatten vier unverletzte Preußische Husaren, einen Officier unter ihnen, gegen sich.

Der Officier bewunderte die Tapferkeit des einzigen Mannes, und rief ihm auf Russisch zu: er möchte sich ergeben. Frick antwortete auf Deutsch: „ich bin kein Russe! Lebendig bekommt ihr mich nicht!“ Nun erhob sich ein wüthendes Gefecht, worin Frick Wunder der Tapferkeit that. Die Preußen riefen ihm bei jedem Hiebe zu: Bruder Deutscher, Pardon! Jetzt fiel Fricken ein Gedanke ein. „Halt!“ rief er; „ein Wort!“ – Aber der Wagen fährt nicht weiter! rief der Preußische Officier; und er hielt auf Fricks Zuruf. Frick sagte nun: „ich bin ein Unglücklicher, der jetzt Leben und alles verlieren, oder alles gewinnen muß. Ist euch mehr an mir oder an dem Wagen gelegen? Laßt den Wagen fahren, und ich bin euer Bruder, ein Preuße. Wollt ihr das nicht, so muß der Säbel entscheiden. Ich bin entschlossen zu sterben. So lange dieser Arm noch nicht abgehauen ist“, – bei diesen Worten fuhr sein Säbel schrecklich pfeifend durch die Luft – „so lange berührt niemand den Wagen!“ – Aber, fragte der Officier lächelnd; was hast du mit dem Wagen, braver Kamerad? Willst du unser seyn, so nimm ihn dazu. Du sollst dich mit meinem Burschen in die Beute theilen. Sag, was hast du mit dem Wagen?

„Er gehört meinem General, der ihn mir anvertrauet hat. Das Mädchen darin ist meine Geliebte. Wollen Sie, Herr Lieutenant, so hole ich das Mädchen, der Wagen fährt, und ich bin der Ihrige.“ – Kamerad, so nimm doch den Wagen mit! Er soll dein seyn. Auf Ehre, ganz dein!

„Herr Lieutenant, ich will das Mädchen, weiter nichts; das Uebrige muß wieder zu der Russischen Armee. Wenn es seyn könnte, nähme ich das Mädchen lieber nackt. Dieser Säbel sollte ihr wohl Brot und Kleider schaffen! Wollen Sie?“ – Wohl, ich will. Laß den Wagen zum Teufel fahren! – „Herr Lieutenant, machen Sie, daß ich zu Ihrer Schwadron komme. Sie schenken mir den Himmel; und mein Leben, mein Blut, gehört von heute an Ihnen.“ Er sprengte an den Wagen, und rief glühend: „Julie, ich habe dich und mich gerettet! Willst du nun mein Weib seyn?“ Julie sprang auf. Gott, lieber Frick, du blutest! – „Mit diesem Blute“, sagte er lächelnd, „habe ich deine Hand erkauft. Willst du mit mir zu den Preußen übergehen?“ – O ja, lieber Frick. Hier ist meine Hand. – „So steig aus. Wirf deine Ringe, deine Uhren hin. Steig aus, und folge mir!“ – Frick, laß uns den Wagen mitnehmen! – „Der Wagen gehört dem General“, sagte Frick finster; „steig aus und folge mir!“

Julie begriff nichts. Frick erklärte es ihr. „Ich gehe zu den Preußen über, weil ich ein Deutscher bin, weil ich dich retten will; aber der Wagen wurde mir anvertrauet, und soll wieder in die Hände des Generals kommen. Wenn du mich liebst, Julie, so wirf ihm die Ringe, die Uhren, das Gold hin; und, bei meinem Leben! dafür will ich vergessen, was du gewesen bist.“ Julie überlegte einen Augenblick. Arm sollte sie mit ihm gehen? das Weib, das schlechtgekleidete Weib eines Husaren? Sie fing an zu weinen. Da riß Frick die Mütze ab, zeigte ihr den Hieb auf der Stirn, und sagte: „sieh! Blut war mir für dich nicht zu theuer; und du?“ Er riß eine Pistole aus dem Halfter, und setzte sie, mit einem verachtenden Blicke auf Julien, an die Stirn.

„Nein!“ rief er dann; „ich habe ja erst dein Gold zu retten!“ Er steckte die Pistole wieder ein, zog den Säbel, und sprengte gegen die Preußen. „Herr Lieutenant!“ rief er; „nichts als der Tod! Ich bin Ihr Feind! Sie fechten mit einem Verzweifelten, der sterben will, sterben muß, der schändlich betrogen ist. Aber der Wagen muß fahren, so lange mein Arm den Säbel noch heben kann!“ – Halt! rief der Lieutenant seinen Husaren zu, weil er sah, daß Frick bleich wurde. Laß den Wagen fahren, so weit er kommen kann, Kamerad. Er ist ja doch unser; du kannst ja kaum mehr auf dem Gaule sitzen. – „Ich?“ rief Frick wüthend. spornte sein Pferd, und hob mit der letzten Kraft den Säbel. „Sterben will ich! sterben!“

Der Officier sprengte auf ihn zu, und schlug ihm den Säbel aus der Hand. Nun wurde Frick vom Pferde gerissen, und der andere Husar sprengte in den Wald. Man hielt den Wagen an, und wendete ihn um. Julie schrie laut auf, als ein Preuße ihr die Pistole vorhielt. Deserteur! rief der Officier, und gab Fricken den Säbel wieder: der Wagen ist sein! – „Gefangener!“ sagte Frick. „Kameraden, der Wagen ist euer!“ Der Officier sprengte zu dem Wagen hin, erstaunt über Juliens Schönheit, versicherte sie seines Schutzes, und sagte ihr freundlich: sie möchte ruhig seyn. Als der Wagen an den Platz kam, wo Frick auf der Erde lag und eben von einem Preußen verbunden wurde, sprang Julie laut schreiend heraus, stürzte sich neben ihn hin, nahm seinen Kopf auf den Schooß, benetzte sein Gesicht mit Thränen, und gab ihm alle Beweise einer zärtlichen Liebe. Frick lächelte, und reichte ihr die Hand. Der Officier rief noch einmal: Deserteur, Kamerad! Ich bitte dich, sag Deserteur! Das Mädchen ist dein!

„Deserteur!“ stammelte Frick. „Julie“, setzte er hinzu; „du hast nicht gewollt, daß ich glücklich würde. Dein Gold ist dir mehr werth als ich. Laß mich sterben, und sey du nur glücklich!“ Dieser Edelmuth überwältigte Julien; sie sprang auf, machte den Husaren große Geschenke, und rief: Wagen und Pferd sind euer! alles, was ihr findet, ist euer! Aber vorsichtig verbarg sie eine kleine Schatulle, die ihre Kostbarkeiten und eine Summe Geld enthielt. Frick, den man bald wieder auf sein Pferd gebracht hatte, erzählte nun dem Officier auf dessen Verlangen. So sehr er auch die eigentlichen Umstände im Dunkeln ließ, so errieth der Officier dennoch den Zusammenhang. Er ließ lächelnd anhalten, und sagte: Mamsell, alles was im Wagen ist, sogar die Kleider, die Sie tragen, sind unser, und Sie selbst unsre Gefangene. Steigen Sie aus! Zitternd und bleich trat Julie aus dem Wagen. Der Officier bemächtigte sich ihrer Schatulle, und sagte dann zu Frick: du bist mein Rekrut, braver, edler Mensch! Ich bin dir Handgeld schuldig. Hier! du bekommst meine Gefangene, und dieses Kästchen. Bist du nun zufrieden?

Julie reichte ihrem Geliebten die Hand zu; und er sah den Officier mit dankbaren Blicken an. Sie hielt ihm auch die Schatulle hin; aber die schlug er lächelnd aus. „Ich mag sie nicht; sie ist dein, Julie: das Geschenk eines edlen Mannes. Jetzt ruhet ein anderer Geist darauf.“ Er wurde nun gelassener, und man kam Mittags bei der Preußischen Avantgarde an.

Natürlicher Weise machte diese kleine Begebenheit Aufsehen. Jeder wollte den jungen, tapfern, edlen Husaren und seine Geliebte kennen lernen, die man denn unbeschreiblich schön fand. Julie verließ, so lange Frick noch krank lag, sein Bett nicht. Sobald er gesund war, wurde er eingestellt. Er genoß allgemeiner Achtung in dem Regimentes und da er bei verschiedenen Gelegenheiten eben die Tapferkeit zeigte wie in jenem Scharmützel, so wurde er bald Wachtmeister, und es war kein Geheimniß, daß der General nur auf Gelegenheit wartete, ihn dem Könige zum Officier vorzuschlagen. Jetzt zog auch die Ehre Julien an ihn. Sie liebte den Mann, der sich allgemeine Achtung erwarb, und er mußte nun aus Gefälligkeit für sie einen Aufwand machen, wie ihn nur der Rang, den er hoffte, entschuldigen konnte. Sie selbst trug jetzt Amazonenkleider, und blieb immer an der Seite ihres Geliebten.

Der junge Officier, der Fricken zum Gefangenen gemacht hatte, war sogleich sein Freund, und Beide wurden das noch mehr in einem Vorpostengefechte. Der Officier hatte sich zu weit gewagt. Auf einmal sprengten aus einem Gebüsche mehrere Husaren hervor, die ihm den Rückweg abschnitten. Er war umringt, und sah seinen Tod vor Augen; denn die Erbitterung der Russen, welche durch eben dieses Husarenregiment einige Male sehr gelitten hatten, war zu groß, als daß er hätte hoffen können, Pardon zu erhalten. Er wehrte sich, so gut er konnte; auf einmal hörte er ein heftiges Geschrei, und zugleich wendete sich ein Theil der Russen von ihm ab. Nur Ein Preußischer Husar schlug sich mit unbeschreiblicher Wuth herum. Das gab ihm selbst Muth, und seine Hiebe verdoppelten sich. Jetzt sprengte der Husar – es war Frick – herbei, und sein Säbel schmetterte wie ein Blitz zwischen den Feinden. Er drang bis zu seinem Officier, und griff nun mit einer Kälte und Besonnenheit an, daß die Feinde den Muth verlohren, und sich zurück zogen. Bald eilten mehrere Preußen herbei, trieben die Feinde in die Flucht, und der Officier war befreiet.

Du hast mir das Leben gerettet, Frick! sagte der Officier, und schloß den blutenden Frick an seine Brust. „Ich habe mein Wort gelöst!“ erwiederte dieser. Sie sprengten zurück, und der Officier trank sogleich mit seinem Retter auf ewige unveränderliche Freundschaft im Leben und Tode. Von diesem Tage an waren sie unzertrennlich. Jetzt erst erzählte Frick dem Officier seine Begebenheit mit Julien offenherzig. Sein Freund wagte es kaum, gegen seine Liebe, oder vielmehr gegen seine Absicht, Julien zu heirathen, einige Erinnerungen zu machen; denn er sah, wie heftig Fricks Leidenschaft für das schöne und reitzende Mädchen war.

Julie selbst wendete allerlei dagegen ein, als Frick den Wunsch äußerte, sich sogleich mit ihr trauen zu lassen. Sie verlangte, er sollte warten, bis er Officier wäre; und da auch sein Freund hierzu rieth, so mußte Frick seinen Wunsch wohl aufgeben.

Der Feldzug ging zu Ende, ohne daß Frick Lieutenant geworden war. Die Officier fingen nun an in den Winterquartieren sich von den Beschwerlichkeiten des Sommers zu erholen. Man tanzte, spielte, machte Musik, und stellte Gastereien an. Die schöne, heitre, angenehme Julie wurde zu allen Lustbarkeiten eingeladen, und versäumte keine. Frick spottete Anfangs über ihren Hang zu solchen Vergnügungen; doch bald wurde er ernsthafter. Julie sagte: ich bin dir treu; aber warum soll ich des Lebens nicht genießen? Und wirklich blieb sie ihm treu, so lustig sie auch bisweilen werden konnte, und so unbesonnen sie an manchem Abentheuer der Officier Theil nahm.

Frick konnte der Subordination wegen nicht in allen den Gesellschaften seyn, zu denen Julie gezogen wurde. Er bat sie dringend, da weg zu bleiben, wo er selbst nicht hinkommen dürfte. Aber, lieber Frick, sagte sie lachend; so laß mich doch heiter leben! Ich bleibe dir ja treu. – Frick schwieg, und verbarg seinen Verdruß. Er bat nun seinen Freund, Julien überall zu begleiten, wo er selbst nicht seyn könnte; und sein Freund versprach es. Julie spielte, verschwendete, stellte ebenfalls Gastereien an; denn sie glaubte, wie immer, ihr Geld würde kein Ende nehmen. Dazu sagte nun Frick gar nichts, weil er von allem ihrem Gelde nie etwas angerührt hatte, und auch nichts davon anrühren wollte. Er lebte sehr einfach; sein Sold reichte für seine und Juliens Bedürfnisse, die Beute, die er machte, zu Juliens Vergnügen. – „Julie“, sagte er nur: „du gewöhnst dich an Dinge, die ich dir nicht werde geben können; und dann wirst du aufhören mich zu lieben!“ Julie lachte. Bin ich je eigennützig gewesen, lieber Frick? Will ich nicht gern alles mit dir theilen? Laß es gehen! Ist mein Geld, das du ohnehin hassest, ausgegeben, so esse ich mit dir, wenn es seyn muß, Kommißbrot. – Sie verschwendete fort, und hatte von ihrem Gelde bald nichts mehr übrig.

Fricks Freund, der Lieutenant, war immer ihr Begleiter, und, wenn sie zu Hause blieb, ihr Gesellschafter. Er kam meistens schon Morgens früh, und sah die schöne Julie, – Fricks enges Stübchen litt es nicht anders – wenn sie kaum aufgestanden war, in ihrem leichten, reitzenden Nachtanzuge. So saß sie, wenn Frick im Dienste seyn mußte, ganze Morgen mit ihm allein, und plauderte, oder sang ihm vor. Er blieb, wenn Frick die Wache hatte, bis spät Abends bei ihr, weil sein Freund ihn darum gebeten hatte.

In der That eine gefährliche Lage für einen jungen Husarenofficier, der kein Held in der Tugend war und von Julien wohl keinen großen Widerstand befürchten mußte. Anfangs ging Alles recht gut; er ehrte seines Freundes Liebe und Eifersucht, weil er wußte, wie viel Julie ihm war, und daß auch diese ihren Frick liebte. Aber nun hatte Julie ihr Geld verschwendet, und mußte ihre Ringe, ihre Uhren verkaufen. Mit Freuden legte Frick ihr seine aufgesparte Beute in den Schooß. – O, wie gut bist du, lieber Frick! sagte Julie. „Ich bin es“, erwiederte er bedeutend; „aber sey du es nur auch!“ Julie wurde wirklich etwas sparsamer; doch lange reichte auch sein Geschenk nicht.

„Nun Julie“, sagte Frick; „nun sind wir, wo du sagtest. Jetzt theile ich mit dir, was ich habe.“ Er schrieb jetzt ab, that Wachen für Andre, und nahm, was er so ungern that, von seinem sehr reichen Freunde kleine Geschenke, um Julien mehr als seinen Sold geben, und sie zuweilen mit irgend etwas überraschen zu können. Aber, was war das alles für die verschwenderische, leichtsinnige Julie! Die Officier wollten ihr ehemals Geschenke machen, und sie schlug alles aus. Jetzt nahm sie, was man ihr anbot, und nahm es heimlich. Frick merkte das, und sprach sehr ernsthaft mit ihr darüber. Julie unterließ es dennoch nicht, und es gab einige Male Scenen, bei denen sie vor Unmuth und Reue Thränen vergoß.

Frick war von jetzt an übel gelaunt. Er fühlte, daß er für Julien alles zu thun im Stande war; und sie that so gar nichts für seine Ruhe. Voll Verdruß über ihren Leichtsinn machte er ihr Vorwürfe, und versöhnte sich wieder mit ihr, weil er sie, trotz allen ihren Fehlern, mit heißer Leidenschaft liebte. Julie aber? Die befand sich nicht mehr wohl bei ihm, weil er ihr die Freuden des Lebens nicht gönnte.

Schon längst hatte sie an des Lieutenants Blicken bemerkt, daß sie ihm nicht gleichgültig war. Noch dachte sie nicht daran, ihrem Geliebten untreu zu werden; aber – sie wollte nach ihrer Weise leben. Der Lieutenant machte ihr mehr als Eine sehr theure Galanterie, und es lag ihr daran, den freigebigen Mann zu behalten. Schon sonst war sie in ihrem Betragen frei gewesen, und der Umgang mit dem sehr sinnlichen und oft sehr ungesitteten Generale hatte sie noch mehr dazu gemacht. Sie wurde gegen den Lieutenant freundlicher als jemals, drückte ihm die Hände, und zog ihn dadurch immer stärker an sich. Nun fing sie an zu bemerken, daß der Lieutenant ein junger, schöner Mann war, und, was noch mehr sagen wollte, heiter, jovialisch, nicht halb so ernst wie Frick. Sie wurde nun immer vertraulicher und lockender. Der junge Officier kämpfte, so schwer es ihm auch wurde, lange gegen diese Zauberin, und nahm sich sogar vor, weg zu bleiben; allein selbst Frick bat ihn angelegentlich, seine Besuche fortzusetzen. Er kam wieder, taumelte von Schritt zu Schritt, erkaufte jeden Genuß mit den bittersten Vorwürfen seines Herzens, und ging dennoch den Weg des Lasters fort. – Er hat dir das Leben gerettet! sagte sein Gewissen. Und du, sagte die böse Lust, rettest ihn vielleicht von einer Frau, die über kurz oder lang sein Unglück machen muß. – Er vertrauet dir seine Geliebte! sagte die Ehre. Braucht er zu wissen, daß sie ihm nicht treu ist? lispelte die Begierde. – Sie wird ihn mit einem Andern betriegen, und dann wird man noch obendrein seiner spotten! setzte die Heuchelei hinzu. – Auch ist es ja so weit noch nicht! flisterte die Falschheit.

Der junge Mann kämpfte und wurde nach jedem Siege, den er erkämpft zu haben glaubte, immer schwächer. Eines Abends, als Frick auf Kommando nach Fourage gemußt hatte, war der Lieutenant wieder bei Julien, und diese sehr lockend gekleidet. Er saß neben ihr, und hatte den Arm um den schlanken, weichen Leib geschlungen, während daß sie mit süßer, schmachtender Stimme Liebeslieder sang. Der Lieutenant schneuzte zitternd das Licht, und es erlosch. Der unglückliche Frick! Das Verbrechen an Liebe und Freundschaft wurde begangen.

Die Furie folgte dem Verbrechen auf der Ferse. Julie war nie bei einer Untreue so unruhig gewesen wie bei dieser. Sie rieb sich die Stirn wohl hundertmal glatt; doch die Falten kamen immer wieder. Nun, sagte sie endlich lachend, was habe ich denn Großes gethan! Ist es doch, als ob ich jemanden ermordet hätte! Aber das Lachen wollte gar nicht gelingen. Auch der Lieutenant ging finster und unruhig umher. Er mochte sich entschuldigen, wie er wollte, die Vorwürfe, die auf seinem Herzen lagen, blieben gleich drückend. Er nahm, als Frick wieder gekommen war, auf einige Tage Urlaub, weil er dessen Anblick nicht aushalten konnte. Gern hätte er auch dem Andenken an die Freuden, die Julie ihm gegeben hatte, entfliehen mögen.

Die erste lasterhafte That ist wirklich schwarz; die zweite hat schon eine hellere Farbe. Der Lieutenant sah Julien wieder; man blickte sich an, erröthete, vermied einander, suchte sich dann, besprach sich über die Einwürfe, welche das Gewissen gemacht hatte, und der arme Frick wurde aufs neue betrogen. Frick merkte nichts. Seine Treuherzigkeit machte beide dreister, und sie gingen jetzt bei ihrem Betruge planmäßiger zu Werke. Julie war gegen den betrogenen Mann zärtlicher, und der Lieutenant freundschaftlicher als je. Sie wurde sogar eingezogener, um einige Officier zu vermeiden, die ihre Untreue an Frick vermutheten, und sich nun Freiheiten bei ihr erlaubten, die zu dulden sie doch nicht tief genug gesunken war. Frick sah ihre größere Eingezogenheit, und freuete sich darüber. In der heitersten Stimmung ging er Geschäfte halber zu einem Rittmeister, der gerade ein Glas zu viel getrunken hatte. Lieber Frick, sagte dieser nach einigen Neckereien; ich will Ihnen ein Räthsel vorlegen: welchem Thiere wachsen die Hörner erst, wenn es alt ist? (Frick wußte es nicht.) Nun, ich will es Ihnen sagen, mein Schatz. Einem Hahnrei: so einem Thiere, wie Sie und wir Alle werden. – „Wie ich? Herr Rittmeister!“ – Mein Schatz, wie Sie, sage ich. Alles in der Welt greift doch in einander! Sie retten dem Lieutenant, Ihrem Busenfreunde, das Leben, und er schenkt Ihnen dafür – zwar kein Königreich, das hat er nicht, aber eine Krone auf die Stirn. – „Herr Rittmeister, der Lieutenant ist mein Freund!“ – Ja, ja, mein Schatz, auf Ehre! das ist er: besonders wenn Sie nach Brot oder Fourage reiten; dann schläft er bei dem Allerwelts-Mädchen. Aber Geduld! sie wird auch den krönen, dann den Dritten, und so weiter. Auf Ehre, mein Schatz, wenn es so fortgeht, so kann noch das ganze Officier-Corps an die Reihe kommen; und dann wird man unser Regiment mit Recht die Kronhusaren nennen.

Frick wurde bleich. Sie werden ja so blaß, mein Schatz! fuhr der Rittmeister mit gelähmter Zunge fort. Je nun, eine Hand wäscht die andre. Sie wuschen die Hand Ihres alten Generals; der Lieutenant wäscht die Ihrige, und so wird es fortgehen. Auf Ehre! so wird es! Geben Sie Acht.

Frick ging mit zerbrochenem Herzen. Noch immer hing er an Julien mit unbeschreiblicher Innigkeit, und lebte nur für sie. Er hatte ihr alles aufgeopfert, hatte dem Lieutenant das Leben gerettet; und eben diese beiden Menschen betrogen ihn schändlich. Ihre höllische Undankbarkeit, die aber bei ihren Charakteren ganz natürlich war, erfüllte sein Herz mit kaltem Grimme und Menschenfeindschaft. Erst wollte er sich von seinem Unglücke überzeugen. Und was dann? – Rache, Blut! Seine Seele war ein Raub der wüthendsten Verzweiflung. Doch zuweilen glaubte er wieder einen Augenblick an die Treue Juliens und seines Freundes; darum wollte und mußte er Ueberzeugung haben.

Unverzüglich ging er zu dem General, und erbat sich auf zwei Tage Urlaub. Er erhielt ihn, und zwar in Gegenwart seines Freundes, der nun Arm in Arm mit ihm nach Hause ging. Frick sattelte, umfaßte Julien, drückte seinen Freund an sein Herz, und sprengte mit Thränen in den Augen fort.

Er ritt nach dem nächsten Dorfe, blieb da bis des Abends spät, gab sein Pferd der dort stehenden Wache in Verwahrung, ließ sich eine Laterne geben, und ging so, mit den beiden geladenen Pistolen in der Hand, wieder nach Hause. Erst schlich er auf den Hof, und horchte; alles war still. Nun öffnete er leise die Thür seines Zimmers, und trat mit der Laterne an das Bett. Da lag Julie schlafend in den Armen seines Freundes.

Man denke sich die Empfindung des so fürchterlich betrogenen Unglücklichen! Er sank in einen Stuhl am Bette, setzte die Laterne auf den Tisch, und blieb einige Minuten in der starrsten Verzweiflung sitzen. Mit aufgehobenen Händen rief er dann das einzige Wort: Gott! – Davon erwachten Julie und ihr Buhler.

Um Gottes willen! riefen sie Beide mit Schrecken, als sie sahen, daß Frick vor ihnen stand. Der Lieutenant machte eine Bewegung, als ob er aus dem Bette wollte. – Bleib! rief Frick, und hielt ihm die Pistole entgegen. Der Lieutenant murmelte zitternd einige Worte. Nur das Leben schenke mir, lieber Frick! jammerte Julie mit gefalteten Händen. Frick schien nichts zu sehen und zu hören. Endlich wendete er sich von ihnen ab, blickte gen Himmel, und sagte schmerzlich: „ach Gott! mit Beiden habe ich mein Herz getheilt! und sie konnten mich betriegen! ... Elende!“ rief er mit fürchterlicher Stimme, mit rollenden Augen, und hob die Pistole auf. Julie und der Lieutenant sprangen aus dem Bette, und sanken zitternd ihm zu Füßen. Nur das Leben! rief Julie. „Leben?“ sagte Frick; „unter Teufeln leben? Fort!“ Schnell setzte er die Pistole an seine Stirn, drückte ab, und sein Gehirn flog, mit Blut vermischt, umher. Julie sank in Ohnmacht, und auch der Lieutenant lag betäubt da, ohne zu wissen, wie ihm geschehen, und wer getroffen war.

Auf den Schuß kamen Menschen herbei, und drangen in das Zimmer. Man rief nach Licht, weil Frick im Fallen den Tisch mit der Laterne umgerissen hatte. Der Lieutenant kam unterdessen wieder zu sich, und schwankte halb nackend aus dem Hause, ohne daß ihn jemand bemerkte. Als endlich Licht gebracht wurde, öffnete auch Julie die Augen wieder. Fricks Leichnam lag mit der zerschmetterten Stirn auf ihrer offnen Brust, die sein Gehirn und sein Blut befleckten. Man sah sogleich, daß Hülfe hier unmöglich war, da der Schuß das ganze Gehirn zerschmettert hatte. Julie richtete sich bleich und zitternd auf, und konnte kaum stehen. Jetzt erblickte sie das blutige Gehirn an ihrer Brust, schrie laut, und sank zum zweiten Male in Ohnmacht. Man brachte sie auf das Bett, und wischte ihr die Brust ab.

Noch wußte niemand, was vorgefallen war. Julie sprach irre, als sie wieder zu sich kam. Der Auditeur des Regiments wurde geholt. Aus Juliens einzelnen Worten – Verwünschungen gegen sich und den Lieutenant – begriff er sehr bald den Zusammenhang der schrecklichen Begebenheit, und ging nun zu dem Lieutenant. Dieser war todtenbleich, ganz von Blut bedeckt, und erzählte mit heftigen Vorwürfen gegen sich selbst die Geschichte, und den Antheil, den er daran hatte.

Der General mußte die Familie des Lieutenants schonen; die Sache wurde daher unterdrückt, obgleich jedermann sie wußte. Man deutete Julien an, daß sie das Kantonnirungsquartier verlassen sollte. Sie war außer Stande, etwas zu verstehen, und noch viel weniger konnte sie reisen. Bleich und zitternd saß sie unbeweglich da, betrachtete mit Schauder die Stelle ihres Busens, welche Fricks Gehirn bedeckt hatte, und rief in diesem fürchterlichen Zustand den Nahmen: Frick! tausendmal mit tiefem Schmerze. Der General drang darauf, daß sie weg sollte. Ein Officier setzte sich nun mit ihren Sachen in einen Wagen, und brachte sie einige Meilen rückwärts in ein Städtchen. Hier schenkte er ihr noch eine Börse mit Geld, die der Lieutenant ihm für sie gegeben hatte, empfahl sie dem Gastwirthe, bei dem er abgetreten war, und fuhr dann wieder nach seinem Kantonnirungsquartiere.

Fricks treuloser Freund ging stumm, träumend umher, und war mit seltsamen Vorstellungen beschäftigt. Ueberall glaubte er seinem ermordeten Freunde zu begegnen. Einige Wochen nachher rückte das Regiment gegen den Feind, und gerieth an die Russischen Husaren, bei denen Frick gestanden hatte. Als der Lieutenant bei einem Vorpostengefechte dies sah, weckte ihre Uniform Fricks Bild doppelt lebhaft in seiner empörten Phantasie. Ha! rief er laut: Frick! Frick! kommst du? Er sprengte wild zwischen die Feinde, und wurde niedergehauen. Das letzte Wort, das er sprach, war: Frick!

Die unglückliche Julie lag in dem Wirthshause fast ohne Verstand. Sie konnte nichts denken, als den schauderhaften Anblick des Unglücklichen, der mit zerschmettertem Gehirn auf ihrer Brust gelegen hatte. War sie nur einen Augenblick allein, so schrie sie fürchterlich auf, weil sie zu sehen glaubte, wie ihr betrogener Freund sich aufs neue blutig über sie hinstürzte. Das Leben, und alles, was es erhalten konnte, war ihr nichts mehr. Ohne Bewußtseyn gab sie ein Goldstück, wo sie eine Kleinigkeit zu geben brauchte; aber dennoch wollte der Wirth sie nicht länger behalten, weil er befürchtete, daß sie sich das Leben nehmen möchte. Sie mußte das Haus verlassen, und irrte nun ein Jahr lang, etwa zwanzig Meilen weit in die Runde, umher. Die Zeit linderte endlich ihren Schmerz, ihre Verzweiflung; als sie aber nun wieder zur Besonnenheit kam, war ihr Geld ausgegeben, ihre Gesundheit zerstört, ihre Schönheit verblühet.

Sie hatte keinen Zufluchtsort, und wagte es nicht, ihr Auge zum Himmel aufzuheben. So irrte sie, in Lumpen gehüllt, umher, von inneren Vorwürfen gemartert, von den Menschen verstoßen. Tausendmal wünschte sie sich den Tod; aber nur mit Zittern: denn jenseits des Grabes stand der blutende Frick. So trieb die rächende Furie sie endlich bis in die Altmark; und hier fand sie bei Iglou und Flaming Hülfe.

Das Unglück hatte die leichtsinnige Julie so verwandelt, daß sie Gott ernstlich dankte, als endlich ein Mensch sich ihrer annahm. Aber sie fürchtete, von Iglou erkannt und dann wieder in ihr Elend gestoßen zu werden; darum sprach sie so wenig als möglich, und gab, als Iglou wegen ihrer Begebenheiten in sie drang, sich einen falschen Nahmen, um nur, so lange die Lüge dauern würde, der Pflege zu genießen. Iglou erkannte sie wirklich nicht; denn Elend und Verzweiflung hatten alle Spuren von Schönheit an Juliens Körper vertilgt. Das helle, blaue Auge starrte jetzt erloschen in seiner Höhle; die feine Nase war spitz und knöchern geworden; die ehemals so frischen Lippen hingen blaßblau um die gelben, langen Zähne, die sonst klein und weiß, wie eine Reihe Perlen, da standen. Die Haut war trocken, unrein und gespannt; die Röthe der Wangen verschwunden; die Arme eckig, hager; die Gestalt lang und dürftig.

Selbst der Kummer in Juliens Gesichte entstellte sie. Es war nicht der freundliche Gram, der um Hülfe flehet und Geduld scheint, sondern ein finsteres, mißtrauisches, in sich verhülltes Wesen. Auch ihre Sprache hatte sich verändert. Es war nicht mehr jene wohltönende, sichere, sondern ein ängstliches, scheues Hervorstoßen der Worte aus der Kehle. Woran hätte Iglou nun die Unglückliche erkennen sollen?

Sobald Julie merkte, daß man sie nicht erkannte, verminderte sich ihre Aengstlichkeit. Sie fing an mehr zu sprechen, und erzählte, anstatt ihrer Geschichte, einen Roman, den aber Iglou nicht glaubte, weil offenbare Widersprüche darin lagen. Die scharfsichtige Iglou sagte von ihr: sie ist ein zweideutiges Geschöpf, das ein Verbrechen auf der Seele hat; doch – sie ist unglücklich. Vielleicht lernt sie von uns den Frieden der Tugend kennen und lieben.

Julie erholte sich einigermaßen; aber ihr scheues, mißtrauisches Wesen verlor sich nicht. Der Arzt erklärte sie für körperlich gesund. Ihre Krankheit, mein Kind, sagte er zu Julien, liegt in der Seele; und für die ist kein Arzt auf Erden. Aber guten Rath könnte ich Ihnen geben, wenn Sie Zutrauen zu mir hätten. (Julie erröthete und zitterte.) Sie haben etwas auf Ihrem Gewissen! – Julie wurde bleich. Sie wollte leugnen; aber der Arzt faßte ihre Hand, ging mit ihr an das Fenster, sah ihr starr ins Auge, und sagte mit majestätischem Ernste: da sehen Sie hinaus an den Himmel! Ich bin ein Mensch; mir brauchen Sie nichts zu gestehen. Aber dort wohnt Ihr Richter und Retter, wenn Sie ihm trauen. – Juliens Hände flogen vor Zittern; ihre Zähne stießen zusammen, und ihre Blässe nahm zu. Sie sah mit wilden Augen gen Himmel, und stieß leise heraus: mein Richter! – Ihr Retter! sagte der Arzt. Sie schüttelte ängstlich den Kopf. Iglou faßte ihre zitternden Hände, legte das sanfte, mitleidige Gesicht auf ihre Brust, und wiederholte versichernd: „dein Retter, liebe Unglückliche! gewiß dein Retter!“

Julie war tief erschüttert. Ach, rief sie; nein, nein! dies Blut wäscht keine Thräne ab. Sie legte die Hand auf ihren Busen, der von Fricks Blute befleckt gewesen war. – „Reue, liebes Mädchen“, sagte Iglou, „trocknet Ströme von Blut auf. Du wirst noch glücklich werden!“ Iglou bestand nicht länger darauf, Juliens Begebenheiten zu erfahren. Sie glaubte, sich an dieses verwahrlosete Herz näher anschließen zu müssen, daß sie es mit dem Geiste ihrer Ruhe füllen könnte; aber es gelang ihr nicht. Julie konnte nur über ihr Unglück verzweifeln, doch nicht ihre Verbrechen bereuen. Iglou gab die Hoffnung nicht auf, dieses Herz, wie das Herz Ritters Rheinfelden, der Tugend wieder zu gewinnen, und bestürmte daher Julien mit Liebe und Mitleiden; aber die gute Iglou wußte nicht, daß man einmal die Tugend gekannt haben muß, um sie aufs neue zu lieben.

Julie fühlte sich wirklich von Iglou's Tugend besiegt. Sie sah die Zufriedenheit der glücklichen Familie, und sie, die ehemals so reitzende Julie, war gezwungen, die häßliche Schwarze um ihr Loos zu beneiden, von dem sie freilich zu gleicher Zeit empfand, daß es ihre Wünsche nicht befriedigen könnte. Julie mußte endlich an den häuslichen Beschäftigungen Theil nehmen, ob sie gleich nicht an Arbeit gewöhnt war; denn sie fühlte, daß man sie, wenn sie müßig ginge, nicht länger im Hause behalten, und daß sie dann ganz verstoßen seyn würde. Sie konnte sich nicht zu der Tugend dieser Menschen erheben – nur ihre Tugend beneiden; und dabei zitterte sie noch immer, daß man entdecken möchte, wer sie wäre.

In einer solchen Stunde voll innerer Pein trat sie einmal aus Zerstreuung an das Klavier, das sie hier noch nie berührt hatte, und machte einige höchst traurige Gänge. Iglou hörte mit Erstaunen zu, und fragte dann: „du spielst das Klavier, Louise?“ (So nannte Julie sich.) Diese erschrak. Iglou bat sie, fortzufahren; und sie mußte, da keine Ausflucht möglich war. Julie sah bald, daß auch ihr Klavierspielen sie nicht verrieth, und es war ihr lieb, daß sie ihr Talent jetzt nicht mehr zu verbergen brauchte. Sie fühlte, was sie vorher noch nicht gewußt hatte, daß Musik der Trost eines gebrochenen Herzens ist, ja, daß sie sogar das Leiden des Verbrechers mildert. Jetzt saß sie stundenlang am Klaviere, und phantasierte. Der Baron sagte: „ihr Verbrechen kann nicht groß seyn, Iglou; wenigstens ist sie nicht liederlich gewesen, wie du vermuthest. Höre nur die richtige Harmonie in ihrem Spiele!“

Endlich entdeckte man von ungefähr auch, daß Julie schön und fertig sang. „Und mit diesen Talenten, Louise“, sagte Iglou, „verzweifelst du an deinem Fortkommen?“ Julie mußte Iglou in ihrem Musik-Unterrichte ablösen, sobald sie die Kunst zu lehren einigermaßen gelernt hatte. Es fehlte ihr nicht an Verstand, aber schlechterdings an aller Anwendung desselben auf den Unterricht. Jede Stunde wurde ihre eben so schwer wie der Schülerin. Doch um so größer war auch ihr Triumph, als es erst nur ein wenig ging; sie hatte ja nun zum ersten Male das Bewußtseyn, durch Arbeit sich selbst ernähren zu können.

Iglou war fast immer zugegen bei dem Unterrichte, weil Julie sonst anfing mit ihrer Schülerin zu plaudern. Sie saß eines Tages vor sich in Gedanken, als Julie am Klaviere sang. Auf einmal kam ihr die Stimme sehr bekannt vor, und fast in demselben Augenblicke stand auch das Bild der reitzenden Julie vor ihrer Seele. Sie horchte, und es dünkte sie immer mehr, als ob sie Juliens Stimme hörte. Nun stand sie auf, setzte sich so, daß sie Louisens Profil sehen konnte; und – auch Juliens Züge waren in dem Gesichte. Jetzt erinnerte sich Iglou an alle die Sonderbarkeiten, die Julie Anfangs gezeigt hatte, an ihre Bemühungen, sich zu verbergen; und diese blieben ihr nicht mehr unerklärbar. Sie dachte nun auch wieder an einige Worte, die Julien entfallen waren, und die ebenfalls bewiesen, daß diese sie länger kannte.

Iglou wollte Gewißheit haben. Sie hatte ehedem in Berlin mit Julien oft ein Duett gesungen, das diese jedes Mal mit einer auffallenden Cadence endigte. Am Abend, als sie mit Julien allein war, brachte sie das Duett zum Vorschein, und bat sie, es mit ihr zu singen. Julie sang, und schloß gerade so wie ehemals. Nun konnte Iglou nicht mehr zweifeln. Sie faßte Juliens Hand, und sagte: du bist Julie Hedler; nicht Louise! Julie wurde blaß, gerieth in Verwirrung, stammelte einige Worte, und fing an zu weinen. Iglou verließ das Zimmer, und Julie blieb allein mit ihrem bösen Gewissen, und mit der Furcht, daß man sie aufs neue verstoßen würde.

Die Thür öffnete sich, und der Baron trat mit Iglou herein. „Julie“, sagte er, nicht in einem zornigen Tone; „ist es möglich? Sie sind es?“ – Iglou bot Julien mit einer Art von Zärtlichkeit die Hand, und sagte: wie froh bin ich, Julie, daß dein Geschick dich zu uns geführt hat! Liebes, unglückliches Mädchen, du sollst noch glücklich werden! – So viele Güte überraschte Julien; sie zerfloß in Thränen, wagte es nicht, das Auge aufzuschlagen, und schwieg, weil sie sich zum ersten Male aufrichtig ihres Lebens schämte. Iglou drückte sie an ihre Brust, und der Baron betrachtete sie mit gutherzigen Blicken. Es war, als hätte man eine geliebte Wohlthäterin, eine theure Freundin, wiedergefunden.

Julie fing an sich über die Zerstörung von Zaringen zu entschuldigen. Iglou nahm Flamings Hand, und sagte: das Unglück, das du anrichtetest, gab mir diese Hand. Du hast uns glücklich gemacht. Vielleicht wäre ich nie die Gattin dieses edlen Mannes geworden, wenn du uns nicht in die Verlassenheit, in den Wald, hinaus gestoßen hättest. Unser Unglück wurde unser Glück, und wenn du willst, so soll es auch das deinige werden.

Julie schüttelte ungläubig den Kopf. Wäre es nur das! sagte sie; ach! wäre es nur das! Sie vergeben mir wohl; aber ... – Sie konnte vor Thränen nicht weiter sprechen. Zuletzt drang Iglou mit voller Stärke in sie, und es gelang ihr, Julien das schreckliche Geheimniß zu entreißen. Man kann leicht denken, wie fürchterlich die Unterredung für Beide war. Iglou zitterte eben so sehr wie Julie, und sah nun, als diese ihr Herz aufdeckte, den Geier, der mit ewigen Martern daran nagte; aber zugleich bemerkte sie auch mit Kummer, daß Julie ihr Verbrechen eigentlich nicht bereuete, sondern daß nur das Bild des blutenden Frick sie quälte. Julie klagte mehr den Himmel an als sich selbst. Sie hielt es für ungerecht, daß der Himmel sie mit diesem wilden Menschen zusammen geführt hatte, der über kurz oder lang, selbst wenn sie treu gewesen wäre, sich dennoch würde ermordet haben. Diese Begebenheit war in ihren Augen nur ein Unglück, und doch lag es so schwer auf ihrem Herzen.

Iglou gab sich alle Mühe, sie zu überzeugen, daß ihre Untreue an Frick ein Verbrechen gewesen sey. Julie schwieg; aber sie dachte: nur bei diesem wilden, heftigen Frick konnte sie solche Folgen haben; bei allen andern Männern hätte sie nichts als höchstens einen Zank und einen Bruch der Freundschaft nach sich gezogen. War es meine Schuld, daß er sich sogleich ermordete? – Iglou gab zu, daß Julie nicht unmittelbar an dem Tode ihres Geliebten Schuld gewesen sey; doch suchte sie ihr aufs neue zu beweisen, daß ihre Untreue an ihm immer ein Verbrechen bleibe. Julie schwieg wieder; denn sie fühlte wohl, daß sie und Iglou nicht über die Liebe mit einander streiten konnten. Iglou forderte nun von ihr ein sehr tugendhaftes Leben, voll edler Thaten, voll Güte und Liebe zu allen Menschen, wenn sie ihr Gewissen wieder beruhigen wolle. Julie versprach das zwar; aber heimlich dachte sie: wie kann es die blutige Gestalt versöhnen, wenn ich Andern Gutes thue? wie wird mich das von dem Andenken an sie befreien?

Aus Angst vor dem Bilde des ermordeten Frick, das noch immer lebendig vor ihrer Seele stand, befolgte Julie Iglou's Rath, doch nur äußerlich. Sie fing an, wie Iglou – nicht zu denken, sondern zu sprechen, nahm Theil an den Wohlthaten, die Iglou Unglücklichen erwies, besuchte mit ihr Leidende und Kranke; kurz, sie that Alles, was Iglou that, aber ohne ihr Herz zu haben, und nur, um den fürchterlichen Richter zu versöhnen, der jenseits des Grabes ihr drohete. Bei allem ihrem Wohlthun ohne Liebe wurde sie nur noch unruhiger, weil Iglou ihr Verbrechen nicht verkleinerte, sondern es ihr in seiner ganzen Abscheulichkeit vorstellte. Sie beklagte sich über diese größere Unruhe, und Iglou sah nun wohl, woran es Julien fehlte: an richtigen Begriffen von Tugend und Laster, von Recht und Unrecht. Iglou suchte vergebens ihr diese Begriffe beizubringen; sie sah mit Bedauern, daß Versäumung in der Jugend unersetzlich ist. Julie verwechselte immer Tugend mit Abbüßung; ihr Verstand war nicht zu überzeugen, und ihr Herz todt für das Gute.

Iglou mußte sie zuletzt ihrem Geschick überlassen; sie freuete sich indeß, daß Julie sich jetzt wenigstens an Arbeit, an manche Tugenden gewöhnte, und hoffte, daß die Zeit endlich ihre Angst überwinden würde. Freilich erwartete sie nicht, daß Julie noch tugendhaft, wohl aber, daß sie unschädlich, vielleicht nützlich, werden sollte. Auch darin irrte sich Iglou. Die stille, anhaltende Arbeitsamkeit, das ruhige, in Geschäften hinfließende Leben wurde Julien immer mehr zur Last. Es war ihr unmöglich, schon früh aufzustehen, thätig zu seyn, zu unterrichten, und einem herzlichen, nützlichen Gespräche, den Ergießungen des Vertrauens und der Liebe, Geschmack abzugewinnen. Zuverlässig gehört viel Geist und Herz dazu, in der häuslichen Freude sein Glück zu finden. Hätte Iglou Julien irgend eine große, schwere That zur Buße aufgegeben: Julie würde sie verrichtet haben; doch diese ununterbrochene Beschäftigung mit dem Guten, diese kleinen, unbemerkten, fortgesetzten Tugenden, waren ihr zu schwer. Eine solche einförmige Lebensart, solche Entfernung von allem rauschenden Vergnügen, von Prunk und Pracht, erregte ihr die drückendste lange Weile, unter der ihr festester Vorsatz erlag. Sie konnte das Haus nicht verlassen, weil sie nirgends hin wußte; aber sie war darin nicht glücklich, nicht ruhig, nicht zufrieden.

Ihr Herz wurde immer leerer. Sogar ihre Lebensart als Bettlerin war in ihren Augen glücklicher gewesen als die jetzige, bei der sie eben so wenig Sorge als Vergnügen kannte, aber eben daher in vielen unausgefüllten Stunden ein Raub ihrer empörten Phantasie wurde. Religion mußte, wie sie wohl fühlte, für sie etwas Anderes seyn, als Iglou sie lehrte. Sie selbst konnte sich ihr Verbrechen nicht vergeben; sie suchte daher einen Andern, der es könnte, und fand ihn.

Ein Geistlicher in der Stadt, ein heftiger Polterer, predigte einmal von dem Zustande eines Sünders, und Julie war, wie öfter, in der Kirche, weil sie sich nur bei dieser Gelegenheit mit Anstand putzen konnte. Der Prediger beschrieb Juliens Zustand ganz genau. Er sprach von der Angst des Sünders, von den Qualen der Einsamkeit, von den fürchterlichen Vorwürfen seines Gewissens, von den schrecklichen Bildern seiner Phantasie. Nein! rief er: hier hilft nichts, nicht der Trost der zärtlichsten Freunde, nicht Arbeit, nicht Beschäftigung, nicht Thränen der Reue, nicht Buße, selbst nicht gute Handlungen, so lange der Sünder nicht weiß, daß Gott versöhnt ist, und ihm vergeben hat! Julie war tief erschüttert; denn das war gerade ihr Zustand. Der Prediger forderte den Sünder auf, die Gnadenzeit nicht zu verscherzen. Er mahlte den Zustand derer, die den Weg der Welt gehen, sich durch Freuden von der rechten Buße, von dem Glauben, von Gott abwenden lassen; und bei dem Allen berief er sich auf die eigenen Gefühle der Sünder.

Julie kam mit größerer Angst nach Hause. Sie fragte Iglou: was heißt Gott versöhnen? Iglou antwortete: werden wie er, liebe Julie; segnen, wohlthun, tugendhaft seyn. Julie fühlte, daß der Prediger etwas Andres gemeint hatte. Er beschrieb in dem erschütternden Beschlusse seines Vortrages die Verzweiflung eines Sünders auf dem Sterbebette. Die Geister der Beleidigten, rief er, werden dann an eurer Seite stehen, euch martern, euer spotten, euch mit wilden Blicken das Unrecht vorwerfen, das ihr ihnen gethan habt. Julie zitterte vor der Erscheinung Fricks, und brachte die Nacht unter Höllenangst zu, weil sie seine Stimme zu hören glaubte. Sie war am Morgen ganz außer sich. Ohne jemanden etwas zu sagen, zog sie sich an, und ging zu dem Prediger.

Sie erklärte ihm weinend, welch eine Wirkung seine Predigt auf ihr Herz gethan hätte. Der Prediger, ein bei allem seinem Eifer sehr redlicher Mann, nahm sie mit Güte auf, und sie erzählte ihm nun ihre Geschichte, sprach von ihren jetzigen Gewissensbissen, und gestand ihre Verzweiflung an Gottes Gnade. Er erschrak: denn er hatte nicht einmal geglaubt, daß so viele Laster möglich wären, und bei seiner Predigt bloß die kleinen Unordnungen in seiner Gemeine vor Augen gehabt. Anfangs wußte er selbst nicht, was er sagen sollte; doch endlich verwies er Julien auf das Beispiel Magdalenens, und fuhr dann fort: wenn sie ferner Buße thäte, so hoffte er, daß Gottes Gnade größer seyn würde als ihre schweren Sünden. Unvermerkt gerieth er wieder in seinen Eifer, betete mit großer Andacht über Julien, hieß sie niederknieen, segnete sie zuletzt ein, und bat sie, bald wieder zu kommen. Julie sagte ihm, was ihre Freundin ihr gerathen habe, wenn sie ruhig werden wolle. – „Und Sie haben keine Ruhe gefunden?“ – Nein; vielmehr bin ich noch unruhiger geworden. – „Sehen Sie wohl? Gott muß erst versöhnt, die Sünde erst vergeben werden. Gebet, meine Tochter! Gebet!“ Er gab Julien ein Gebetbuch für grobe Sünder, rieth ihr, das fleißig zu lesen, und ermahnte sie, ihr Vertrauen auf Gott zu setzen.

Julie ging getröstet von ihm, so wenig sie auch von dem allen, was er sagte, begriffen hatte. Ihr Verstand blieb leer, ihr Herz auch; nur ihre Phantasie wurde mit neuen Bildern gefüllt, gegen welche die älteren an Lebhaftigkeit verloren. Julie fing an zu lesen. Freilich verstand sie von den Gebeten wenig; aber doch so viel, daß jeder Sünder Gnade erlangen könne, wenn er sich vor Gott demüthige. Sie warf sich auf die Kniee, rang die Hände, weinte, und fühlte sich getröstet. Iglou schüttelte bedenklich den Kopf, als sie das bemerkte. Sie versuchte es sogar, Juliens dunkle Vorstellungen aufzuhellen; allein das war alles vergebens: Julie fühlte ja Trost in ihrer Seele, und glaubte nun gewiß, auf dem rechten Wege zu seyn.

Sie besuchte den Prediger wieder, und er füllte ihren Kopf mit dem frommen Unsinne von innerer Ergreifung Gottes durch das Gebet. Dieses fand sie tausendmal leichter als das, was Iglou ihr vorgeschrieben hatte. Sie betete, rang die Hände, besuchte die Kirche, quälte sich selbst betrübt zu seyn, beschäftigte sich mit Bildern ihrer Phantasie, und ging endlich mit zum Abendmahle. Der Prediger sprach sie im Nahmen Gottes feierlich von ihren Sünden los. Julie war nun in einem sehr exaltirten Zustande; sie vergoß Thränen des Entzückens, fühlte sich tausendmal leichter als vorher, umarmte Iglou, und sagte ihr freudig: jetzt sey sie ihrer Sünde entledigt. Iglou selbst weinte und freuete sich mit, ob sie gleich die Art nicht billigte, wie Julie zu ihrer Ruhe gekommen war.

Jetzt wurde Julie weniger aufmerksam in der Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten. Sie versäumte keine Kirche mehr, saß täglich einige Stunden hinter dem Gebetbuche, und machte sogar die Bußpredigerin gegen den Baron und dessen Mutter, doch nicht gegen Iglou, bei der sie nicht den Muth dazu hatte. Nach und nach nahm sie alle ihre Fehler wieder an, nur in einem frommen Gewande. Sie wurde leichtsinnig, plauderhaft, hatte wieder allerlei seltsame Einfälle, und buhlte in der Kirche mit einem Gedankenbilde, da sie nicht mehr mit Menschen buhlen durfte. Alles Geld, das sie erhielt, verwendete sie darauf, ihre Gebetbücher recht zierlich einbinden zu lassen. Sie spottete jetzt über die gottlose Welt wie vorher über die Tugend. Endlich kamen einige Züge ihrer ehemaligen Schönheit zurück. Nun kleidete sie sich wieder sehr nett, doch immer wie eine Heilige. Ein feines Tuch ging ihr bis an das Kinn, um Hals und Brust den Augen der Weltkinder zu verbergen, aber bei dem allen sorgte sie dafür, daß man ihren schönen Busen wenigstens errathen konnte. Der Prediger empfahl sie einigen frommen Familien, und diese drangen nun darauf, daß sie sich von Flamings Hause trennen sollte. Sie weigerte sich; doch bald gab sie nach, da der Prediger es ihr zur Gewissenssache machte.

Die heilige Julie ging in des Predigers Hause aus und ein. Ein alter Hagestolz, den seine Sünden ebenfalls in den Schooß dieses ehrlichen Mannes getrieben hatten, traf sie da oft, und ihr andächtiges, weißes Gesichtchen reitzte noch einmal seine Sinnlichkeit. Er sagte dem Prediger seine Gedanken. Dieser war nicht dagegen, und in kurzer Zeit hatte er die Freude, die Hände der beiden bekehrten Sünder zusammen zu fügen.

Juliens Mann wollte nach einem Jahre verzweifeln: so quälte ihn seine andächtige Frau mit ihrer Verschwendung, mit ihrer frommen Eitelkeit. Sie betete, zankte, sang ihn zum Hause hinaus, und wurde die Geißel der Stadt, da Niemand frömmer, aber auch verläumderischer war als sie. Julie gebar einen Sohn, und nach ihrem Wochenbette verdoppelte sich ihre Andacht. Der ehrliche Prediger schüttelte den Kopf, als sie das erste Mal wieder gebeichtet hatte, und seufzte: ach, der alte Adam sitzt, wo er sich erst eingenistet hat, doch gar zu fest! Auch ihr Mann, der alte, schwächliche Hagestolz, schüttelte den Kopf, so oft er seinen Sohn sah. Julie dachte gar nicht mehr an ihre schreckliche Begebenheit mit Frick, einmal kurz vor ihrer Entbindung ausgenommen, wo sie alles Schießgewehr durch den hübschen Bedienten, den ihr Mann hielt, aus dem Hause bringen ließ. Glaubte sie etwa, daß auch ihr Mann sich erschießen könnte? – Kurz, Julie war wieder die vorige, nur in der Gestalt einer Betschwester; doch als sie älter wurde, legte sie einen Fehler ab: sie verschwendete nicht mehr, sondern wurde unbeschreiblich geitzig. Sie sprach ihrem Manne immer von dem Wunder vor, daß Gottes Gnade größer sey als alle Sünden, die ein schwacher Mensch täglich begehen könne, und hungerte ihn dabei zu Tode. Ihr Sohn hätte sie in ihrem Alter durch seine Verschwendungen beinahe wieder an den Bettelstab gebracht; sie verfluchte ihn, als sie seine Schulden bezahlen mußte, und mitten in dem Abzählen des Geldes wurde sie von einem Schlagflusse getroffen, der sie in Kurzem tödtete.

Iglou sagte, als sie ihre Entdeckung mit Julien gemacht hatte, zu ihrem Manne: ist dir der Generalbaß noch der Gewährsmann der Tugend? Der Baron wagte es nun doch nicht mehr, das zu behaupten. „Höre, liebe Iglou“, sagte er: „meinetwegen erziehe unsern Sohn, wie du willst; denn Gott mag wissen, woher es kommt: mir geht doch alles unglücklich. Es ist, als hätte sich die ganze Welt verschworen, daß ich Unrecht haben soll in Allem, was ich sage und thue. Sieh, Iglou, was ich je behauptet habe, das behaupteten vor mir auch schon andere Menschen, und niemand focht sie an. Aber öffne ich nur den Mund, so steht auch schon jemand da, der das Gegentheil von dem, was ich vorbringe, sagen will. Hans Jakob Rousseau behauptet: ein Dummkopf schreibt lange Briefe. Die ganze Welt liest sein Buch, und schweigt. Ich behaupte es nicht einmal, höre nur auf zu schreiben; und mir kostet es meine Braut. Doch das war nur das kleinste Unglück, da ich dich dafür bekommen habe.“

Lieber Flaming, eben daß du nicht nur behauptest, sondern auch thust, erregt dir den Verdruß.

„Aber, liebste Iglou, soll ich denn etwas behaupten, das ich nicht für wahr halte? Und sind denn die Philosophen nicht Schurken, wenn sie Dinge in die Welt hinein schreiben, die sie selbst nicht glauben?“

Nur eitle Menschen, lieber Flaming; keine Schurken. – Die Wahrheit ist so einfach, daß jeder spitze, ungewöhnliche Satz sogleich Zweifel an seiner Richtigkeit erregen sollte. Auch du, lieber Flaming, wolltest glänzen; aber du warst zu ehrlich, etwas zu sagen, das du nicht als wahr fühltest. Du überzeugtest dich immer zuerst von deinen Behauptungen, und handeltest dann darnach.

„Nun, Iglou, ich will einmal alles so einfach denken, und gerade eben so ansehen wie jeder andre Mensch. Ja, das will ich; gerade so urtheilen so handeln, wie der allereinfältigste Mann.“

Sieh, lieber Flaming, nun bist du schon wieder auf einem andern Abwege. Man muß nicht wie der große Haufe denken, aber auch nicht allein stehen wollen. Die Mittelstraße ist die beste; ihr soll der Mensch folgen.

„Nein, Iglou, der Wahrheit!“

Nun, eben die liegt in der Mitte.

Der Baron mochte indeß sagen, was er wollte, er hatte nie so wenige Plane gemacht als in diesem Zeitpunkte, und war eben deshalb glücklicher, ruhiger als je. Faßte er auch einmal irgend einen auffallenden Gedanken bei einem Schriftsteller auf, so sagte er ihn doch zuerst Iglou, und sie hatte gewöhnlich das Glück, ihm zu zeigen, daß der Gedanke nichts weniger war, als was er schien, paradox, sondern eine ganz bekannte Wahrheit, nur seltsam ausgedrückt. So gingen alle Gelegenheiten, bei denen der Baron etwas Sonderbares hätte unternehmen können, glücklich vorüber. Daß er hundertmal den Einfall hatte, Soldat zu werden, um für den großen König zu kämpfen, weil es ihn schmerzte, an dessen bewunderten Thaten nicht Theil zu haben; daß er, so oft ein neues Buch Aufsehen machte, sogleich ein Gegenstück dazu schreiben wollte, Papier zusammen nähete, und den Titel sehr sauber auf das erste Blatt schrieb; daß er eine Zeitlang mit Wolf ganz in der Mathematik lebte; dann zehn Titel und zehn Plane zu Original-Lust- und Trauerspielen schrieb, um der Deutschen Bühne aufzuhelfen: das waren Einfälle, die er einen über den andern vergaß.

Endlich theilte ihm Iglou eine Idee mit, die er mit aller Begierde festhielt: nehmlich, sein eignes Leben zu beschreiben. Sie liebte ihn in der That zu sehr, um ihm seinen Fehler geradezu zu sagen. Doch sie glaubte, wenn er seine Blicke recht aufmerksam auf seinen inneren Zustand richtete, und sich mit den Bewegungsgründen seiner Handlungen bekannt machte, so müßte er nothwendig selbst darauf fallen, daß er bisher immer nur Gespenstern nachgelaufen sey. Eben diese Beschäftigung war ihr selbst äußerst nützlich gewesen. Sie hatte ihr eignes Leben ausführlich beschrieben; allein sie hielt es so geheim, daß auch ihr Mann nichts davon wußte. Die Selbstgeständnisse einiger berühmten Männer hatten sie auf diesen Gedanken gebracht, ob sie gleich von solchen Schriften behauptete, daß sie gewiß die Wahrheit nicht enthielten. Wer Selbstgeständnisse schreibt, sagte sie, und dabei nur die Ahnung hat, daß ein anderer Mensch sie zufälliger Weise sehen könne, sollte das auch erst tausend Jahre nach seinem Tode seyn: der schreibt für diesen Menschen und nicht für sich. Er kann die Wahrheit sagen, kann seine Fehler gestehen, sich sogar Niederträchtigkeiten Schuld geben; aber er wird, wenn er Muth genug dazu hat, doch diesen Niederträchtigkeiten wenigstens eine romantische Farbe leihen. Er schildert einen Teufel oder einen Engel, weil ein Teufel eben so interessant seyn kann als ein Engel, und oft noch interessanter; aber nie sich. Der Mensch will interessiren, entweder durch hohe Tugenden, oder durch große Verbrechen. Es wird dem Selbstbiographen keine Mühe machen, sogar seine Verbrechen zu erzählen; er kann sie ja durch einen Zug von Größe heben, durch einen Zug von Reue mildern, oder durch Erzählung der nachfolgenden Strafe wieder auslöschen. Aber es ist dem Menschen, der sein Leben für irgend einen Leser beschreibt, wohl kaum möglich, zu sagen: ich war (was er doch in den meisten Augenblicken gewesen ist) ein thatenloses Wesen, das der Zufall leitete, und dessen meiste Tugenden und Laster nicht aus Entschlüssen und Vorsätzen, sondern zufälliger Weise entstanden. Er wird alles von sich gestehen, nur nicht, daß er oft sich bloß leidend verhielt, erst hinterher dachte, sah, überlegte, was er hätte thun können. Man will thätig gewesen seyn; das ist die Eitelkeit des Menschen. Die Allermeisten sind es nicht; und gerade das gesteht Keiner.

Iglou hielt Selbstgeständnisse für das Nützlichste, was ein Mensch schreiben könne, wenn er sie bloß für sich aufsetze, aber für das Allerunnützeste, wenn er auch nur seinem vertrautesten Freunde einen Blick hinein zu thun erlaube, oder ihn wissen lasse, daß er daran schreibe. So gut wie gute Romane, sagte sie, können Selbstgeständnisse nicht seyn, weil man ihnen die Farbe des Wirklichen geben muß; es sind also immer schlechte Bücher, die nur jemand liest, der wissen will, ob wohl auch ein anderer Mensch eben so kleinlich und armselig ist wie er selbst.

Iglou hatte an ihrer Geschichte immer nur dann geschrieben, wenn sie zuverlässig wußte, daß sie vollkommen ungestört bleiben könnte. Auch würde niemand etwas davon erfahren haben, wenn sie nicht einmal sehr krank geworden wäre. Sobald sie zu Bette liegen mußte, gab sie ihrem Manne den Schlüssel zu einem ganz geheimen Fache in ihrem Schranke, und bat ihn, ihr ein Buch zu bringen, das in einem Futterale steckte, aber es nicht heraus zu ziehen. Er holte es, und sah, daß auf dem Futterale mit großen Buchstaben stand: „ich beschwöre meinen Mann, meine Kinder, meine Mutter, alle meine Freunde, jeden Menschen, dem die Menschlichkeit werth ist, wenn er dieses Buch findet, (und dies kann er nur, wenn ein schneller Tod mich überrascht hat), ich beschwöre jeden Menschen, dieses Buch sogleich in das Feuer zu werfen, ohne es zu lesen. Es enthält nichts Merkwürdiges, kein Geheimniß, das wichtig genug wäre, den letzten Wunsch eines Sterbenden, das Zutrauen eines Menschen auf Menschlichkeit, deshalb zu täuschen.“

Diese Worte drückten sich tief in Flamings Gedächtniß. Er brachte Iglou das Buch, und sie legte es unter ihr Kopfkissen, um es, wenn der Arzt ihr das Leben abspräche, sogleich zu verbrennen. Als sie wieder gesund wurde, drang ihr Mann in sie, nur ihm zu sagen, was es enthielte. Sie antwortete ruhig: kleine Rechnungen von Wohlthaten, die ich heimlich erwiesen habe, und die ich, wie du weißt, nicht gern bekannt werden lasse. Der Baron war mit dieser Antwort zufrieden, und versprach ihr, wenn sie vor ihm schnell sterben sollte, das Buch ungelesen zu verbrennen.

Flaming ergriff die Idee, seinen Lebenslauf aufzusetzen, wie gesagt, mit großem Eifer. Sobald er den Eingang fertig hatte, las er ihn Iglou vor, und sie hörte lächelnd zu. Er war allen tugendhaften Menschen gewidmet. Iglou sagte lächelnd: nun werden alle tugendhaften Menschen schon wissen, was sie zu erwarten haben: den Lebenslauf eines Tugendhaften! Und gewiß, liebster Flaming, tugendhaft bist du gewesen, dies Papier mag nun enthalten, was es will. – „Was es will? Du scheinst nicht zu glauben, Iglou, daß ich die Wahrheit schreiben werde. Ich will dir aber beweisen, daß ich es kann. In diesem Buche heiße ich nicht Flaming, sondern Richter; und so ist meine Eitelkeit ohne Stimme.“ – Möchtest du dich wohl gern in einer Maske lächerlich machen? möchtest du wohl in einer Stadt, wo man dich nicht kennte, etwas thun, das dir Verachtung zuzöge? – Der Baron begriff nicht, was Iglou mit diesen Fragen wollte. Er schrieb weiter, und las ihr vor. Sie fand überall Stellen, die er nicht deutlich genug entwickelt hatte, und er sah sich nun in der Verlegenheit, ihr manches zu gestehen, wie es war. Nun rückte die Biographie nicht mehr so rasch fort, wie es sein Eifer anfänglich erwarten ließ.

Schon bei dem ersten Bogen kam der Baron zu Selbstgefühlen, zu einer Bekanntschaft mit seinem eignen Herzen, die er ehrlich genug war für nützlich zu halten, die er aber doch seiner Frau gern verborgen hätte. Entstellen wollte er die Begebenheiten um so weniger, da er seiner Mutter versprochen hatte, auch ihr seine Geschichte vorzulesen; und die Motive zu seinen Handlungen brachte Iglou gewöhnlich mit ihren vielen Fragen bald heraus. Kurz, er dachte mit Widerwillen daran, seine Biographie, so wie er sie schreiben mußte, bekannt werden zu lassen. Bald hörte er ganz auf daran zu arbeiten, und sagte zu Iglou: „während daß ich schreibe, flieht die Zeit, in der ich handeln könnte.“ Aber Iglou's Absicht war erreicht. Der Baron hatte doch bei dem Aufsetzen seiner Jugendgeschichte, und durch die Unterredung darüber mit Iglou und seiner Mutter, einsehen lernen, daß der Hauptbewegungsgrund aller seiner Handlungen weiter nichts gewesen war als Eitelkeit, der Wunsch ein großer Mann zu seyn. Er mochte sich heraus zu winden suchen, so viel er wollte, seine Mutter und Iglou brachten ihn dennoch dahin, daß er, wenn auch nicht gestand, doch einsah, er habe immer nur gehandelt, um für einen großen Mann zu gelten. – Und worin, lieber Flaming, fragte Iglou, bestand die Größe, die du liebtest, deren Schein du haben wolltest? Diese Frage veranlaßte neue Erörterungen, neue Fragen und neue Untersuchungen. Man brachte am Ende heraus, daß er nicht die moralische Größe, sondern die Größe im Verstande gesucht habe. In der Tugend, behauptete Iglou mit Thränen in den Augen und mit der innigsten Umarmung, ist nie ein größerer Mann auf Erden gewesen als du!

Man ließ sich nun auf eine neue Untersuchung über den Unterschied der moralischen und der intellektuellen Größe ein; und es fand sich, daß fast jede Erfindung, durch welche Menschen groß wurden, jede Revolution des Verstandes, der Art zu denken, zu philosophiren, die man einem großen Manne zuschreibt, nichts als die Wirkung von tausend Zufällen gewesen ist; daß zu einer Revolution im Reiche des Denkens, die durch den Nahmen eines großen Mannes bezeichnet wird, schon Jahrhunderte vor ihm der Same ausgestreuet war, und daß dieser auch ohne ihn gekeimt und geblühet hätte. So fand man z. B. daß Luther, ohne seine zu der großen Revolution völlig reife Zeit, vielleicht ein unbekannter Mönch geblieben wäre, daß die Reformation ohne ihn, aber er nicht ohne die Reformation das hätte seyn können, was beide waren. Man fand, daß ein großer Mann wohl seiner Zeit bedürfe, aber nicht die Zeit gerade eben dieses Mannes. Der Begriff von Menschengröße wurde bei diesen Untersuchungen um vieles kleiner.

Der Baron erinnerte sich des Postillons, der ihn von Wittenberg nach Düben gefahren hatte. Er hörte jetzt von Iglou gerade eben das, was der, nur einfacher, sagte: daß alles Bemühen nach Größe das Leben gewöhnlich zu einer Reihe verunglückter Unternehmungen und vergeblicher Anstrengungen macht, daß die Eitelkeit, ein großer Mann seyn zu wollen, die gefährlichste von allen ist, weil ein Mensch, dem die Zeit nicht groß werden hilft, den Schein der Größe sucht, auf Paradoxen fällt, oder gar kein Verdienst neben sich leiden will, das Auffallendste behauptet, und zuletzt zanksüchtig, neidisch, intolerant wird.

Der Baron fand sich durch jedes Wort getroffen, und verwünschte den Einfall, seine Lebensbeschreibung aufzusetzen, da man ihm bei dieser Gelegenheit einen so hellen Spiegel vorhielt, worin er seine Gestalt so deutlich erblickte. Aber doch kam er nun zu Betrachtungen, die in der That sehr heilsam für ihn waren; er fand endlich, daß er sein Leben, von dieser Seite angesehen, ganz unnütz zugebracht hatte. Es schmerzte ihn, daß auf einmal das ganze Gebäude seiner Größe einstürzen sollte, und er gab sich Mühe, wenigstens etwas zu retten; doch – die grausame Iglou beleuchtete jede Trümmer desselben, und er selbst mußte gestehen, daß gar nichts Festes darunter sey.

Dies alles erforderte Zeit; aber desto bleibender war auch der Eindruck. In der ersten Hitze wollte der Baron alle seine Bücher verbrennen; er schwor: Plato sey ein Narr, Seneca ein Rasender, Zeno ein Grillenfänger, Aristoteles ein kalter Schwätzer, und Epikur ein Wollüstling. Den einzigen Diogenes nahm er aus, weil er über die Philosophen gespottet hat. Aber warum bist du so böse auf diese Männer? fragte Iglou lächelnd. Sie waren für ihre Zeiten Licht und Sonne. Plato und alle Andren, die du genannt hast, liebten und empfahlen die Reinheit der Seele, die Tugend. Alle trieben die Menschen zu dem letzten, großen Ziele, der moralischen Vollkommenheit: zwar auf verschiedenen Wegen; aber doch zu Einem Ziele. Ihr Eifer für die Tugend, für die Vollkommenheit des menschlichen Geschlechtes, ihr Herz, hebt sie empor; sie werden ewig die Achtung der Menschen verdienen und genießen. Sie waren groß, weil sie Tugend liebten, und den Geist der Menschen um sie her nach dem Maße ihres eigenen Lichtes, mit Gefahr des Lebens, mit Aufopferung ihrer Genüsse, erhellten. Und hätte auch Sokrates seinen Dämon gesehen, mit ihm gesprochen, wäre er ein genialer Schwärmer gewesen: so laß ihn; sein Dämon war von göttlicher Natur. Er trank seinen Schierlingsbecher auf das Wohl der Menschheit aus. Wollte Gott, wir hätten noch viele der großen Männer, die, gleich ihm, Weisheit nicht bloß lehrten, sondern auch hätten, die nicht bloß weise sprächen, sondern auch so lebten! Willst du die Weisheit großer Männer darum verachten, weil sie nicht ewige Weisheit ist; weil Irrthum, Grille und Schwärmerei sie, wie mit einem Nebel, umhüllen? Eben dieser Nebel macht ihre Weisheit menschlich.

Der Baron schwieg nicht ganz zu allen diesen Vorstellungen; aber er konnte doch auch nicht recht viel Treffendes darauf erwiedern, und sie hatten wenigstens die Wirkung, daß er jetzt nicht mehr sogleich mit allen seinen Einfällen hervorrückte, sondern manche erst genauer beleuchtete. Er wurde mißtrauisch gegen sich selbst; und dadurch war bei einem Manne von seiner Art schon viel gewonnen. Noch immer hatte indeß eine Meinung, die jeder andren widersprach, oder etwas Spitzfündiges, etwas ganz Eigenes sagte, seinen entschiedenen Beifall; und diese Schwachheit verlor er nicht, so lange er lebte. Er hielt mit dergleichen nicht mehr so offen auf dem Kampfplatze wie sonst; aber man sah doch an seinem Lächeln, welches Wohlgefallen er an einer solchen Meinung hatte. So würde ihn nichts dahin gebracht haben, die Perser von Aeschylus für ein Trauerspiel gelten zu lassen. Er bewies vielmehr mit den seltsamsten Gründen, sie wären eine Farce, durch welche Aeschylus die Athener habe zum Lachen bringen wollen. Gerade mit einer solchen seltsamen Behauptung hob er gewöhnlich an, wenn ein Fremder ihn besuchte.

Endlich kam der Tag, der Deutschland den ersehnten Frieden wiedergab. Nun machte der Baron sogleich Anstalten, nach seinen verödeten Gütern zu gehen, und schrieb an Lissow, daß er und seine andren Freunde zurückkommen möchten. In Zaringen traf er schon wieder einen Theil seiner Unterthanen an, die in elenden Hütten wohnten, und in der größten Armuth lebten, weil es ihnen an allem mangelte. Der Baron ging gleich nach seiner Ankunft in schweren Gedanken mit Iglou und seinem Knaben auf den Brandstellen umher, und tröstete seine Unterthanen mit Hoffnungen. Er hatte Hilbert gebeten, ihm dreißig tausend Thaler zu leihen, und erhielt sie in Kurzem durch Wechsel. Jetzt wartete er, ehe er anfing bauen zu lassen, nur noch auf die Ankunft des alten Grumbach, um mit dem zu überlegen; doch ließ er in aller Geschwindigkeit eine Art von Bude aufzimmern, um bis dahin eine Wohnung für sich und seine Familie zu haben.

Endlich kamen Grumbach, Lissow, der Prediger und seine Schwester wieder. Der gegenseitige Empfang dieser guten Menschen war ein rührendes Schauspiel. So wie nur die Bauern die freudige Nachricht brachten: unser alter guter Vater kommt! eilten der Baron, seine Mutter, Iglou und ihr Sohn den vier Unglücklichen entgegen, und warfen sich ihnen in die Arme. Lissow hob den Sohn des Barons auf, der jetzt etwa fünf Jahre alt war. „Mein Sohn!“ sagte Flaming. – Dein Sohn! erwiederte der unglückliche Vater, und fing laut an zu weinen.

Grumbach stand lächelnd mitten unter seinen guten Landleuten, und drückte ihnen der Reihe nach die Hände. Sein Lächeln gab ihnen mehr Hoffnung als des Barons Güte und Versprechungen. Iglou nahm Karolinen, die sehr ärmlich, wie eine Dienstmagd, gekleidet war, mit in ihr Zimmer, und gab ihr anständige Kleidung. Den Prediger und Lissowen führte der Baron in seine Wohnung. Der Alte ging sogleich rings umher, und fand überall, selbst auf den wenigen bebaueten Feldern, die sichtbarsten Spuren von Elend. Die Bauern, die ihm folgten, beobachteten seine Mienen, weil sie in seinem Gesichte lesen wollten, welche Hoffnungen sie fassen dürften.

Er wendete sich zu ihnen, und sagte: Kinder, sie haben uns den Boden gelassen; und wenn ihr gut geblieben seyd, so habt ihr nichts verloren, was nicht Fleiß, Nachdenken, gegenseitige Hülfe, Ordnung und Sparsamkeit euch wieder verschaffen könnten. Ich hoffe, noch mit euch eben so glücklich zu seyn, als wir es ehemals waren. – Er ließ sich nun von allen der Reihe nach erzählen, was für Schicksale sie gehabt, und wie sie sich die Jahre hindurch fortgeholfen hatten. Ohne seines eigenen Elendes zu erwähnen, ohne daran nur einmal zu denken, beklagte er das ihrige aufrichtig. Er brachte den ganzen Tag bald in dieser Hütte, bald in jener zu, und ging erst am Abend wieder zu seinen Freunden.

So wie er kam, führte der Baron ihn zu dem Gelde, das er auf Hilberts Wechsel gehoben und noch gar nicht angegriffen hatte. „Hier, lieber Grumbach“, sagte er, „nehmen Sie. Wir alle sind unglücklich; und Sie wissen am besten, wie unserm Unglück abzuhelfen, wie unser Glück wiederherzustellen ist.“ Grumbach erwiederte lächelnd: es ist die Frage, Herr Baron, wozu Sie diese Summe bestimmen. Damit können Sie bald wieder in Ordnung kommen. Freilich werden Sie Anfangs keinen Pallast, aber doch ein bewohnbares Landhaus haben. Auch wird die Summe zureichen, Ihren Viehstand, Ihre ganze Wirthschaft wieder einzurichten. Mit Einem Worte: Sie haben nichts verloren als die Zinsen dieser Summe.

„Sie? Sie? Wen verstehen Sie darunter? doch hoffentlich auch meine armen Unterthanen? Diese Summe, lieber Grumbach, ist Ihre, um den Einwohnern von Zaringen, den Baron von Flaming mit eingeschlossen, aufzuhelfen. Ich brauche eine Hütte, die mich und meine Freunde aufnimmt; aber noch weit mehr den Anblick, daß meine Unterthanen glücklich sind.“

Dem alten Grumbach stürzten Thränen aus den Augen. Er drückte den Baron an sein Herz, und sagte mit freudiger Rührung: edler, edler Mann! ... Ja, nun, fuhr er heiter fort, muß die Rechnung anders werden! Also nicht bloß Sie, auch Ihre Unterthanen sollen glücklich seyn. O Gott, so gieb mir Einsicht, gut Haus zu halten! – Er bat den Baron, fürs erste den Bauern nichts davon zu sagen, daß er sie unterstützen wollte. Durch diese sechs Jahre Elend, sagte er, ist mancher verwildert, und ich möchte Ihnen gern als meine Erbschaft ein Dorf voll glücklicher Menschen hinterlassen, die es aber auch zu seyn verdienten. Der Baron versprach ihm, daß er in allen Stücken völlig freie Hand haben sollte.

Nach einigen Wochen kamen auch die übrigen Zaringer wieder: alle arm, alle durch das lange erlittene Elend muthlos, und manche dadurch auch niederträchtig geworden. Zuerst traf Grumbach Anstalten, die Menschen unterzubringen, und ließ hierzu bretterne Buden aufschlagen. Schon in der ersten Woche machte er sich mit dem Charakter jedes Einzelnen genau bekannt. Einige, die sehr verschlimmert waren, bewog er wegzuziehen, und kaufte ihnen ihre Güter zu einem Preise ab, der alle ihre Erwartungen überstieg. Nun wurden Ackergeräthe angeschafft, und die Felder, so gut es sich thun ließ, bestellt. Das Ackergeräth verlieh Grumbach nur; das Eigenthumsrecht behielt der Baron. Er kaufte auch so viel Schafe und andres Vieh, als er den Winter über ernähren zu können glaubte, und lieh davon jedem Bauer einige Stücke, wobei er den Leuten aber Hoffnung machte, daß sie es vielleicht zu billigen Preisen behalten würden. Sommerkorn, und Nahrungsmittel für den Winter wurden ebenfalls angeschafft, und vertheilt, doch immer nur als ein Darlehn. Die Zaringer wurden nun wieder heiterer; denn so ärmlich auch der Anfang war, so konnten sie sich doch gegen andre Dörfer in ihrer Nachbarschaft glücklich schätzen.

Bald wurde der Grund zu einem weitläuftigen, bequemen Wohnhause für den Baron gelegt, aber nur der eine Flügel ausgeführt, und die Vollendung des Gebäudes bis zu besseren Zeiten verschoben. Auch der Prediger und Karoline wohnten bei dem Baron, da so viel gemeinschaftliches Unglück alle diese Menschen zu Einer Familie gemacht hatte. Sie führten nur Eine Haushaltung, und aßen zusammen an Einem Tische, wie natürlich sehr einfach. Alles war beschäftigt. Die Bauern arbeiteten für einander, und mit dem frühesten Muthe auch für den Baron, da sie sahen, daß er selbst Hand anlegte. Grumbach war der Werkmeister, alle Andern seine Gehülfen. Auch Lissow, der Prediger und Karoline waren immer thätig.

Nach einigen Monathen, die unter den stärksten Anstrengungen verflossen, sah man endlich einige Ordnung, anstatt der bisherigen Verwirrung. Es standen zwei Reihen Scheuern da, die einstweilen zu Wohnungen dienten; der Platz zu den Häusern war aber schon vor jeder Scheuer abgesteckt. Grumbach fing mit dem Nothwendigsten an; zu gleicher Zeit aber dachte er schon an künftige Bequemlichkeiten des Lebens. Er bauete nicht elende Hütten, um sie in besseren Zeiten wieder abreißen zu lassen, sondern nur fürs erste Scheuern, die immer stehen bleiben konnten. Auch von Hausgeräth wurde das Nöthigste angeschafft, und es war beinahe alles gemeines Gut, nicht einzelnes Eigenthum. Die Familien mußten sich nun sowohl zur Arbeit als zum Genusse mit einander verbinden, und lernten durch eine sehr auffallende Erfahrung, wie viel die Menschen vermögen, wenn sie gemeinschaftlich arbeiten, und wie wenig, wenn sie einzeln sind.

In den Stunden der Muße, deren sie bei ihrem wenigen Ackerbau und ihrem geringen Viehstande genug hatten, fällten sie Holz, zimmerten Balken, räumten Schutt auf, trugen Steine zusammen und brennten Kalk. Der alte Grumbach wußte den Bauern deutliche Begriffe von den Arbeiten zu geben, die sie nicht kannten, und brachte ihnen Neigung dazu bei. Recht gerne zeigten die Maurer und Zimmerleute, welche des Barons Haus baueten, diesen geschäftigen Menschen die Handgriffe bei ihrer Arbeit; denn sie liebten den alten Grumbach, der ihnen das Leben leicht machte. So war man den Tag über fleißig, und den Abend versammelten sich Alle zum Tanze. Der Baron dachte nicht mehr an seinen Grundsatz: sey tugendhaft aus reinen Vernunft-Principien; denn er sah zu deutlich, daß die Hoffnung auf den Abendtanz Allen in seinem Dorfe den Tag über Kräfte gab.

An den Arbeiten nahm Lissow Antheil, nur nicht an den Freuden. Sobald Abends die Musik anhob, ging er heimlich weg, in die Gegend, wo das Haus, in welchem seine Kinder verbrannt waren, gestanden hatte. Hier setzte er sich nieder, und weinte Jakobinen und seinen Kindern Thränen des schmerzlichsten Grams. Des armen Lissows Hoffnung lag jenseits des Grabes. Die vergänglichen Töne irdischer Freude fanden in seinem Herzen nicht Einen Ton mehr, der ihnen antwortete. Nur jene himmlischen Töne, die jenseits des Grabes her den Unglücklichen lieblich rufen, und den kummervollen Blick mit sanfter Gewalt in ein andres Leben führen: nur diese Töne brachten sein Herz in eine wehmüthige frohe Bebung, was auch Grumbach dazu sagen mochte.

Vater, ich helfe ja, sagte er, wenn Grumbach ihm einmal Vorwürfe machte; – ich arbeite, als sollte Zaringen meine Heimath für die Ewigkeit werden. Aber soll es mir denn nicht erlaubt seyn, meine Blicke in die Gegend zu werfen, die mein Vaterland ist, die alles enthält, was ich liebe? Soll der Sklav nicht seine Blicke sehnsuchtsvoll über das Meer werfen, das ihn von Weib und Kindern trennt? Wen beleidigt meine Thräne?

„Wen? Jedes heitre Herz! ... Sklav? Welch ein vermessener, übermüthiger Vergleich, Lissow! Darf der Arbeiter im Felde seinen Mitarbeiter muthlos machen, wenn er die Blicke immer auf seine Hütte wendet, immer auf die Sonne sieht, ob sie noch nicht hinunter ist, und ob die Feierstunde noch nicht kommt? Darfst du dir Ruhe wünschen vor der Arbeit? Genuß, ehe du ihn verdient hast? Lissow, Lissow! hat denn der Himmel Alles, was du liebst? Hast du nicht noch diesseits des Grabes deinen Vater, der deine Thränen mit seinem Kummer bezahlen muß? Hast du nicht Freunde, die Ursache haben, sich zu beklagen, daß du so undankbar gegen ihre Liebe bist? Hast du nicht hier im Leben noch immer die Güte des Ewigen an deiner Seite, und sind deine Thränen, deine Seufzer nicht Vorwürfe, die du der Vorsehung machst?“

Die Vorsehung machte mich unglücklich. Kann sie nun meine Thränen ungerecht finden?

„Die Vorsehung? Lissow! Wenn Jakobine noch gelebt hätte, als die Russen Zaringen anzündeten; wenn sie, dies reitzende Weib, ein Raub jener wilden zügellosen Menschen geworden, wenn ihre Kinder vor ihren Augen verbrannt wären – was dann? Hast du nicht selbst oft gestanden, daß die Vorsehung es mit Jakobinen wohl gemacht habe?“

Ach! aber meine unschuldigen Kinder!

„Kann die Vorsehung dir nach einigen Jahren nicht wieder zeigen, daß sie es wohl machte mit deinen Kindern? Und was würdest du dann antworten?“

Ich würde sagen: die Vorsehung konnte sie wegnehmen – aber auch retten.

„Wohl, das konnte sie.“

Sie that es nicht!

„Lissow, sie that es nicht? Kannst du sagen, was Rettung heißt? Ich bitte dich, lästre den Himmel nicht! Wie undankbar bist du gegen den Himmel, der dir Jahre lang das allerhöchste Glück gab: ein Weib wie Jakobine, Kinder wie die deinigen! Kannst du mit dem Himmel rechten, daß er nichts unvergänglich machte? Selbst dein Gram ist es nicht, du Undankbarer; er ist vergänglich, wie dein Glück es war.“

Lissow lächelte wehmüthig. Mein Gram? sagte er; ach, und wenn tausend Jahre über mich hin eilten, er würde noch immer derselbe seyn. Die Zeit macht ihn nur größer. Ich kann nicht wieder glücklich werden!

„Das sagtest du auch an Jakobinens Grabe; und dennoch wurdest du in den Armen deiner Kinder wieder glücklich.“

Sie sind dahin, Vater! O, laß mich weinen, bis Gott sich meiner erbarmt, und mir den Tod sendet. Er allein kann mich glücklich machen. –

Der Mensch ist eben so thöricht im Schmerze wie in der Freude. Lissow klagte die Vorsehung der Härte an; und eben winkte sie ihrem Engel, ihm den Becher des reinsten Entzückens zu bringen. Er glaubte, selbst die Allmacht könne sein Elend nicht mildern; und sie brauchte sein Glück nicht erst wieder herzustellen, nein, ihm nur Stärke zu geben, daß er es ertragen könnte.

An einem Tage waren der Baron und seine Freunde eben vom Tische aufgestanden, und saßen ruhig beisammen. Iglou hatte die Laute genommen, und sang ein Lied der stillen Freude. Da ging die Thür auf, und ein schöner Jüngling führte an seiner Hand ein eben so schönes Mädchen, dessen Gesicht blühend wie die Rose und voll Engelsunschuld war, mit dem edelsten Anstande in das Zimmer. So wie sie herein traten, wendeten Alle ihre Blicke auf das schöne Paar, und standen auf. Das holde Mädchen wurde blaß, der jugendliche Busen schlug vor Angst, und es drangen Thränen aus ihren großen blauen Augen. Das alles geschah in einem Augenblick; und in einem zweiten schwankte das Mädchen, wurde blässer, breitete die Arme aus, und rief in einem Tone, für den die Sprache kein Wort hat, und in welchem sich Schmerz mit Entzücken mischte: o Vater! Vater! Dabei sank sie mit ihrem Bruder vor Lissow auf die Kniee.

Es war als ob plötzlich der Himmel sich in die Gesellschaft herabsenkte. „O gnädiger, barmherziger Gott!“ riefen Alle auf einmal, streckten die Arme aus, und wurden bleich; Iglou und Karoline sanken, von ihrem Gefühle hingerissen, neben den Kindern nieder, und riefen ihnen nach: Vater! Vater! – Vater! Vater! riefen alle Stimmen, und eilten auf Lissow zu, der nach einem Blicke auf seine Kinder anfing zu schwanken, schnell und ängstlich Athem schöpfte, die Arme ausstrecken wollte, und doch nicht Kraft genug hatte, sie zu heben. Er taumelte; Flaming und der Prediger faßten ihn auf. Aber schon in demselben Augenblicke erholte er sich auch wieder, sank zu seinen Kindern auf die Kniee, und blickte nun mit dankenden Thränen gen Himmel. Auch seine Kinder waren von ihren Gefühlen überwältigt, und lehnten sich langsam an seine Brust. Eine rührende Scene voll von einer Seligkeit, für die das Herz der Menschen von Staub zu klein ist! – Alle weinten vor Schmerz, der Freude nicht fähig zu seyn, liefen unruhig zu einander, und suchten in einer Umarmung ihren gepreßten Herzen Luft zu machen, bis endlich ein lautes allgemeines Weinen Linderung gewährte.

Vater und Kinder hielten sich eng umfaßt, Arm um Arm geschlungen, und heiße Seufzer brachen aus ihren übervollen Herzen. Grumbach war der erste, der wieder Besinnung erhielt. Er trat auf den Vater und die Kinder zu; es währte aber lange, ehe er sich Gehör verschaffen konnte. Endlich machte er Jakobinens Hand von ihres Vaters Halse los, und rief mit rührender, noch immer vom Weinen unterdrückter Stimme: hast du denn nicht auch für den Vater deiner Mutter eine Umarmung, Jakobine? Nun blickte sie auf, und legte schwach ihr Gesicht an seine Brust. Grumbach trug sie schnell in einen Stuhl, und rief: ich glaube, deine Tochter ist krank, Lissow! Das wirkte. Lissow flog auf Jakobinen zu, die sich nun, weil sie die Angst ihres Vaters sah, stark machte und aufstand. Er zog sie wieder in seine Arme. Endlich brachte er das erste Wort: Jakobine! hervor, und nun stürzten erleichternde Thränen aus seinen Augen. Grumbach trat unterdessen zu seinem Enkel, und bat ihn zu sprechen, wenn sein Vater nicht vor Entzücken sterben sollte. Der Jüngling wendete sich nun mit einer Frage über die andre an seinen Vater; und so ging die erste verzehrende Freude bei diesem vorüber. Man kam nun immer mehr zur Ruhe, und endlich that der Baron die sehr natürliche Frage: aber, liebsten Kinder, wo seyd ihr denn in den sechs unglücklichen Jahren gewesen?

Auf einmal fragten Alle: wer rettete euch aus der Flamme? wer hat sich euer angenommen? euch erzogen? euch so gekleidet? Die Kinder gaben immer nur die Eine Antwort: Rheinfelden! – Rheinfelden? rief Lissow, und drang wieder mit Heftigkeit vor. Wer rettete euch aus dem Feuer?

Vater, sagte der Sohn; unser Wohlthäter, unser Lehrer, Rheinfelden. Wir standen mitten in den Flammen. Jakobine wollte nicht hinaus, weil ein Husar vor ihren Augen einen Menschen niedergehauen hatte. Unmöglich konnte ich sie allein zurücklassen. Auf einmal flog die Stubenthür auf, und die Flamme schlug herein. Ein Mann, den wir im ersten Schrecken nicht kannten, nahm Jakobine auf seinen Arm, mich bei der Hand, und eilte so mit uns durch die Gluth aus dem Hause. Hinter uns stürzte es ein. – „Und dieser Mann?“ – War der edle Rheinfelden, Vater. – Der edelste, beste Mensch! setzte Jakobine hinzu. Lissow umarmte seine Kinder aufs neue, als ob sie eben erst aus den Flammen gerettet wären. Jetzt erhob sich wieder eine frohe Verwirrung, welcher die Fragen: nun, wie ging es euch weiter? wo bliebt ihr? ein Ende machten. Jakobine und ihr Bruder erzählten nun ihre Begebenheiten, und ihre Augen standen voll Freudenthränen, als sie von ihres Retters Liebe zu ihnen sprachen.

Rheinfelden war mit Lissows beiden Kindern auf seine Güter gegangen. Er erhielt da von Lissow so wenig Nachricht wie von dem Baron. Seine Erkundigungen, die er sogleich, und in der Folge öfter, anstellte, liefen alle fruchtlos ab, weil er sich immer wieder an Menschen wendete, die nicht gern Mühe übernahmen. Er erfuhr nichts durch sie; doch hoffte er, daß bald wieder Friede seyn, und er dann Nachricht von Lissow erhalten würde. Darüber gingen mehrere Jahre hin, die er indeß zum Besten der beiden Kinder benutzte.

Sobald Rheinfelden auf seinen Gütern angekommen war, machte er Anstalt, das Unrecht, das er an Jakobinen begangen, an ihren Kindern wieder gut zu machen, wie er es unterweges sich selbst wohl tausendmal geschworen hatte. Dies war sein einziger Gedanke. Doch fühlte er sich dabei gar nicht beruhigt; vielmehr sagte ihm sein Gewissen: und wenn er auch an den Kindern tausendmal mehr thäte als der sorgsamste Vater an seinen eignen, so würde das sein Verbrechen nicht wieder gut machen. Aber eben dies Gefühl gab ihm nicht nur unbeschreiblichen Eifer für das Wohl der Kinder, sondern es erhielt diesen Eifer auch in gleicher Stärke. Er verließ sie nicht eine Stunde, und war um so lieber bei ihnen, da er sie als die einzige Quelle seines Glückes auf Erden betrachtete. Die lange Einsamkeit und seine seltsamen Schicksale hatten seinem Herzen große Energie gegeben, und gleichsam jede Spur des Irdischen daraus vertilgt. Die Erde mit allen ihren Freuden war ganz vor seinen Blicken verschwunden. Bei der kleinsten Heiterkeit, die nicht unmittelbar mit dem Verlangen seines Herzens, sein Unrecht wieder gut zu machen, zusammenhing, schauderte er; denn er fühlte, daß die Freuden der Erde für ihn aufgehört haben müßten. Immer stand Jakobinens Gestalt vor seiner Seele, und erhielt den erhabenen, obgleich überspannten, Gedanken in ihm lebhaft, daß er nur noch als ein wohlthuender Geist auf der Erde sey, um Gutes zu wirken, und darin seinen Genuß zu finden.

Selbst diesen Genuß verkümmerte er sich durch Grübeln darüber, ob er ihn verdiene oder nicht. Vielleicht zweifelt man, ob er auf solche Art glücklich gewesen sey. Aber er war es gewiß, und wohl tausendmal mehr als Andere, die Genuß an Genuß, und Freude an Freude reihen. Es giebt Herzen, die der Erde ganz entsagen können, und deren innere Sinne schon hier für die Ewigkeit und ihre Freuden aufgehen.

Rheinfelden hatte eine vortreffliche Erziehung bekommen, und war gewiß nicht ohne Tugend gewesen. Man wird sich noch erinnern, welch einen Kampf ihm sein Verbrechen an Jakobinen kostete, und wie viel sein eignes, sonst großmüthiges, edles und hülfreiches Herz bei seiner Leidenschaft litt. Viele Lektüre, ein leichtes moralisches System, umherschwärmendes Leben, und die Bekanntschaft mit einigen elenden Weibern hatten sein Verbrechen veranlaßt. Jakobinens Tod aber, den er nicht fürchtete, und der ihn unvorbereitet traf, erschütterte ihn so durch sein ganzes Wesen, und brachte das Bild der Ewigkeit und eines vergeltenden Richters in so furchtbaren, schrecklichen Zügen vor seine Seele, daß er ein Bösewicht gewesen seyn müßte, wenn er es nur einen Augenblick hätte vergessen können.

Als endlich nur die schrecklichen, betäubenden Schläge seines Gewissens aufgehört hatten, Jakobine nicht mehr wie ein Todesengel vor seiner Seele stand, und er nun einmal den tröstenden Gedanken fassen konnte, daß sie zu versöhnen sey, (und das geschah in dem Augenblicke, da Lissow sagte: Versöhnung!) – mußte nothwendig sein Herz wieder Kräfte zu den höchsten Tugenden, zu den schwersten Aufopferungen erhalten; und alle diese Tugenden, alle diese Stärke seines Herzens verwendete er nun auf Jakobinens Kinder.

Er erzog sie mit noch größerer Vorsicht als die zärtlichste Mutter, bildete ihre Herzen zu jeder Tugend und zu den schönsten Gefühlen, war immer bei ihnen zugegen, und hütete sie sorgfältig vor dem Anblicke des Häßlichen und des Bösen. Kein leichtsinniges Wort, keine zweideutige Geberde befleckte je die reinen Herzen der beiden Kinder. Sie waren ganz unverderbt zu ihm gekommen; durch die Erziehung ihres Vaters und Grumbachs, auch nachher durch das Beispiel der edlen, liebevollen Iglou, hatten sie die ganze Arglosigkeit, die Unbefangenheit der Unschuldswelt behalten. Wohlthun war ja Alles, was sie in ihren früheren Jahren hörten und sahen; und nun zeigte ihnen Rheinfelden aufs neue das Schauspiel einer so umfassenden Liebe und Wohlthätigkeit.

Sie erhielten hier aber nicht nur das Beispiel von Tugend, sondern waren selbst die Werkzeuge von Rheinfeldens Güte. Durch sie half er den Unglücklichen; auf ihre Vorbitte unterstützte er den Armen; sie trugen das Geld, das er ihnen gab, in die Hütten des Kummers; sie empfingen den Dank, den er selbst, als ein Glück, von sich stieß. Ihr ganzes Wesen erhielt bei dieser Erziehung etwas Sanftes, Gütiges, Mildes; ihre Handlungen bekamen den Charakter einer stillen Frömmigkeit. Der Unglückliche, dem sie Wohlthaten erwiesen, dankte ihnen weniger für diese als für die arglose, freundliche Theilnahme, für das zärtliche Wohlwollen, das den Werth der Gabe noch erhöhete. Sie thaten Gutes, und schienen in ihrer Unschuld die zu seyn, welche Gutes empfingen. Bei aller dieser sanften, kindlichen, arglosen Unschuld erhielten sie dennoch etwas Erhabenes, einen stolzen Zug von Schwärmerei, der aus Rheinfeldens Seele in die ihrige überfloß. Das Laster war ihnen fürchterlich, und sie zeigten den größten Abscheu, wenn nur von einem Verbrechen gesprochen wurde. Ihre Augen flammten dann, ihr Gesicht wurde leidenschaftlich. Eine solche Schwärmerei der Tugend kann freilich, wenn sie gemißleitet wird, den schönsten Charakter verderben; bei ihnen hatte sie aber etwas höchst Unschuldiges, und mischte sich innig in ihre arglose Milde. Sie waren wie zwei Wesen aus einer andren Welt. So wandeln in menschlicher Gestalt Engel auf der Erde. Unschuld scheint ihre einzige Tugend zu seyn; aber von Zeit zu Zeit bricht doch aus ihr ein Zug der erhabenen, himmlischen Natur hervor, der den Menschen zur Anbetung zwingt.

Man tadelte Rheinfelden, daß er den Herzen der beiden Kinder diese hohe Richtung gab. Es ist möglich, sagte er, daß diese himmlische Güte sie von allen Menschen absondert, daß sie nie Freunde finden, nie Herzen, die sie lieben können; aber sie werden den Menschen lieben und dadurch glücklich seyn. Ob sie das erhalten werden, was man gewöhnlich Glück nennt, weiß ich nicht: das hängt ja immer vom Zufall ab; aber sie werden fühlen, daß sie jedes Glück verdienen. – „Die Menschen werden ihre Tugenden hassen, weil sie so rein sind.“ – Der Ewige wird sie lieben.

Man muß hieraus nicht etwa schließen, daß Rheinfelden ihre Tugenden nur zu einer Wirkung ihrer Gefühle machte; nein, er war eben so sehr für die Bildung ihres Geistes besorgt. Durch die einfachste Moral überzeugte er ihren Verstand sehr leicht von dem, was ihr Herz schon lange als wahr fühlte. Sie bekamen nun Geschmack an der Tugend. Gefühl und Vernunft bestimmten ihre Willen fast immer zum Guten; sie haßten das Böse, weil es ihrem Gefühl unerträglich, und zugleich, weil ihre Vernunft von dem Unrechte desselben überzeugt war.

Rheinfelden lebte nur für die Erziehung der beiden Kinder. Sein Vermögen reichte also überflüssig hin, ihnen die beste Verstandesbildung zu verschaffen. Er nahm zu Lehrern für sie nicht unwissende Anfänger, die selbst noch zu lernen brauchten, sondern die vorzüglichsten, die zu finden waren. Mit so vieler Vorsicht er aber die Lehrer auch wählte, so ließ er dennoch nie einen mit den Kindern allein. Man bestimmte vorher, was gelehrt werden sollte; und so blieb immer Harmonie in dem Unterrichte. Die Kinder rückten sichtlich fort in allen Wissenschaften, in den Künsten, worin Rheinfelden selbst ein geschmackvoller Kenner war, und in den lebenden Sprachen, in denen er große Fertigkeit hatte. Der Unterricht in den letzteren und in manchem Andren wurde, wenn es anging, immer auf Spaziergängen, unter dem Genusse der Natur ertheilt; denn von Büchern hielt Rheinfelden jetzt nicht mehr viel. Veranlassungen, wie sie das Leben gab, führten die Unterredungen herbei; kleine Ereignisse in der Gegend umher dienten zur Grundlage der Gespräche.

Eben so wenig wurde der Körper der beiden Kinder versäumt; sie lernten tanzen, und der Knabe auch reiten, fechten und schwimmen, während daß Jakobine in allen weiblichen Arbeiten Unterricht erhielt. Dabei gewöhnte Rheinfelden sie an gar keine Art von Pracht oder Luxus, und führte mit ihnen einen sehr mäßigen Tisch. Ihre Kleidung war einfach, und Jakobine selbst mußte sie für sich, ihren Bruder und Rheinfelden verfertigen. Von Allem bekamen sie, so viel wie möglich, anschauliche Begriffe. Sie kannten alle Handwerke, ihre Instrumente, ihre Materialien; kurz, Rheinfelden ließ ihnen keine Kenntniß fehlen, die den Menschen betrifft. Nur das Einzige wußten sie noch nicht, daß die Menschen so lasterhaft sind. Ob sie gleich mit Rheinfelden öfters in die benachbarten großen Städte kamen, so erfuhren sie dennoch nicht, welche Verbrechen die Mauern in sich schlossen. Erst, als die Tugend fest in ihren Seelen gegründet war, lehrte Rheinfelden sie die Laster der Menschen kennen. Er zeigte ihnen nun, auf welchem natürlichen Wege der Mensch zu dieser Tiefe hinabsinkt, und setzte ihnen deutlich aus einander, daß die Menschen in ihren gewöhnlichen Verhältnissen, und bei ihrer verkehrten Erziehung fast nicht besser seyn können.

Nun sahen sie denn freilich auf einmal eine neue Welt, vor der sie zitterten; aber sie fühlten nicht Haß gegen diese Welt, sondern Mitleiden. Sie wurden duldsam gegen Andre, und nicht eitel auf ihre eigenen Tugenden; denn sie sahen, daß diese Tugenden das Werk Rheinfeldens und ihrer früheren Erziehung waren.

Rheinfelden machte sie nun auch mit den Klugheitsregeln bekannt, die sie beobachten müßten, wenn sie die Reinheit ihres Herzens unter den Menschen bewahren wollten. Er ging die Geschichte des menschlichen Geschlechtes noch einmal mit ihnen durch. Bis jetzt war ihnen diese nichts andres gewesen als die Geschichte der Güte, der Liebe; sie hatten nur gesehen, wie die Vorsehung den Menschen von der untersten Stufe der Kultur immer höher hebt; wie das Licht sich immer über mehr Nationen verbreitet; wie es immer heller hervordringt; wie selbst die Finsterniß der Barbarei, der Unwissenheit, es größer und schöner macht; wie alles auf Erden die Vollkommenheit befördern muß, selbst der Mensch, der sie aus Irrthum verhindern will. Nun aber zog Rheinfelden den Schleier von der Geschichte ab, und zeigte ihnen auch die Laster und Verbrechen unter den Menschen: den zerstörenden ehrsüchtigen Alexander, den rasenden Caligula, den heuchlerischen Tiberius, den blutgierigen Nero, den indolenten Klaudius. Sie lernten jetzt, wie die Menschen endlich zu Tigern werden können, wenn Eitelkeit und Schmeichelei sie verblendet, Sinnlichkeit und Wollust sie entnervt, Stolz und Uebermuth sie hingerissen haben. Er zeigte ihnen, wie Nero mit zitternder Hand das Todesurtheil eines Verbrechers unterzeichnet, und fünf Jahre später mit eben dieser Hand seine eigne Mutter ermordet; wie schrecklich Wollust, Ehrgeitz und Habsucht mit dem Glücke der Menschen spielen; wie jede Tugend, auch wenn sie noch so stark ist, zittern muß, der Schmeichelei, der Verführung, den Sinnen, der Wollust zu erliegen.

Bei dem letzten Theile dieser Unterredung war Rheinfelden tief gerührt, weil seine eigene Geschichte vor seiner Seele stand. Er fuhr mit Thränen in den Augen, mit bebender Stimme fort: „lieben Kinder, wer nur einen Schritt von der Bahn der Tugend abweicht, der verläßt sie bald gänzlich; was das Laster zurückschrecken soll, wird ihm ein Reitz mehr dazu. Der Wollüstige z. B. sieht dann nur das Bild der Wollust in ihrem lockenden Gewande, nicht das Elend, das sie über Tausende brachte. Selbst die Stimme der Tugend giebt seiner Begierde Nahrung.“ Er dachte an Pope's Versuch über den Menschen, konnte nicht weiter reden, umarmte die Kinder mit Heftigkeit, und ging dann schnell weg, um sich zu erholen.

So wurden Lissow und seine Schwester nicht nur duldsam gegen die Menschen, sondern auch demüthig und vorsichtig. Sie glaubten Rheinfelden, trotz ihrem Gefühle, daß auch sie lasterhaft werden könnten, wenn sie nicht sorgfältig über sich wachten; und endlich wurde ihr Verstand davon überzeugt. Nun bekamen sie durch Rheinfelden genaue Bekanntschaft mit dem menschlichen Herzen: mit allen Schwächen desselben, mit der Heftigkeit der körperlichen Triebe und der Leidenschaften. Bei ihrer geringen Erfahrung hatten Lissow und seine Schwester schon Weltkenntniß; Rheinfelden warnte sie aber, ihr nicht zu trauen. Ihr kennt die Welt, sagte er; aber ihr wißt nicht, wie groß die Verstellung der Menschen ist, und welch eine lange Erfahrung dazu gehört, sie in den Begebenheiten selbst richtig zu beurtheilen.

Endlich, in dem letzten Jahre des Krieges, fing er an, die beiden Kinder mehr unter Menschen zu bringen, und hielt sich deshalb eine Zeitlang mit ihnen in Stuttgard auf, wo er sie für ein Paar nahe Verwandten ausgab, und wo ihm bei seinem Range und Reichthume alle Häuser offen standen. Jakobine war jetzt vierzehn, Lissow sechzehn Jahre alt, und beide wurden mit Bewunderung und Liebe aufgenommen. Man hätte Jakobinen, das sprechend ähnliche Bild ihrer schönen Mutter, ihrem Körper nach für sechzehnjährig halten sollen; doch sah man die liebliche, kindliche Unschuld auf ihrem Gesichte, so konnte man sie wohl kaum für zwölfjährig nehmen. Sprach sie dann wieder, so wußte man gar nicht, was man von ihr glauben sollte: so geistvoll war das, was sie sagte.

In Stuttgard lernten sie und ihr Bruder sich nun in die gesellschaftlichen Verhältnisse finden, und Beide machten jeden Tag Erfahrungen, welche durch Rheinfeldens Gespräche erst recht lehrreich wurden. Man sagte Jakobinen viele Schmeicheleien, wie das ganz natürlich war, da sie vortrefflich tanzte, sehr schön sang, und sich immer mit Geschmack, obgleich sehr einfach, kleidete. Aber zum Unglück wollte sie reden, nicht schwatzen, und fand die Schmeicheleien, die man ihr sagte, bald äußerst abgeschmackt.

Rheinfelden machte sie aufmerksam darauf, daß gerade eben die Schmeicheleien auch an die unbedeutendsten weiblichen Geschöpfe in den Gesellschaften verschwendet wurden; aber noch mehr darauf, daß in der großen Welt die Politur Alles bedeckt, für Alles entschädigt, der einzige Götze ist, den die Gesellschaft anbetet und in den sie ihren Stolz setzt. Anfangs konnten sich beide aufrichtige Seelen nicht daran gewöhnen, daß alle die Freundschaftsversicherungen, die sie täglich bekamen, so ganz und gar nichts seyn sollten. Besonders Jakobine hörte die jungen Frauenzimmer so oft von Freundschaft, von Vertrauen mit so vieler Herzlichkeit sprechen, daß sie zweifelte, ob sie Rheinfelden glauben könnte. Er lobte aber in ihrer Gegenwart eine Freundin gegen die andre, warf dann einen kleinen Tadel hinterher; und nun wurde die arme Freundin den Augenblick hart mitgenommen.

So zeigte Rheinfelden seinen beiden Zöglingen nach und nach die ganze armselige Gestalt der so genannten vornehmen Gesellschaften. Aber, fragte Jakobine, warum kommen denn die Menschen zusammen? was ist ihr Vergnügen dabei? – „Sie haben lange Weile, und wollen ihr entgehen; sie sind eitel, und wollen ihren Putz zeigen; sie sind boshaft, und wollen Fehler aufspüren, um sich gegen einen Dritten darüber aufzuhalten.“

Man kann leicht denken, daß Jakobine keine Freude an der großen Welt fand; sie und ihr Bruder sehnten sich herzlich aus ihr weg. Rheinfelden war auch gar nicht Willens, sie lange unter dieser größten Theils so verschrobenen Klasse von Menschen zu lassen. Er führte sie nun in einer andern Stadt auch unter den Mittelstand, machte sie aufmerksam auf dessen Vorzüge, und zeigte ihnen, daß in ihm die meiste Menschlichkeit, so wie das meiste Glück, anzutreffen ist. Dies konnte er ihnen leicht erklären. „In dem Mittelstande“, sagte er, „sind die Menschen nicht reich genug, ihre Kinder bloß zum Genusse zu bestimmen; sie müssen diesen nützliche Kenntnisse beibringen, und sie zum Fleiß, zu Beschäftigungen anhalten, daß sie dereinst sich ernähren können. In ihrer Lage brauchen sie die Hülfe Andrer nöthiger, und fühlen das Bedürfniß der Freundschaft mehr als die Leute von Stande. Daher müssen sie menschlich, freundschaftlich, arbeitsam und tugendhaft werden. Die unterste arbeitende Klasse der Menschen hat zu viel mit den Bedürfnissen des Lebens zu kämpfen, als daß sie Zeit behielte, ihr Herz und ihren Geist zu bilden. Durch das stete Bemühen um Lebensunterhalt müssen bei ihr nothwendig Habsucht, Mißtrauen, Neid, und alle die Laster entstehen, die den Menschen erniedrigen. Hierin haben der erste und letzte Stand große Aehnlichkeit mit einander. Jener ist durch Reichthum und seinen Rang über das Bedürfniß der Freundschaft weggesetzt, will nichts als Genuß, den nur Reichthum ihm verschaffen kann, und wird daher habsüchtig. Auch dieser ist durch seine Armuth von allem entfernt, was ihm die Freundschaft theuer machen könnte, und beschäftigt sich nur mit dem Erwerben seines Unterhaltes. Der Mittelstand, der arbeiten muß, aber wohlhabend genug ist, um es nicht immer zu brauchen, kennt die Freundschaft, die besseren Gefühle des Lebens. In ihm ist die Tugend gewöhnlich mehr als Anstand, Freundschaft mehr als Komplimente, Glück mehr als Geld, das Leben mehr als eine Unterhaltung. Aber je stärker der Luxus bei diesem Stande einreißt, und dessen Wohlhabenheit, dessen glückliche Mittelmäßigkeit hindert: desto mehr muß auch er sich zu den Fehlern der beiden andren hin neigen.“

So befestigte Rheinfelden in ihrer Seele nach und nach den Wunsch, in einer glücklichen Bescheidenheit zu leben. Besonders mußte er das wegen des jungen Lissow thun, der voll großer Hoffnung war, und bisweilen von einer Ministerstelle träumte, um ein ganzes Volk glücklich machen zu können.

„Mein Sohn“, sagte Rheinfelden zu ihm, „werde, was du willst, und wozu du Gelegenheit hast. Auch der Minister kann mit seiner Art zu leben zu dem Mittelstande gehören und glücklich seyn. Jene Tugenden sind nicht einem Stande eigen, sondern allen Menschen; nur daß die anderen Stände mehr Schwierigkeiten haben, sie zu erringen. Ein Adeliger, der menschlich fühlt, der das Glück des Lebens in der Freundschaft findet, ist in der That zu bewundern, so wie der Bauer, der unter den Lasten seines Lebens Stärke genug behält, irgend einen fremden Menschen zu lieben.“

Was Rheinfelden Anfangs aus dem Gefühle der Pflicht an den beiden Kindern gethan hatte, that er sehr bald aus Neigung zu ihnen. Er liebte sie wie der beste Vater, und sie vergalten ihm seine Liebe mit der ganzen Zärtlichkeit, welche Achtung, Dankbarkeit und Vertrauen erregen können. Zum Lohne für die Erfüllung seiner Pflicht genoß er jetzt des häuslichen Glückes, der süßen Freude Vater zu seyn, die sein Stand ihm eigentlich raubte, und die er bei dem gewöhnlichen Gange der Begebenheiten nie erhalten hätte. An den Umgang mit den Kindern war er so gewöhnt, daß ihm der Gedanke, einst wieder ohne sie leben zu müssen, unerträglich wurde. Sie versetzten ihn in die Jahre, da er mit ihren Eltern in so glücklicher Freundschaft lebte; denn Jakobine war ganz ihre Mutter, und Lissow ganz sein Vater, Beide nur jugendlicher und schöner.

Jakobine sagte ihm tausendmal mit den seelenvollsten Blicken, mit der innigsten Zärtlichkeit: sie liebe ihn unter allen Menschen, selbst ihren Vater kaum ausgenommen, am meisten. Hier hatte er nun Jakobinen zum zweiten Male, schöner, reitzender, zärtlicher als die erste, und ganz sein, ohne Nebenbuhler sein; und er sollte sie freiwillig abtreten!

Seine Liebe war jetzt lauter, frei von allem Sinnlichen, nur die allerzärtlichste Vaterempfindung, und er konnte sie mit der ganzen Welt theilen; aber um so mehr zitterte er vor dem nahen Augenblicke, wo er seine Rechte auf Jakobinen einem Andern übergeben und sich vielleicht ganz von ihr trennen sollte. Sein Korrespondent in Berlin schrieb ihm jetzt: der Baron Flaming halte sich wieder in Zaringen auf, und ein Lissow lebe bei ihm. Rheinfelden hätte gern noch gezögert, wenn es nicht unrecht gewesen wäre; und überdies trieben ihn selbst die Kinder mit Fragen, mit Bitten, daß er sie endlich zu ihrem Vater führen möchte.

Bei seinem Erziehen hatte er hauptsächlich auch den Zweck gehabt, die Liebe zu ihrem Vater zu erhalten; und dies konnte ihm leicht gelingen, da er dessen Herz so genau kannte. Er sprach immer mit der größten Zärtlichkeit von Lissow, schilderte den Kindern mit feurigen Zügen seinen edlen Charakter, seine Menschlichkeit, erzählte ihnen oft, wie er selbst mit ihren Eltern bekannt geworden war, und mahlte ihnen mit Begeisterung die Glückseligkeit, deren sie durch einander genossen hatten. Von seinem Verbrechen gegen ihre Mutter sprach er nie; und er fühlte sich sehr erleichtert, als er merkte, daß sie gar nichts davon wußten. In der ersten Zeit fragten sie wohl nach dem Zusammenhange jener Begebenheit, da sie und Iglou ihn aus dem Walde zu ihrem Vater brachten; auch erinnerte sich der Knabe des Ritters sogar noch von dem Sarge seiner Mutter her: aber Rheinfelden, dem die Fragen nach dem allen wie Dolche in das Herz drangen, sagte ihnen die Wahrheit nicht, sondern erzählte eine Geschichte, die alles erklärte, und an deren Wahrheit die Kinder nicht zweifelten. Sie wußten nicht, daß sie den Mörder ihrer Mutter so zärtlich liebten, und ihn Vater nannten.

„Euer Vater ist da, lieben Kinder!“ sagte Rheinfelden mit einiger Betrübniß, als er den Brief aus Berlin bekommen hatte. Die beiden Geschwister, Jakobine jetzt fünfzehn und ihr Bruder siebzehn Jahre alt, hüpften auf vor Freude, und warfen sich an die Brust ihres zweiten Vaters. Sie wünschten noch heute abzureisen, und begriffen nicht, warum Rheinfelden zögerte. „Nur noch einige Tage“, sagte dieser, „laßt mir das Glück, euer einziger Vater zu seyn, meine Kinder. Nur noch einige Tage! Ich muß Anstalten treffen, ehe ich mit euch reise.“ Rheinfelden ließ nun Kleider verfertigen, kaufte mancherlei, und machte dann sein Testament so öffentlich und feierlich wie möglich. Endlich waren die Koffer ohne Vorwissen der jungen Leute gepackt, und den folgenden Tag sollte die Reise angetreten werden.

Vom Morgen an ging Rheinfelden in großer Unruhe umher, die immer stärker wurde, je näher der Abend herankam. Seine beiden Kinder suchten vergebens, ihn zu erheitern; er blieb stumm, und sein Auge mit einer dunklen Wolke bedeckt. Nach dem Essen nahm er sie mit in sein Kabinet, wo er immer nur allein war, und wohin selbst Jakobine, sein Liebling, nicht kommen durfte. Beide mußten sich setzen. Dann ging er einige Male auf und ab, und schien einen gefaßten Entschluß zu bekämpfen. Endlich schlug er seine Blicke zum Himmel auf, und sagte dann fest: „es muß seyn!“ Nun setzte er sich seinen beiden Geliebten gegenüber, und fing an: „Ehe wir reisen, lieben Kinder, muß ich euch noch einmal an die Tugend und an euer Herz erinnern. Ihr seyd Beide tugendhaft, Beide entschlossen die Reinheit eures Herzens zu bewahren; aber ihr seyd auch Menschen. Ich will euch jetzt die schreckliche Geschichte eines Mannes erzählen, den der Himmel zu Tugenden bestimmt hatte, der aber, durch die Sinnlichkeit verleitet, das schauderhafteste Verbrechen beging, der – eure Mutter ermordete.“ – Lissow sprang mit Entsetzen im Gesichte auf, und Jakobine warf sich mit einem Schrei in Rheinfeldens Arme.

Rheinfelden faßte wieder Muth. „Man hat euch diese Begebenheit verschwiegen; aber ihr müßt sie wissen: sie geht euch und mich zu nah an.“ Nun erzählte er ihnen seine Bekanntschaft, seinen Umgang mit Lissow und Jakobinen, doch so, daß er anstatt seines eigenen Nahmens einen andern nannte. Er setzte ihnen den früheren Zustand seines Herzens aus einander, und beschrieb ihnen seinen Charakter. „Ihr seht“, fuhr er dann fort, „der Mann war edel, großmüthig, menschlich; und dennoch wurde er der Mörder eurer Mutter.“ Er erzählte ihnen nun den Gang bei der Verschlimmerung seines Herzens, den der Leser schon kennt.

Ehe er an die schreckliche Katastrophe der Geschichte kam, stand er auf. Er zog die Schnur einer seidnen Gardine; und nun zeigte sich ein schönes Gemählde, das er noch in Berlin, als er Lissows Freund war, hatte verfertigen lassen: Jakobine, die ihre Tochter auf dem Schooße hielt, zu ihren Füßen ihr Sohn mit Blumen spielend, und neben ihr Lissow mit Vaterfreude in den Augen.

„Das ist eure Mutter in ihren glücklichen Tagen“, sagte Rheinfelden; und die Kinder hingen mit sehnsuchtsvollen Blicken an dem Bilde. Nun erzählte er die gräßliche Katastrophe mit immer mehr brechender Stimme, und zeigte ihnen dann wieder ein neues Gemählde: Jakobinen, bleich, schon mit dem Tode in ihrem schönen Gesichte, wie sie vor dem Bette ihrer Kinder auf den Knieen lag und betete.

Kaum konnte Rheinfelden noch fortfahren. Nach einiger Erholung zeigte er ihnen Jakobinen im Sarge, wie er selbst sie gesehen, und wie ein Künstler, der die jungen Leute im Zeichnen unterrichtete, sie heimlich gemahlt hatte. Das Bild Jakobinens im Sarge war furchtbar tief in Rheinfeldens Seele gedrückt, so daß er es dem Mahler Zug für Zug angeben konnte. – Die Kinder saßen bleich, stumm da, und schwammen in Thränen. Lissow verbarg das Gesicht in seine Hände, und bat Rheinfelden mit flehender Stimme, aufzuhören. Jakobine konnte gar nicht sprechen. Beide ahneten, Beide vermutheten, wer der Mörder ihrer Mutter sey, und zitterten weit mehr vor dem, was noch folgen würde, als vor dem, was sie schon gehört hatten.

Auf einmal warf Lissow sich vor Rheinfelden nieder, faßte dessen zitternde Hände, bedeckte sie mit Thränen, mit Küssen, und beschwor ihn, nicht länger zu reden. Als Rheinfelden nicht wollte, faßte er die Hand seiner Schwester, und rief glühend und heftig: komm, ich will dir erzählen, wie dieser Mann Jakobinens Kinder aus den Flammen trug, wie er unser Vater war! Jakobine sprang auf, umfaßte Rheinfelden, und betheuerte ihm, daß auch sie sterben würde, wenn er noch länger fortführe. Es war eine rührende Scene, wie die beiden Kinder ihn umschlungen hielten, und mit zärtlichen Bitten zum Schweigen bringen wollten.

Er überließ sich endlich ihren Liebkosungen, und weinte nur milde Thränen. Als er sich wieder erholt hatte, führte er sie das Zimmer hinauf, zog eine Schnur, und rief: „hier ist der Mörder in den Händen der ewigen Gerechtigkeit!“ Jakobinens Kinder schauderten vor diesem Gemählde zurück. Da saß Rheinfelden in einem finstern, felsigen Walde, das bleiche Gesicht in die dürre Hand gestützt, mit zerrissenen Kleidern und offner Brust, mit starren, wilden Blicken, den Mund zu einem wahnsinnigen Lächeln verzuckt, und in der rechten Hand einen scharfen Dolch haltend, mit dem er nach seinem Herzen zielte. „Erkennt ihr den Mörder?“ fragte Rheinfelden. Jakobine nahm die Schnur aus seiner Hand, und ließ den Vorhang fallen. Unser Retter, unser Vater! riefen Bruder und Schwester zugleich, und Rheinfelden sank in ihre offnen Arme.

„Lissow, mein Sohn! Jakobine, meine Tochter!“ sagte er feierlich; „steigt einmal die erste unrechte Begierde in eurem Herzen auf, so denkt an mein Gemählde. So weit kann die Sinnlichkeit führen! Ich bitte euch um Eins, meine Kinder. Es wird euch leicht scheinen, so schwer es ist, aber euch tugendhaft erhalten, so leicht es scheint. Macht irgend einen guten, edlen Menschen zum Vertrauten eurer Empfindungen, eurer Begierden, eurer Vorsätze und Gedanken. Denkt nicht, euer Gewissen sey hinreichend, der Vertraute eures Herzens zu seyn; es ist eben so schwach wie dieses. Versprich mir, mein theurer Sohn, keinen deiner Gedanken, deiner Entwürfe, keine deiner Empfindungen mir zu verbergen. Und du, Jakobine, wähle dir irgend eine tugendhafte Freundin, und laß sie die Bewahrerin deines Gewissens und deiner Geheimnisse seyn. Versprecht mir das!“ Sie hingen Beide an seinem Halse, und versprachen es ihm unter heißen Thränen. „Nun denn“, sagte er lächelnd; „so sollt ihr, wie ihr mein Elend gesehen habt, auch meine Hoffnungen sehen.“ Er zog den Vorhang vor einem großen Gemählde auf. Hier lag er zwischen den beiden geliebten Kindern vor Jakobinen auf den Knieen; Jakobine, in dem Glanze des Himmels, lächelte und reichte ihm die Hand. Er sah die jungen Leute zärtlich an, und rief in überwallender Bewegung: „zerstört mir die Hoffnung nicht, euch einst eurer edlen, unschuldigen Mutter eben so edel, eben so unschuldig zu bringen!“

Sie waren alle Drei unaussprechlich gerührt, voll der Empfindung des Himmels, und gingen weiser, besser aus einander.

Am folgenden Morgen traten sie mit gleichem Verlangen die Reise an, und kamen ohne irgend einen merkwürdigen Vorfall bis zu der nächsten Stadt vor Zaringen. Hier blieben sie die Nacht, und waren dann am Morgen mit der Sonne auf. Jakobine fand, anstatt ihres Reiseanzuges, ein weißes seidenes Kleid mit Blumen besetzt, und eine Guirlande von Rosen zum Kopfputze. Ihr Bruder kam, wirklich prächtig gekleidet, mit Rheinfelden zu ihr, als sie noch unentschlossen da stand, ob sie das anziehen sollte oder nicht. „Du sollst geschmückt zu deinem Vater kommen!“ sagte Rheinfelden; und bald war Jakobine nun gekleidet.

Sie setzen sich nach dem Frühstück in den Wagen, und legten die drei Meilen bis Zaringen schnell zurück. Vor dem Dorfe ließ Rheinfelden anhalten, und stieg aus: „Ich gehe in diesen Wald, meine Kinder“, sagte er, „weil ich eures Vaters erste Freude nicht trüben will. Auch muß ich den Platz wiedersehen, wo ich glücklich wurde. Iglou wird mich zu finden wissen. Seht, das Verbrechen hört nicht auf zu strafen! Ich darf euch nicht an das Herz eures Vaters führen.“ Er verließ mit schnellen Schritten den Wagen, und verschwand in den Wald. (Den beiden jungen Leuten schlug das Herz ungestüm vor Freude und Erwartung, als sie nach Zaringen hineinfuhren, und zu dem Vater gingen.)

„O Gott! Gott!“ rief Lissow nach dieser Erzählung aus einem stummen süßen Schmerze hervor: „wo ist der Retter? wo ist der Vater meiner Kinder, daß ich ihm zu Füßen falle und ihm danke?“ – Er ist mit uns gekommen, und muß im Walde seyn. Iglou, sagte er, wüßte, wo er wäre. – Kommt! sagte Iglou; ich will euch führen. Alle, Lissow mit seinen Kindern voran, gingen nun mit ihr, und es war, als ob sie einen Wettlauf hielten, so daß der alte Grumbach kaum folgen konnte.

Rheinfelden hatte unterdessen seine Hütte wieder aufgesucht. Er erstaunte, als er anstatt ihrer ein kleines niedliches Häuschen sah, das rings umher mit Rosen und Immergrün bepflanzt war, und über dessen Thüre die Worte standen: „Hier wurde ich glücklich!“ Der Anblick schien ihm Zauberei; denn gerade die Idee, welche er hier schon ausgeführt sah, hatte er selbst ausführen wollen, weil er hier glücklich geworden war. Er stand in tiefem Nachdenken vor dem Häuschen, öffnete dann die Thür, trat hinein, und fand das Hausgeräth wieder, das er gebraucht hatte, nur mit einigem andren vermehrt. Alles blieb ihm unbegreiflich, weil er nicht wußte, daß auch Iglou und der Baron in dieser Einöde ihr Glück gefunden hatten. Es war Iglou's ewiges Treiben gewesen, hier ein Häuschen zu haben, und der alte Grumbach hatte eine Summe dazu aussetzen müssen.

Dies kleine Häuschen war Iglou's liebster Aufenthalt. Hieher ging sie oft mit ihrem Sohne, hier unterrichtete sie ihn, hier hatte sie eine kleine Sammlung von Büchern, hier schrieb sie jetzt an ihrer Lebensbeschreibung, hier betete sie. Rheinfelden setzte sich auf den hölzernen Stuhl. Er durchlief jetzt noch einmal sein Leben, fühlte sich gänzlich beruhigt, und versank in süße Träume; ihn dünkte, Jakobinens Gestalt schwebe von oben herein, und biete versöhnt ihm die Hand.

Mitten in seinem Traume flog die Thür auf, und Lissow warf sich in seine Arme. „Rheinfelden!“ rief er; „Retter, Vater meiner Kinder! mein Bruder, mein Geliebter, mein Freund!“ Kaum hatte er das gesagt, so war auch schon das ganze Häuschen voll Menschen. Rheinfelden sank aus einer Umarmung in die andere, und es dünkte ihn, als ob er dadurch entsündigt würde. Ohne sich lange aufzuhalten, führte man ihn nun, wie in Triumph, nach Zaringen.

Rheinfelden bat den Baron sogleich, ihm die Hütte im Walde abzutreten. Der Baron erwiederte: „fordern Sie von mir, was Sie wollen, nur nicht diese Hütte. Sie hat mich glücklich gemacht, und ist Iglou's Lieblingsaufenthalt; aber ich will Ihnen dicht daneben ein andres kleines Haus aufbauen lassen.“

Man setzte sich nun, und erzählte einander gegenseitig seine Schicksale. Lissow saß zwischen seinen beiden Kindern, und sagte ihnen, welches Elend er in den sechs unglücklichen Jahren ertragen, und wie sehr er sich um sie gegrämt habe. Man fand nun, wie leicht es gewesen wäre, sich alle die Noth zu ersparen; und man wunderte sich, daß man nicht auf die gehörigen Mittel gefallen war. Grumbach und seine unglücklichen Freunde hätten ja auf einem Dänischen Schiffe zu dem Baron kommen, und Rheinfelden durch noch öfter wiederholte Zeitungsnachrichten den Gram des Vaters endigen können. Beides war so leicht gewesen, und doch nicht geschehen.

Laßt uns doch fragen, hob der alte Grumbach an, warum es nicht geschah? Weil wir der Vorsehung so wenig traueten; weil wir das, was uns traf, Schicksal, unvermeidliches Geschick nannten, und daher nicht den Muth hatten, uns nach Hülfe umzusehen. Wie ungerecht, wie undankbar sind wir Alle gegen die Vorsehung gewesen! Es kam ja nur auf uns an, die Hände nach der Hülfe auszustrecken, die sie uns darbot. Wir klagten, anstatt zu denken; wir jammerten, anstatt zu arbeiten; wir ließen uns von dem Sturme treiben, anstatt ihn muthig zu bekämpfen. Und welcher Unglückliche ist nicht mit uns in gleichem Falle? Wer sieht nicht, wenn sein Elend überstanden ist, ein Mittel, wie er sich hätte davon befreien können? Warum ersann er nun dies Mittel nicht vorher? Weil er klagte, anstatt zu denken, sich hingab, anstatt thätig zu seyn. Habe ich nicht Recht, wenn ich behaupte, die Natur bestraft den Irrthum eben so wie das Verbrechen? Und seht ihr nun, weshalb die Vorsehung das thun muß? Um den Menschen von seiner Trägheit los zu reißen, die ihn so leicht auf immer an das Unglück fesselt. Aber seht nun auch, wie sie, trotz dem Menschen, der ihre segnende Hand von sich stößt, dennoch nicht aufhört zu segnen. Wir lernten in unserm Elende entbehren, und wissen nun, was der Mensch kann, wenn er will. Unser Rheinfelden rettet die Kinder, und söhnt sich dadurch mit sich und dem Himmel aus. Der Baron selbst ...

„Ich“, unterbrach ihn der Baron, „ich weiß, daß die Hand, die uns so schwer traf, uns dennoch nur gesegnet hat. Das Unglück gab mir meine Iglou, und lehrte mich, was ich noch nicht wußte, daß man auch mit Wenigem glücklich seyn kann, und daß Arbeit die Würze des Lebens ist.“

Und du, Lissow? fragte der Alte mit einer Umarmung: – was hat dich das Wiederfinden deiner Kinder gelehrt?

O, mein Vater, erwiederte Lissow; soll ich allein erröthen?

Erröthe immer, mein Sohn, wie wir Alle. Schamröthe ist die schönste Farbe des schwachen Menschen, die Leibfarbe der Tugend. Aber gelernt hast du, daß der Himmel nicht aufhört selbst den Undankbaren zu segnen. Während daß du ihm Vorwürfe machtest, schuf er dein volles Vaterglück. Sieh deine Kinder an, höre sie sprechen, und sag, ob du ihr Herz, ihren Geist so hättest bilden können, wie es Rheinfeldens zärtliche Liebe gethan hat. Die Vorsehung führte ihn herbei, deine Kinder zu retten. Sie sollten das Elend, das du, das wir Alle tragen mußten, nicht mit uns theilen. Was wären sie, Lissow, und wenn sie auch unser Elend überlebt hätten? Sie würden Wolle gesponnen haben; das wäre die ganze Bildung gewesen, die wir ihnen in unserm Elende hätten geben können. Und nun! sieh deine beiden Kinder an!

Lissow warf sich aufs neue an Rheinfeldens Brust, und ging dann hinaus. Sein gen Himmel gewendeter Blick, seine gefalteten Hände zeigten, was er that. Er dankte der Vorsehung, bereuete die Vorwürfe, die er ihr gemacht hatte, und war ganz von dem hohen Gefühle durchdrungen, daß sie mit wohlthätiger Hand die Schicksale der Menschen leitet. Von diesem Augenblick an wurde sein Herz stark für alle Leiden, und besser.

Rheinfelden übergab am folgenden Morgen Lissowen sein Testament, worin er dessen Kinder zu seinen Haupterben eingesetzt hatte. Freilich konnte er nur über das baare Geld und die beweglichen Sachen bestimmen: aber sein Vermögen war dennoch sehr beträchtlich, da er mehrere Jahre hindurch fast nichts von seinen sehr großen Einkünften gebraucht hatte; und es mußte sich um vieles vergrößern, wenn der Ritter noch einige Jahre lebte, wie seine Gesundheit es hoffen ließ. Lissow war überrascht, und weigerte sich, das Testament anzunehmen. Rheinfelden sagte ihm aber: er sehe die beiden jungen Leute gänzlich als seine eignen Kinder an, und würde selbst in dem Falle, wenn er auch kein Verbrechen wieder gut zu machen hätte, nicht anders verfahren.

Eine sehr beträchtliche Summe hatte Rheinfelden mitgebracht, und die übergab er Grumbachen, daß er sie zum allgemeinen Besten verwenden sollte. Er erklärte, daß er Lissows Familie nie wieder verlassen würde, und bekam nun ein Zimmer neben Lissow, mit dem er sich brüderlich in die Herzen der Kinder theilte. Der alte Grumbach freuete sich, daß er nun im Stande war, das Glück des Dorfes eher wieder herzustellen. Er kaufte sogleich noch einige schlechte Menschen aus, und betrieb alles mit doppeltem Leben. Der Viehstand wurde vermehrt, und einige Bauerhäuser ganz ausgebauet, wozu Grumbach den fleißigsten und besten unter den Einwohnern von Zaringen das Geld vorschoß. Man bearbeitete nun auch die Gärten, und zog Hecken um sie her. Kurz, durch Grumbachs Thätigkeit und des Barons Güte konnte das ganze Dorf dem Winter mit Hoffnung entgegen sehen. Die Ernte des Sommergetreides fiel ganz erträglich aus; und Futter für das Vieh hatte man so überflüßig, daß noch davon verkauft werden konnte. Die Bauern setzten das größte Vertrauen in den alten Grumbach, da sie immer mehr und mehr überzeugt wurden, daß er sie väterlich liebte und ihr Glück ernstlich wollte. Deshalb ließen sie sich auch jede Veränderung, die er vorschlug, ohne Widerspruch gefallen. Nun wurden die Gemeinheiten vertheilt, manche Felder vertauscht, das Dorf licht und reinlich in gerader Linie gebauet, und die Dächer mit Ziegeln gedeckt; kurz, das neue Zaringen wurde weit schöner als das ehemalige, weil dabei ein allgemeiner Plan zum Grunde lag.

Da Rheinfelden sah, daß man hier das Glück, die Zufriedenheit von einigen Hundert Menschen zur Absicht hatte, so entschloß er sich, ohne daß es, außer Grumbachen, jemand erführe, noch eine Summe zur Vollendung des ganzen Werkes herzugeben. Grumbach nahm den Vorschlag mit Freudenthränen an, und nun stieg die alte Ordnung, das alte Wohlseyn, wie auf den Schlag einer Zauberruthe, wieder hervor. Jetzt wurden auch die noch leeren Güter gebauet, und einstweilen von den übrigen Einwohnern auf Abtrag ihrer Schulden bearbeitet. Der alte Grumbach gab sich Mühe, sie gut wieder zu besetzen, und er fand bald einige sehr redliche Familien, die sich in dem Dorfe ankauften, und von denen er überzeugt seyn konnte, daß sie das Glück, welches er zur Absicht hatte, nicht hindern würden.

Schon im folgenden Frühjahre stand ein schönes Dorf wieder da, unter dessen blühenden Bäumen nur glückliche Menschen lebten. In der Mitte des Dorfes war ein offner freier Platz zur Kirche und zum Schulhause bestimmt. An dem letzteren, so wie an einer Wohnung für den Schullehrer dicht daneben, wurde fleißig gebauet. Es bekam ein paar helle, geräumige Zimmer für die Kinder, und oben einen großen Saal zum Vergnügen der Einwohner von Zaringen.

Grumbach konnte nun schon mit Ruhe an etwas mehr als bloß das Nothwendigste denken. Die Sparsamkeit, die noch immer in des Barons Hause beobachtet wurde, gab schon im ersten Herbste einen Ueberschuß, den er ohne Bedenken zum Vergnügen der Einwohner bestimmte.

Die alten Feste wurden wieder eingeführt, aber jetzt mit mehr Bedeutung. Man feierte die Rückkehr des belebenden Frühlings, die Erbauung von Zaringen, das Fest des Friedens, und andre wichtige Tage. Iglou erfand die verschiedenen Feierlichkeiten, mit denen jeder festlich begangen werden sollte, und befolgte dabei den Grundsatz, daß sie einfach, verständlich, rührend seyn und das Herz bessern müßten.

Alles Elend war nun vergessen, und Zufriedenheit verdrängte das Andenken an die erlittene Noth. Erhob sich ja einmal eine Streitigkeit unter zwei Familien, so war Grumbach der Schiedsrichter, und die Bauern unterwarfen sich seinem Ausspruche willig. Man dachte gar nicht daran, daß der Justizamtmann sich nicht weiter meldete. Er hatte in Stettin ein Amt bekommen; und das war besonders dem Baron lieb, da er doch nun wieder zuweilen philosophiren konnte, ohne daß ihm alle Augenblicke jemand in die Rede fiel.

Ein junger, gelehriger, verständiger Mann wurde als Schullehrer angesetzt; und nun erhob sich zum ersten Male wieder eine Streitigkeit unter den Glücklichen. Der Baron drang mit aller Stärke seiner Beredtsamkeit darauf, daß die jungen Leute und die Kinder des Dorfes ordentlich, nach dem festen System einer philosophischen Schule, unterrichtet werden sollten. „Ich will euch“, sagte er, „nicht gerade mein System der Moral vorschreiben, ob ich gleich nicht einsehe, warum ihr es nicht wählen könntet. Nehmt, welches ihr wollt; nur ein System, das Gründe der Tugend enthält, das die Vernunft überzeugt. Ueberlaßt nicht mehr die Tugend dem Gefühle; macht nicht mehr das Glück zur Bedingung der Tugend. Ihr habt nun gesehen, was unsre Tugend uns half. Die Russen brannten unser Dorf eben so ab wie die andren in unsrer Nachbarschaft, worin die Menschen weniger gut waren. Ich frage: was half unsre Tugend zu unsrem Glücke?“

Was sie uns half? erwiederte Grumbach mit einigem Eifer. Sie half uns unser Unglück tragen, Zaringen aufbauen, und wieder glücklich werden.

„Ja, ja! Aber wenn sie das alles nicht gethan, wenn sie sogar unser Elend vermehrt hätte, (und der Fall läßt sich denken): würden wir dann haben weniger tugendhaft seyn müssen? Das frag' ich! O, lieber Grumbach, ich bitte Sie bei dem Glücke meiner Unterthanen, setzen Sie die Tugend dieser Menschen nicht auf einen so schwankenden Grund, nicht auf ein Vielleicht. Warum sollen denn diese Geschöpfe, die so gut Menschen sind wie wir, allein nicht vernünftig seyn, allein nicht aus dem edelsten aller Gründe handeln: weil es vernünftig ist? Sie selbst sagen ja immer: die Vorsehung bestraft den Irrthum wie das Verbrechen. Nun begreife ich nicht, wie ein Mann, der das sagt, den Irrthum vertheidigen kann. Und heißt das nicht den Irrthum vertheidigen, wenn man die Menschen muthwillig über die ersten Gründe des Handelns, über die einzigen wahren Vernunftgründe zur Tugend, in Unwissenheit laßt?“

Unwissenheit? Irrthum? Wer will das, lieber Herr Baron! Ich wahrhaftig am allerwenigsten. Sie sehen ja, mein ganzes einziges Streben geht dahin, Ihre Unterthanen zum Nachdenken über sich selbst, über andre Menschen, über das Leben zu veranlassen. Ich sollte das Göttlichste in unsrer Natur, die Vernunft, hindern? sie in ihren Wirkungen aufhalten? Nein, lieber Herr Baron, davor behüte mich der Genius der Menschheit!

„Nun denn, lieber Grumbach, so sind wir ja eins. Desto besser! Also lassen Sie mich doch einen Plan des Unterrichts entwerfen, wie ...“

Gott gebe, daß wir eins sind, lieber Herr Baron! ...Vernunft verpflichtet den Menschen zur Tugend. Der Mensch bedarf ihrer also, um tugendhaft zu seyn; aber nicht alle Menschen bedürfen dazu eines philosophischen Systems, spitzfündiger Klügeleien, auf die der Philosoph so großen Werth legt, und die er so gern als das einzige Mittel, tugendhaft zu werden, ausschreien möchte wie der Quacksalber seine Arzeneien, seine Universaltinkturen.

„Wo denken Sie hin, Grumbach! Die Untersuchungen der Philosophen mit Quacksalbereien zu vergleichen!“

Warum nicht? Der Philosoph ruft: hier, mein Grundsatz, mein System, enthält echte Tugend. Zeige mir, könnte man zu den meisten sagen, deinen Glauben durch Thaten. Aus der Untersuchung, aus den Meinungen der Weisen ging nie Tugend hervor; und äußerte sie sich, so war sie schon da, so lag sie schon in dem Herzen. Wahrhaftig, die Tugend bedarf des Klügelns nicht; denn sie sollte eine Pflanze seyn, die jeder Verstand, auch der einfachste, bauen könnte. Sie ist keine Ananas, die nur in dem Treibhause, in der künstlichen Wärme des Systems, fortkommt; sie ist ein Fruchtkorn, das in jeder Zone, unter jedem Himmel, in der freien Luft, in dem Sonnenscheine der Natur, gedeihet, und das auch den Winter ertragen kann. Ein Herz voll kindlichen Glaubens an Gott muß die Tugend schon aufnehmen, wenn sie Früchte tragen soll. Gott selbst hat ja dem allgemeinen Menschengefühle den Glauben an die Tugend anvertrauet. Wehe dem Menschengeschlechte, wenn die Tugend nur die Frucht des Systems, der Schule seyn sollte, gleichviel welcher Mann die Schule mit seinem Nahmen bezeichnet! Was bedarf ich denn, um tugendhaft zu seyn? Kindlicher Liebe zu dem himmlischen Vater der Menschen, brüderlicher zu allen Menschen. Wer die nicht fühlt, der baue Systeme, so viel er will; er ist deshalb doch nicht tugendhaft: er muß sich kitzeln, um mitzulachen. Ja, wäre die Tugendlehre eine Kasuistik, dann ließe ich es gelten; aber sie ist nichts als die menschliche Regel: thue den Andern, was du willst, daß Andre dir thun sollen. Die Griechen blüheten, baueten große Städte, waren glücklich, fröhlich auf ihren Fluren, und übten Gastfreundschaft, Gerechtigkeit, Milde, Liebe. Und was für eine Moral hatten sie? Diese Moral war kindlich, wie die Menschen, einfach, herzlich, voll Bilder, voll Gleichnisse, mehr Gedicht als System. „Die Gränzsteine sind den Göttern heilig; der gastliche Zeus haßt den, der nicht gastfrei ist; die Nemesis wandelt umher, und straft den Uebermüthigen, den Verräther der Götter, den stolzen Bedrücker seiner Brüder. Die Furien mit Schlangenhaar und giftiger Fackel verfolgen den Mörder.“ Nur dieser Moral bedurften die einfachen Menschen. Griechenland bekam Systeme der Tugend; man disputirte, man stritt, man erwies, was Tugend sey, was sie nicht sey: und die vorher so glücklichen Menschen wurden ein Raub der Verbrechen, der Tyrannei, der Habsucht, der ...

„Sie glauben also, man solle die Wahrheit nicht hervor rufen? man solle nicht denken, die Tugend nicht auf Vernunft gründen?“

Habe ich das gesagt, Herr Baron? Die Tugend ist einfach, herzlich; und so soll auch die Vernunft seyn, auf welche sie sich gründet. Lassen Sie den Philosophen tausend Systeme schaffen; sie werden immer etwas von der allgemeinen Menschenvernunft haben. Nie wird ein Philosoph eins erfinden, nach welchem es Pflicht wäre zu zerstören. Aber der einfache Landmann bedarf keines künstlichen Systems, sondern nur eines einfachen, herzlichen Antriebes zum Guten. Zu diesem Guten verpflichtet die Vernunft ihn eben so wie den Philosophen. Der Philosoph erweist das; der Landmann fühlt es, und glaubt es darum, ohne zu klügeln. Sagen Sie, was Sie wollen – die Philosophen zeigen in den weitläuftigsten Systemen am Ende doch sonst nichts, als daß der Mensch zur Tugend verpflichtet ist. In der Bestimmung der Tugend sind sie alle gleich, so verschieden auch die Worte seyn mögen, mit denen sie sagen, was Tugend sey. Das also, was allein der Philosoph erweist, glaubt jeder Mensch, weil er es fühlt; und der gute Mensch fühlt am meisten, daß er zur Tugend verpflichtet ist.

„Halten Sie denn eine gute Handlung, die jemand aus Furcht vor der Hölle begeht, in Ernst für eine tugendhafte?“

Nein, das nicht! Allein das würde uns nicht zu Ende bringen. – Was sind in Ihren Augen die Erfordernisse einer tugendhaften Handlung?

„Eine tugendhafte Handlung muß aus reiner Ueberzeugung von ihrer Pflichtmäßigkeit geschehen; oder, mit anderen Worten, die Vernunft allein muß den Grund des Handelns ausmachen.“

Und halten Sie denn das für möglich, ohne daß irgend etwas Andres, eine Neigung, Liebe zur Tugend, zu Gott, Hoffnung des Glückes, oder sonst etwas, sich hineinmischt?

Der Baron lächelte. – „Sie thun seltsame Fragen! Wenn ich Tugend für möglich halte, so muß ich auch das für möglich halten; denn das allein ist Tugend.“

So seltsam ist meine Frage wohl nicht. Ist denn Ueberzeugung von der Pflichtmäßigkeit einer Handlung auch der Grund, daß sie geschieht? oder muß noch etwas Anderes hinzukommen, wenn die Handlung nun wirklich gethan werden soll? – Der Baron verstand Grumbachen nicht, und war verlegen. Dieser fuhr fort: die Vernunft ist vollkommen von der Pflichtmäßigkeit einer Handlung überzeugt. Was soll nun den Willen bestimmen, die Handlung zu wollen? Die Sinnlichkeit, die ihm etwas Böses als ein Glück vorspiegelt, kann ihn, trotz der Vernunft, zum Bösen fortreißen. Nun muß doch noch etwas auf Seiten der Vernunft seyn, das den Willen für sie bestimmt; und das wäre?

„Die Vernunft selbst“, erwiederte der Baron.

Dann müßte jeder, der von der Vernunftmäßigkeit der Tugend überzeugt wäre, tugendhaft seyn; aber das widerlegt die Erfahrung: denn nicht alle Philosophen sind tugendhaft. Der Wille, die Begierde, (mich dünkt, es liegt in dem Worte selbst) ist ja nichts als Neigung zu etwas, das ein scheinbares oder ein wirkliches Gut ist, etwas, das uns wohl zu thun, uns angenehme Empfindungen zu geben verspricht. Soll der Wille also für die Tugend bestimmt werden, so muß die Tugend nothwendig als etwas Gutes, und das Gegentheil als etwas Böses, erscheinen; dann wäre ja aber der Eigennutz schon wieder da. Die Vernunft thäte also bei der Tugend weiter nichts, als daß sie lehrte, die Tugend sey vernunftmäßig, und Pflicht. Mit dieser Handlung ist das Geschäft der Vernunft bei der Tugend geendigt. Sie hat erkannt, eingesehen und überzeugt. Nun ist die Reihe an dem Willen; und den lockt ganz allein das Glück, das er bei einem Dinge vermuthet, zum Begehren. Sie sehen also, daß die Vernunft noch einmal zu wirken genöthigt ist, wenn der Wille anders zur Tugend bestimmt werden soll; sie muß die Wahrheit geben: Tugend macht glücklich, Laster unglücklich. Das findet sie in diesem Leben nicht; sie ist daher gezwungen, ein anderes nach dem Tode, eine Vergeltung des Guten, anzunehmen, wenn sie ihr Wesen nicht selbst zerstören soll. Also stellt sie an das letzte Ziel, das die Menschheit erreichen kann, das Glück und die Tugend; sie vereinigt Beides: diese für die Vernunft, und jenes für den Willen. Nennen Sie das, wie Sie Lust haben: es ist so. Die Vernunft erkennt, und der Wille ist noch unbewegt. Durchaus muß die Sinnlichkeit den Willen in Bewegung setzen.

„Die Sinnlichkeit?“

Nennen Sie es auch mit einem andren Worte, wenn Ihnen Sinnlichkeit zuwider ist. Irgend etwas Anderes als die Vernunft, irgend ein Gefühl, eine Hoffnung, eine Furcht, eine Begierde, ein Abscheu, setzt den Willen in Bewegung. Ehe noch die Vernunft bei dem Menschen in Thätigkeit ist, hat diese Sinnlichkeit ihr Spiel schon Jahre lang getrieben; ob böse oder gut: das kommt auf Erziehung, auf Gewöhnung an. Der Mensch wird von guten Menschen erzogen; und seine Phantasie lernt nun das Gute, die Tugend, als Glück ansehen. Man sagt ihm so oft, so nachdrücklich: du kannst ohne Tugend nicht glücklich seyn. Er sieht, welche Freude die Menschen um ihn her haben, wenn ihnen etwas Gutes gelungen ist; er sieht den Abscheu, die Verachtung, mit der sie jedes Laster betrachten: und sein Wille wird durch Hoffnung, durch Abscheu, für die Tugend bestimmt, ehe seine Vernunft noch weiß, was Tugend ist. Eben so verhält es sich mit dem Laster und mit den lasterhaften Menschen. Daher wirkt Beispiel so unendlich viel mehr als Unterricht; daher kann der strengste Philosoph, der die uneigennützigste Tugend fordert, und nach seinem System fordern muß, so eigennützig, so engherzig, so schwach seyn; daher giebt oft ein Mensch, der nie einer Schule angehörte, nie etwas Bestimmtes über Tugend dachte, bloß durch seine Empfindung geleitet, so bestimmte Beweise einer erhabenen göttlichen Tugend. Sein Tugendgefühl ist Geschmack geworden. Er kann nicht anders handeln; das Gegentheil würde ihm unerträglich seyn.

„Bleibt denn eine Handlung, die so natürlich ist, Tugend? Hat die Handlung, deren Gegentheil dem Menschen unmöglich wäre, einen Werth?“

Mag sie den nicht haben. Aber so wäre nur der Mensch, der elende, verächtliche Wünsche und Begierden bei sich fühlte, und trotz diesen Begierden gut handelte, tugendhaft; nicht der, welcher nur das Gute liebte, wollte, und, weil er es liebte und wollte, auch thäte. Und doch stellen alle Schulen den Letztern als das Ideal der menschlichen Tugend auf, und haben Recht dazu. Nein, lieber Herr Baron, sagen Sie, was Sie wollen: Tugend muß glücklich, Laster unglücklich machen. Das allein kann das Herz für die Tugend interessiren, und auf diese Weise muß sie durchaus gelehrt werden. Die Vernunft thut nichts weiter, als daß sie den Satz bestätigt, und seine Möglichkeit lehrt; dem Gefühle war er schon längst wirklich. Sie thut noch mehr: sie lehrt auch, was Tugend ist, erfindet ein Moral-System, und sichert so die wahre Tugend, da die Empfindung so leicht ein Vergehen anstatt der Tugend ergreift, und dann zerstört, wenn sie segnen will. Das, dünkt mich, ist der Unterschied zwischen der Vernunft und dem Herzen. Einfache Lehre für das Herz der Kinder und des ganz oder halb rohen Menschen: Allegorie, Beispiel, eine Moral in schönen, einfachen, reitzenden Bildern, wie zum Beispiel bei den Griechen. Ein Gott wachte bei ihnen über den Hausaltar und über die Gastfreundschaft. Sein Bild stand sichtlich da. Keine Mahlzeit, ohne daß man dem Hausgott sein kleines Opfer davon brachte, ihm einen Tropfen Wein ausgoß; denn die Mahlzeit war ja Segen der Gottheit, die man verehrte. Ein Fremder trat an den Hausaltar, um zu beten; und in dem Augenblicke gehörte er mit zu der Familie. Die Gottheit segnete nicht mehr, wenn man nicht seine Mahlzeit mit dem Fremden theilte. Sehen Sie, da ist die Lehre: „seyd wohlthätig, weil die Erde Gottes, und Gott der Vater aller Menschen ist!“ in ein Bild gekleidet, wie es sich für das kindliche Herz der ersten Menschen schickte. Der verständigere Mensch bedarf endlich dieser Bilder nicht mehr; aber wahrlich noch immer des Glaubens an die Lehre: Gott liebt den Wohlthätigen. Und so kann das Bild der Höllenqualen sehr nothwendig für rohe Menschen seyn, die nichts achten als körperlichen Schmerz. Die Tugend wird endlich Gewöhnung; und desto besser, wenn dann ein schöneres Bild hinreicht, sie in dem Herzen fest zu halten. Desto besser, wenn endlich der bloße Glaube: die Tugend macht glücklich! das bewirken kann. Aber dieser Glaube ist durchaus nöthig.

Der Baron kämpfte zwar noch lange für die Lehre der Stoa; doch alle Stimmen vereinigten sich gegen ihn. Jeder berief sich auf seine eigene Geschichte zum Beweise, daß die Lehre von dem Glücke, welches die Tugend giebt, sinnlich oder fein genommen, sein Herz gebildet habe. Man führte sogar des Barons eigenes Beispiel gegen ihn an. Er schwieg zuletzt; doch ergab er sich darum nicht, und hoffte seine Freunde nach und nach zu überzeugen.

Die Schule wurde eröffnet; und der eigentliche Lehrer, ein sehr einfacher, redlicher Mann, unterrichtete unter Grumbachs Aufsicht. Die Moral, die man vortrug, war herzlich, und ging deshalb wieder zum Herzen. Man versäumte indeß den Verstand der Kinder nicht, sondern machte sie mit dem Umfange aller Pflichten bekannt; und hier zeigte sich wieder eine neue Bestätigung des Grumbachischen Satzes.

Was bedarf es unseres Streites, lieber Herr Baron? sagte Grumbach. Ich brauchte Sie nur unterrichten zu lassen; und Sie würden doch am Ende, gern oder ungern, auf mein Glückseligkeits-System zurückkommen müssen. Setzen Sie den Kindern, welche Tugend Sie wollen, aus einander; immer bleibt menschliche Glückseligkeit der Prüfstein der Tugend. Was heißt: sey tugendhaft? Drücken Sie es auch noch so spitzfündig aus; sagen Sie, wie schon ehemals: handle so, daß deine Handlung ein allgemeines Gesetz für alle vernünftige Wesen werden kann; setzen Sie diesen Satz auseinander, (und das müssen Sie, wenn er verstanden werden soll); so werden Sie doch immer auf die Lehre stoßen: thue wohl, befördere die Vollkommenheit, das Glück, das Wohlseyn des Ganzen! Sie können das nicht umgehen; und da haben Sie wieder das Glück, um dessentwillen allein die Tugend wirksam seyn soll. Nun fordere ich, was ich selbst thue; denn Pflicht giebt Rechte. Mein Glück bleibt also auch hier das Ziel meiner Handlungen. Versuchen Sie es einmal mit irgend einer Tugend. Selbst die Pflichtmäßigkeit einer Handlung läßt sich nur dann bestimmen, wenn sie an das Wohl, an das Glück des Ganzen gehalten wird. Wie gesagt, Sie können es nicht umgehen.

Der Baron schwieg. Er setzte sich nun hin, um ein System auszuarbeiten, mit welchem er alle Angriffe niederzuschlagen hoffte. „Sie sollen sehen!“ sagte er wohl hundertmal; doch nie brachte er das System zum Vorschein. Da er sich aber fest an seine Definition der Tugend hielt, so behauptete er nun eine Zeitlang, es sey gar keine Tugend auf Erden möglich. Und dies gab man zu; doch nur mit dem Vorbehalte; eine solche Tugend, wie er meine.

Lieber Baron, sagte Rheinfelden; halten Sie es nicht für Tugend, daß ich Lissows Kinder aus den Flammen rettete, und sie dann mit Sorgfalt erzog? – „Nein, Rheinfelden!“ erwiederte der Baron. „Sie thaten es nur, um sich von Ihrer Gewissensangst zu befreien, folglich aus Eigennutz.“ – Ich mußte also keine Reue fühlen, um recht eigentlich tugendhaft zu seyn? – „Richtig! Sie mußten das Verbrechen nicht begangen haben, wenn Ihre Handlung tugendhaft seyn sollte.“ Es ging hier wie bei allen Streitigkeiten. Bald behielt der Recht, bald dieser; und jeder blieb bei seiner Meinung.

Indeß hatte die Schule den besten Fortgang. Ob man gleich lehrte, der Mensch müsse tugendhaft seyn, wenn er glücklich seyn wolle, und obgleich der Baron prophezeiete, auf diese Art würde man nichts als die eigennützigsten Leute ziehen, die nie eine Hand rührten, wenn sie nicht ihren Vortheil bei Heller und Pfennig berechnen könnten: so wurden die Kinder dennoch sehr gute Menschen, welche die Tugend und ihre Wohlthäter von ganzem Herzen liebten, und selbst des Barons Herz gewannen, ob er gleich noch immer bei seinem Satze blieb.

Alles nahm Theil an dem Unterrichte. Selbst die Alten brachten im Winter täglich eine Stunde auf dem großen Saale zu, wo Grumbach Zeitungen vorlas und erklärte, und jede Gelegenheit benutzte, Aberglauben zu bekämpfen, Irrthümer auszurotten, und den Verstand der Bauern – nicht mit Kenntnissen zu überladen, sondern einfach und rein zu erhalten. Der Mensch, sagte Grumbach, braucht wenig zu wissen, um weise zu seyn, um gut zu handeln und zufrieden zu leben. Den meisten Schaden thun Aberglaube und Irrthümer. Es kommt gar nicht so sehr auf das Wissen an als auf das Nichtwissen der Irrthümer. Eine leichte, einfache, verständliche Moral, einige Begriffe von der Natur und den Geschäften des bürgerlichen Lebens, dann eine vollständige Kenntniß des Ackerbaues – was brauchen meine Bauern weiter? Haben sie das, dann sind sie so große Philosophen, als sie seyn müssen.

Der Baron setzte aber die Weisheit noch immer in Vielwissen, zumal in das systematische. Er verlangte, der Bauer sollte den Pflug definiren können; Grumbach bloß, er sollte im Stande seyn, selbst einen Pflug zu verfertigen. Was einer machen kann, sagte Grumbach, das kann er auch definiren; ob mit Worten, darauf kommt nichts an. – Der Baron verlangte, die Bauern sollten Mineralogie lernen; Grumbach zeigte ihnen die Bestandtheile des Bodens um Zaringen, und glaubte, die Erdarten, die sie nicht in ihrer Flur hätten, wären ihnen gleichgültig.

Endlich zog der Baron seine Hand ganz von dem Unterrichte ab, weil man die Bauern nicht in Allem unterrichten wollte; Grumbach erreichte nicht einmal das Wenige, das er für nothwendig hielt, und war dennoch zufrieden. Seine Landleute wurden fleißige, glückliche Menschen, und in einem höheren Grade, als er selbst gedacht hatte. Er sah, daß die Beispiele von Tugend, die ihnen gegeben wurden, mehr thaten als der Unterricht; und so blieb er bei der Behauptung: das System sey gut, nur nicht für den Menschen, sondern für den Gelehrten.

Unter diesen Streitigkeiten ging Ein Jahr nach dem andern hin. Die Kinder im Dorfe wurden groß, fleißig und verständig; die Fluren ringsumher waren die besten in der ganzen umliegenden Gegend, und die Einwohner von Zaringen die wohlhabendsten. Alles gedieh, alles war glücklich, und der Justizamtmann, der die erledigte Stelle wieder bekommen hatte, der Ueberflüssigste im ganzen Dorfe. Man wußte von keinen Klagen, keinen Strafen, selbst nicht einmal von Brüchen, da die Mädchen erst neun Monathe nach der Trauung in das Kindbett kamen. Einem jungen Paare, das sich liebte, wurde nichts in den Weg gelegt; und Mittel, sich zu nähren, fehlten keinem, selbst wenn sein Eigenthum nur klein war. Der alte Grumbach sorgte für Arbeit, bei welcher der Baron nichts weiter verlor, als höchstens die Zinsen von einem Jahre. Kurz, trotz allen Voraussagungen des Barons, wurden die Menschen, die um ihn lebten, mit jedem Jahre besser, menschlicher, weiser, und eben darum auch glücklich. Als Grumbach endlich, von seinen Freunden umringt, auf dem Sterbebette lag, faßte er des Barons Hand, und sagte mit der letzten schwindenden Kraft: bald bin ich im Grabe; doch, wenn ich mein Leben noch einmal wiederholen sollte, ich wüßte das letzte Viertheil nicht besser anzuwenden, als ich es hier bei Ihnen konnte. Ich hinterlasse Ihnen ein Dorf voll Menschen, unter denen nicht Ein Unglücklicher, nicht Ein Bösewicht ist. – Er lächelte freundlich; die Belohnung des Himmels in seinem Herzen schien sein Gesicht zu verklären.

Iglou nahm, auf einen sanften Wink von ihm, mit bebenden Händen die Laute, setzte sich an sein Bett, und spielte in dieser großen Minute, da ein Weiser, ihr Freund und Vater, die Erde verließ, mit innigerem Gefühle als jemals. Sie sang ein Lied an den Tod, in das die Andren sanft einstimmten. Der Greis lächelte ihnen Allen zu, streckte ihnen seine Arme entgegen, und starb unter den Worten:

 

Sanft führt der Menschheit Schutzgeist dich,

Der Tod, in bess're Welten!

 

Jakobine lag knieend vor ihm, und hatte seine Hand an ihre Lippen gedrückt. Sie ließ die Hand fahren, als sie das Zucken darin fühlte, und rief mit brechender Stimme: er ist todt! Eine wehmüthige Stille, ein heiliges, betendes Lächeln feierte seinen letzten Augenblick. Alle küßten ihn, und umarmten einander; es war nicht Einer unter ihnen, der nicht fühlte, daß er den Todten einst wiedersehen werde. Das ganze Dorf begleitete ihn zum Grabe; denn nie wurde ein Mensch aufrichtiger und allgemeiner bedauert als Grumbach, der Aller Freund und Vater gewesen war. Nicht lange nach ihm starb auch die edle Frau von Flaming, und ihr Tod erregte eben so gerechte und allgemeine Betrübniß.

Grumbachs Anstalten geriethen durch seinen Tod nicht ins Stocken; er hinterließ ihnen in Iglou, Lissow und Rheinfelden Beschützer, die in seinem Geiste fortarbeiteten. Aber freilich hatten diese mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen als er, da sie es nicht ganz so gut verstanden, den Baron zu lenken. Dieser kam jetzt wieder mit mancherlei Planen hervor, die er, wenn der edle Greis noch da gewesen wäre, gewiß nicht geäußert hätte.

Zum Glück für Zaringen fand er bald eine Beschäftigung, über die er die Schule seines Dorfes, und alles Andre vergaß. Der Lärm, den Lavaters physiognomische Fragmente machten, war ihm sehr unangenehm. Er ließ sich das theure Werk kommen, las es seufzend durch, und sagte dabei wohl hundertmal: „ach Iglou! ach Rheinfelden! ach, mein Sohn! wie unglücklich bin ich! wie neidisch ist mein Geschick auf meinen Ruhm gewesen! Seht her! der Ruhm, der diesen Lavater krönt, gehört eigentlich mir; denn schon vor zwanzig Jahren wußte ich das alles, und noch mehr als das. Der Prediger, seine Schwester, alle Bauern im Dorfe sind meine Zeugen. Ja, es ist aktenmäßig erwiesen; denn meine Unterthanen haben mich einmal wegen eben dessen verklagt, was nun diesen Lavater zu einem berühmten Manne macht. Schon lange vor ihm habe ich aus dicken Lippen, platter Stirn, starken Backenknochen und aufgeworfenen Nasen den Charakter der Menschen bestimmt. Hätte ich nur die Papiere noch, die ich, leider, an meinem Hochzeittage verbrannt habe! O Iglou, um welch ein Glück hast du mich gebracht! Lieber Rheinfelden, ich war noch weit mehr als Lavater. Das, wovon er nur einen sehr kleinen Theil giebt, konnte ich ganz geben. Er lehrt den Charakter eines Menschen nur aus dem Gesichte schließen; ich aus der ganzen Gestalt, aus Farbe, Zähnen, Haar. Und dazu hatte ich noch tausend moralische Kennzeichen, und auch Campanella's Methode, in den Geberden eines Menschen seine Empfindungen, seine Gedanken zu lesen. Beinahe glaube ich, daß Lavater irgend etwas von meinem System erfahren hat. Gott verhüte nur, daß er nicht auch etwas von meiner allgemeinen Sprache wittert! Er wäre im Stande, mir auch diese Erfindung zu rauben. Seht ihr nun wohl? Ihr verlachtet mich immer mit meinem System; hier ist es nun gedruckt, und wird von der Welt bewundert. Hätte ich mich nur nicht von den Schwierigkeiten schrecken lassen, die man mir erregte! Mich verklagten ja meine Unterthanen wie Lavatern das Schustergewerk. – Käme ich jetzt noch mit meinen Ideen zum Vorschein, so würde man glauben, ich hätte sie von Lavatern entlehnt. So werden sie mir Eine Erfindung nach der andern wegnehmen, und meinen Ruhm einernten. Und wer ist Schuld daran als ihr? Habt ihr nicht immer meinen Systemen widersprochen? Gesteh' es nur, Iglou, auch du, so lieb du mich hast, bist die Feindin meines Ruhmes. Wie unmäßig lachtest du nicht, als ich die Perser von Aeschylus für ein Lustspiel erklärte! Ich fürchte, nun wird ein Anderer das drucken lassen, und dafür bewundert werden.“

Iglou und Rheinfelden suchten den Baron zu beruhigen; aber Lavaters Fragmente nagten wie ein Geier an seinem Herzen. So oft er in ein Zimmer trat und Silhouetten darin sah, wurde er traurig. „Ach“, dachte er; „bei jedem Schattenrisse könnte man nun an den Baron Flaming denken, wie jetzt dabei an Lavater gedacht wird!“

Er arbeitete nun wieder sehr fleißig, indeß sehr geheim, an der weitern Ausbildung seiner allgemeinen Sprache; und diese Arbeit, der er alle seine Zeit widmete, zog ihn gänzlich von anderen Geschäften ab. Das Glück seiner Unterthanen konnte also durch Iglou's, Rheinfeldens und Lissows Bemühungen ungehindert wachsen. Des Barons Sohn wurde ein sehr edler Jüngling, obgleich seine Physiognomie seinen Vater, so oft er sie mit Lavaters Köpfen verglich, zu einem traurigen Kopfschütteln brachte.

Nicht lange, so lebte der Baron ganz wieder in seinen ehemaligen Grillen. Er machte eine Reise nach Braunschweig, und besprach sich mit Nicolini, dem großen Pantomimen. Diesem theilte er seine Idee mit, die schönsten Trauerspiele aller Sprachen bloß durch Mimik aufführen zu lassen. Nicolini lachte ihm ins Gesicht. Der Baron nannte ihn einen Possenreißer. Er ging, voll Verdruß über den Kaltsinn des Menschen gegen alles Schöne und Neue, nach Zaringen zurück, und arbeitete wieder an seiner Empfindungssprache.

In den späteren Jahren zog ihn die Luftschifferei sehr an. Er verschwendete in der That nicht geringe Summen an eine ärostatische Maschine. Als sie endlich fertig war, fehlte es an jemanden, der darin aufsteigen wollte. Der Baron entschloß sich selbst dazu. Aus der ganzen umliegenden Gegend hatten sich Tausende von Menschen gesammelt, ihn in der Luft schiffen zu sehen. Er stand, als der Ballon gefüllt war, an der Gondel, aber freilich vor Angst zitternd. Auch die Frau von Graßheim war nach Zaringen gekommen. Sie sagte: lieber Vetter, erinnern Sie Sich, wie unglücklich Ihre Fahrt auf dem Triumphwagen ablief! Ich fürchte, mit dieser geht es noch schlimmer. Iglou rettete den armen Baron aus der Verlegenheit; sie sagte ihm leise: steig ein, lieber Mann; der Ballon hebt sich nicht. Er warf einen rathenden Blick auf Iglou, die ihn versichernd ansah. In dem Augenblicke, da er in die Gondel stieg, faßte Iglou den Ballon an, und riß mit einem kleinen Messer ein Loch hinein. Die Luft strömte hinaus, und der Taffent fiel zusammen. Der Baron sagte, als seine Angst vorüber war: „es gehört doch Mut dazu, einzusteigen!“ Freilich dankte er heimlich dem Himmel, daß die Maschine sich nicht gehoben hatte; indeß er konnte doch nun sagen, daß er eingestiegen war, und stand dem bewunderten Blanchard nicht nach.

Nun kam der Zeitpunkt der Kantischen Philosophie; und auch darin fand der Baron nichts, als was er schon längst gewußt hatte. Er studierte Kants Schriften, schrieb selbst darüber, und sah, wo dem Prediger, Rheinfelden und Lissow'en alles dunkel blieb, das hellste Licht. Er wollte erklären; aber was er sagte, war noch dunkler als die Schriften des großen Philosophen selbst. Von jetzt an sprach er nur von Raum und Zeit, von synthetischen und analytischen Urtheilen, vom kategorischen Imperativ. Er warf alles über den Haufen; nichts galt ihm mehr für wahr, ausgenommen was Kant gesagt hatte. Jetzt verlangte er von dem Prediger, von dem Schullehrer, sie sollten nach Kantischen Grundsätzen unterrichten. Beide sagten: wir verstehen ihn nicht. „Aber“, erwiederte der Baron, „was schadet das? Lehren Sie doch nur, was er sagt!“ Man konnte jetzt gar nicht mehr mit ihm auskommen; denn er sprach so dunkel wie ein Prophet.

Alle seine Freunde dankten dem Himmel, als endlich die Französische Revolution sich seiner Phantasie bemächtigte. Die Eroberung der Bastille setzte ihn außer sich, und in seinem Enthusiasmus wollte er selbst nach Paris. Iglou suchte vergebens ihm davon abzurathen. „Nein, Iglou“, sagte er; „laß mich Zeuge davon seyn, wie eine große Nation die Kette der Sklaverei zerbricht.“ Er war durch keine Vorstellungen zu halten, und reiste in der größten Eil. Selbst bei Emilien in Burggräfenrode hielt er sich kaum einige Tage auf: so sehr lag ihm Paris am Herzen. Kein Postillon brachte ihn schnell genug auf den heiligen Boden der Freiheit. Als er hinter Luxenburg die Französische Gränze betrat, schien ihn eine andre Luft anzuwehen; sein Herz schlug freier, stärker, und der Anblick der Freiheitsbäume, um welche die enthusiastischen Landsleute tanzten, lockten Thränen aus seinen Augen.

„Liebe Iglou“, schrieb er, „ich bin ein alter Mann; aber der erhabne Anblick dieser Nation, die wie durch einen Zauberschlag von der entehrendsten Weichlichkeit, von der tiefsten politischen Apathie, von dem größten Egoismus, zu der größten Stärke, zu dem edelsten Patriotismus, zu allen Tugenden der erhabenen Römerwelt zurückgekehrt ist, giebt meinem Herzen noch einmal jugendliche Kräfte. Hier auf dem heiligen Boden, den die Freiheit, die Tugend und die schönste Menschlichkeit bewohnen, bin ich ein anderes Wesen. Meine Seele ist noch einmal so stark als sonst; meine Brust schlägt freier. Ich werfe kühne Blicke umher, und es ist, als ob hier das Weltall mein wäre!“ So enthusiastisch sprach er in jedem Briefe.

Endlich kam der Baron in Paris an, und hier erwachten seine ehemaligen politischen Ideen wieder in ihrer ganzen Stärke. Er war zugegen, als die erste Konstitution beschworen wurde, und beschwor sie aus vollem Herzen mit. Das Kapitel der Menschenrechte erfüllte sein Herz mit der höchsten Wonne. „Ach!“ rief er hundertmal; „wenn doch Grumbach noch lebte, und sähe, was ein System thut! Diese große Nation hat endlich der Welt ein Beispiel gegeben, daß philosophische Systeme ausführbar sind. Hier herrscht ja das System einer philosophischen Staatsverfassung.“

Natürlicher Weise machte sich der Baron mit seiner begeisterten Phantasie an die Konstitution; er fand sie aber bei einer Prüfung nicht frei genug, weil sie einen König beibehielt. Die mancherlei Broschüren, welche erhitzte Phantasien damals zu Tausenden hervorbrachten, begeisterten ihn noch mehr. „Weg mit dem Könige!“ sagte er in einem politischen Klub, dessen Mitglied er war; und beinahe wäre er das Opfer seines republikanischen Eifers geworden. Man sprach gegen ihn; und er vertheidigte seine Grundsätze. Nun wurde man hitzig, stürmte auf den Königsfeind ein; und es kostete ihm Mühe genug, sich zu retten.

Nach und nach wurden seine Grundsätze allgemeiner. Das Projekt einer philosophischen Republik, welches einige philosophische, aber die Menschen nur nach sich beurtheilende, Köpfe entworfen hatten, fand immer mehr Anhänger; der Enthusiasmus der Nation verstärkte sich durch das Reiben der so unendlich verschiedenen Köpfe, durch den Widerstand der monarchischen Parthei, durch das Streiten über die verschiedenen Meinungen. Was man heute, bloß um seinen Gegner zu verwirren, behauptet hatte, ohne es selbst zu glauben, das behauptete man morgen wieder, um nicht nachzugeben; übermorgen glaubte man es selbst, und kämpfte, wenn es Noth that, für die Grille von vorgestern.

Der Baron befand sich hier in seinem Elemente; er ging der Revolution immer voraus, und war immer noch höher als sie. Man hätte ihm beinahe das Leben genommen, als er rief: weg mit dem Könige! und einige Monathe nachher rief fast jeder eben das. Aber der Baron blieb dabei nicht stehen. Selbst ein agrarisches Gesetz war ihm nicht genug; er that in einem vertrauteren Klub den Vorschlag, auf einmal alles Eigenthum einzuziehen, es öffentlich zu verwalten, nach Peruanischer Sitte den ganzen Boden Frankreichs durch die Nation bearbeiten zu lassen, alle Künste (nur die mechanischen ausgenommen) und alle Wissenschaften (nur die Philosophie nicht) wegzuschaffen, und aus Frankreich eine Spartanische Republik zu machen. Das schien ihm kinderleicht. „Die Franzosen“, sagte er, „dürfen nur arm seyn wollen, um reich, frei und gleich zu werden.“ – Das eben, antwortete einer brüllend, will niemand, wenigstens keiner, der mehr hat, als er braucht, um trocknes Brot zu essen.

„So treibt“, rief der Baron, „diese Egoisten vom Boden der Freiheit, den sie besudeln!“ Man staunte ihn an; aber nicht lange, so herrschten seine Grundsätze in ganz Frankreich. „Ha!“ rief er; „da sieht man es! hier dieser Boden, dieses Volk hat mir gefehlt, um meine Systeme zu realisiren. Unter dem Drucke gedeihet kein System. Ueberall kämpfte ich in meinem Vaterlande mit Schwierigkeiten; selbst die edelsten Menschen konnten ihre Seelen nicht hoch genug erheben, meine Systeme wahr zu finden. Und hier, hier ist mein vollkommner Staat ausgeführt; hier steht der erhabene Koloß, den Grumbach und meine andern Freunde für den Traum eines fieberhaften Kranken hielten.“

Mit dem Dekrete, das die Schwarzen für frei erklärte, war er gar nicht zufrieden; denn auch sein Menschenracen-System war aufs neue in seinem Kopfe, ob er gleich zu seiner Verwunderung fand, daß die meisten Franken schwarzes Haar und schwarze Augen hatten.

Er ehrte zwar die Menschlichkeit, mit der man so viele unglückliche Neger von der drückendsten Kette los machte; aber dennoch war er überzeugt, daß man irrte. Auf einem Kaffeehause trug er seine Gründe einigen seiner Freunde vor. – Alle Menschen sind frei! schrie auf einmal ein gemeiner Kerl mit einer rothen Mütze, und schwang seinen Säbel dem Baron vor dem Gesichte. Seht doch! dieser Hund von Tyrannen, dieser Royalist, dieser Anhänger Coburgs, will die Schwarzen wieder an die Kette legen. „Nicht an die Kette; aber ich will ...“ – Du willst, du Lohnknecht des Despotismus? Du sollst nichts wollen, als was ich will; denn ich bin ein Theil der Souveränetät. Und dahin wollen wir es noch bringen, daß sogar die Thiere, Hunde und Pferde, frei und gleich sind wie die Menschen. Dahin soll es noch kommen! Was? die Schwarzen hätten keinen Verstand? Da höre einer den Hund von Aristokraten! Wir hatten ehedem auch keinen, und konnten nicht am Hofe erscheinen; aber die Freiheit hat uns Verstand gegeben. Siehst du, elende Sklavenseele? Ich begreife recht gut, daß du uns wieder in das alte Joch hineinschwatzen willst. Nieder mit dem Sklaven!

Man umringte den Baron; man fragte, lärmte, und rief: ein Aristokrat! er behauptet, die Sklaven in den Kolonieen dürften nicht frei seyn! Endlich zwang man ihn, auf die Kniee zu fallen und den Schwarzen das Unrecht öffentlich abzubitten. Er mußte sich dazu entschließen, um der Wuth der tobenden Menge zu entgehen. – Da sehen Sie die Folgen der Freiheit! sagte einer seiner Bekannten, der mit ihm wegging. „Es war grausam“, erwiederte der Baron; „aber der Grund, aus dem man tobte, war doch edel. Hätte man nur meine Gründe anhören wollen!“ – Das eben ist ja unser Elend, daß niemand mehr hört, selbst den Weisen nicht.

Noch einige Male lief der Baron Gefahr, ermordet oder eingekerkert zu werden. So weh es ihm auch that, sein System so verdammt zu sehen, so blieb er dennoch der Revolution treu. Endlich aber wurde er auf eine härtere Prüfung gesetzt. Wohl hundertmal hatte er, wenn von dem Morden in den Provinzen die Rede war, seinen Freunden gesagt: „laßt es auch Blut kosten; Blut ist in den jetzigen Zeiten nichts werth. Ich sehe sogar ein, daß vielleicht noch einige Tausend Köpfe fallen müssen, um die Republik zu gründen.“ Was er für nothwendig hielt, geschah; die gräßlichen Mordscenen in Paris hoben an, und die Girondins wurden hingerichtet. Das erschütterte den Baron; aber noch immer verlor er den Muth nicht. Er dankte nur Gott, daß er nicht Gewalthaber war, weil er fühlte, daß er nicht muthig genug seyn würde, Menschenblut zu vergießen, um Menschen glücklich zu machen. Das Morden wurde die Tagesordnung. Jetzt wollte er den Boden verlassen, der mit Leichen und Blut gedeckt war; aber er wagte es nicht, einen Paß zu fordern. Täglich sah er nun, wie Robespierre das System, welches er selbst als das glücklichste für Frankreich angepriesen hatte, das System alles Eigenthum aufzuheben, mit Strömen von Blut, mit Verwüstung des ganzen Landes, einzuführen suchte; und mit Zittern fühlte er, daß Robespierre wirklich so verfahren mußte, wenn eine vollendete Gleichheit in Frankreich herrschen sollte.

Er verwünschte sein System bis in den Abgrund der Hölle, als er endlich selbst die Folgen der republikanischen Tyrannei empfand. Man stellte eine Hausdurchsuchung an. Es wurde verrathen, daß er ein Fremder war, und nun schleppte man ihn in ein Gefängniß. Täglich sah er einige Schlachtopfer zu der Guillotine führen, und der grausame Kerkermeister versicherte ihm oft mit einem tückischen Lächeln, daß die Reihe bald auch an ihn kommen würde.

Hier fing der Baron an nachzudenken. Er war in einem kleinen Zimmerchen mit einem alten ehrwürdigen Franzosen zusammen, dessen ganzes Verbrechen darin bestand, daß er einige aus Paris entflohene Unglückliche aufgenommen hatte. Ihr gleiches Schicksal machte sie bald zu Freunden. Der Baron bemerkte mit Erstaunen, daß der alte unglückliche Mann noch immer für das Revolutions-System eingenommen war, welches er selbst jetzt von ganzer Seele haßte. Anfangs verbarg er seine Gesinnung; doch endlich bekam er Vertrauen zu dem alten Franzosen. Das neue System, sagte dieser, kostet mir mein Vermögen, zwei Söhne, die an den Gränzen gefallen sind, und eine Tochter, die vor Hunger und Angst gestorben ist.

„Und Sie lieben dieses schreckliche System noch immer?“

Ist es nicht schön, eine ganze Nation frei zu sehen vom Drucke der willkührlichen Macht, und von dem noch grausamern Drucke des Aberglaubens? Warum soll ich ein System nicht lieben, das, wenn es allgemein eingeführt wäre, die Menschen beglücken müßte?

„Beglückt es die Menschen?“ fragte der Baron, bitter lächelnd. „Es kostet Ihnen, wie Sie sagen, ...“

Zwei Söhne, eine Tochter, meine Freiheit, und höchst wahrscheinlich mein Leben. Aber ist daran die neue Konstitution schuld? Mit nichten, sondern die Menschen, die für dieses System noch lange nicht reif genug sind. Lieber Freund, es ist ein gefährliches Ding um das Systemmachen. Wenn der Philosoph die Systeme bloß in Büchern aufstellt, gleichsam zur Schau als das letzte Ziel, das die Menschheit erreichen sollte, vielleicht auch einmal erreichen wird: so liebe ich sie. Sie sind der Spiegel, in welchem wir sehen, wie viel uns noch fehlt, um vollkommen zu seyn. Aber es ist schlimm, daß der Philosoph selten etwas denkt, was er nicht eitel genug ist, auch sogleich ausführen zu wollen; und das macht unser Unglück. Jedes Zeitalter hat seinen Grad von Vollkommenheit, den es erreichen kann, der für die Köpfe und die Herzen des Volkes paßt. Wird ein Volk aufgeklärter und besser, so findet sich ganz von selbst ein Zustand, der ihm angemessen ist, ohne daß der Philosoph etwas dazuthun kann, doch auch, ohne daß er deshalb unnütz wird. Er steht immer eine Stufe höher als das Volk; so wie dieses neben ihn tritt, steigt er wieder eine Stufe hinauf, und lehrt von da das Volk, der Stufe, auf die es gekommen ist, würdig zu werden. Das geschieht aber nach und nach, langsam; und bis dahin sind alle Systeme der Philosophen, so wahr sie auch seyn mögen, dem Volke nichts als Träume. Das Herz, es mag beschaffen seyn, wie es will, bleibt nie ohne ein System, das zu ihm paßt, vielleicht nur um ein weniges vollkommener ist als die Gesinnung des Volkes; aber viele Systeme bleiben ohne Herzen, die zu ihnen passen. Sie ausführen wollen, heißt der Menschheit Gewalt anthun; und das war unser Fall. Die Herzen der Franzosen hatten immer ein System, eine Philosophie, eine Moral, die für sie paßte. Der fürchterliche Druck von oben stürzte die alte Ordnung. Einige Philosophen, hauptsächlich die Girondins, baueten ein System, das ihren Köpfen angemessen war. Bösewichter entrissen die Ausführung ihren Händen; und das gewiß gutgemeinte System wurde nun Unsinn und eine Quelle von Elend. Ungebildete Leute sollten Philosophen werden, und waren doch kaum Menschen. Man wollte Leute, die nichts als Egoisten gewesen waren, auf einmal, ohne Uebergang zwingen, alles für das Ganze, nichts mehr für sich zu thun; und das verlangen Schurken, die allein das Recht haben wollen, Egoisten zu seyn. Wäre Condorcet nicht gestürzt, vielleicht hätten dann die Freunde des alten Drucks den Boden Frankreichs mit eben so vielem Blute gedüngt, als die jetzigen Schurken es thun, um das schöne Gespenst einer philosophischen Republik herauf zu zaubern, das sie eben so wenig lieben, für das sie eben so wenig passen wie die ausgewanderten Prinzen und der Adel. Ein glänzendes, gutes, wahres System zu bauen, ist in der That nicht schwer; aber Ehre und Dank verdient nur der Erfinder eines für seine Nation guten und wahren Systems. Der Mensch, der nun einmal dazu gemacht ist, alles zu generalisiren, findet sicher das System aus, dessen er bedarf. So gab sich jedes Volk seine Theologie, die es gebrauchte; und es verfeinert sie, wenn sie nicht mehr passen will, so wie das Haus der Schnecke größer wird, wenn sie selbst wächst. Eine Nation braucht wahrhaftig weniger Systeme als Menschen, die sich des Einzelnen mit Rath und That annehmen. Einen Menschen von seinem Aberglauben zu befreien, findet man so klein, so unbedeutend gegen das Bestreben eine ganze Nation zu belehren und zu erleuchten. Man bedenkt nicht, daß die Weisheit aller Einzelnen zusammengenommen den Grad, den die Aufklärung einer Nation erreicht hat, mehr bestimmt als die Weisheit einiger Gelehrten. Gutes thun, segnen, lieben, einzelne Menschen unterrichten, ist in der That eben so verdienstlich als eine ganze Wissenschaft durcharbeiten. Wenigstens bedürfen wird es Ersteren mehr als des Letzteren. Geben Sie Acht, man wird noch ein Dutzend Konstitutionen machen, und sie alle wieder abschaffen, bis Zufall, Noth, Glück oder die Vorsehung meinen armen Landsleuten eine Verfassung geben, die vielleicht inkonsequent ist, aber sich für den Grad ihrer moralischen Bildung schickt. Jemand hat behauptet: die jetzige Generation müsse erst im Grabe seyn; sie passe nicht für die Republik. Er hat Recht; nur begreife ich nicht, warum er nicht auf den Gedanken kommt: die jetzige Konstitution muß aufgehoben werden; sie paßt nicht für die Generation. Ist das nicht der Mörder, der den Reisenden Beine und Kopf abschnitt, daß sie für sein Bett passen sollten? – Solche Unterredungen führten die beiden Gefangenen bis zu Robespierre'ns Sturze. Der Tod des Tyrannen rettete sie vor der Guillotine.

Sobald der Baron seine Freiheit wieder hatte, suchte er Pässe zu bekommen, und verließ nun das Land der Freiheit eben so eilig, als er hinein gegangen war. Er kam nach einer Abwesenheit von fünf Jahren wieder in Zaringen an. Iglou und sein Sohn, jetzt ein sehr edler Mann, freueten sich unbeschreiblich über seine Rückkehr. Lissow und Rheinfelden kamen, sobald sie seine Ankunft erfuhren, zu ihm; denn sie lebten schon lange bei Jakobinen, die eine sehr glückliche Gattin und Mutter geworden war.

Iglou hatte sich unterdessen bemühet, die Zaringer glücklich zu machen, und es war ihr gelungen. Sie erzählte dem Baron zitternd, was sie für das Wohl der Menschen gethan hatte; denn sie fürchtete, daß er Lust haben möchte, die Französische Ordnung der Dinge auch auf seinen Gütern einzuführen. Aber zu ihrer großen Freude irrte sie sich. „Nichts von Systemen, liebe Iglou!“ sagte er mit einer frohen Umarmung. „Die wenigen Tage, die mir die Vorsehung noch schenkt, will ich dazu anwenden, daß ich die Thorheiten meines verflossenen Lebens wieder gut zu machen suche. Alles wollte ich thun, liebe Iglou, und that nichts; du wolltest nicht viel thun, und hast Menschen glücklich gemacht. Ich eitler Thor glaubte, wie Gott, Alles umfassen zu können, und habe mein Leben mit Thorheiten, mit unnützem Abmatten verloren; ich wollte ein Weltbürger seyn, und bin darüber nicht einmal der Bürger meines Staates geworden. Und was wäre ich gewesen, wenn nicht noch mein Herz, meiner Thorheit zum Trotze, menschlich gefühlt hätte! Nein, ich habe gesehen, daß nicht die Systeme den Menschen glücklich machen, sondern das Herz. Von nun an soll es mein System seyn Gutes zu thun, so viel ich kann, und nichts mehr.“

Iglou sank mit Freudenthränen in seine Arme, und sein Sohn drückte ihm zärtlich die Hand. Der Baron hielt Wort. Oft sagte er, wenn ihm etwas Gutes gelungen war: „wie glücklich konnte ich seyn, wenn ich nicht hätte gar zu weise sein wollen!“

Er wurde noch glücklich, und freuete sich über das Glück seiner Freunde. Iglou, die er bis an den letzten Hauch ihres schönen Lebens mit der innigsten Zärtlichkeit liebte, blieb sich immer gleich. Jedermann ehrte sie, als das Ideal der menschlichen Tugend; sie selbst war demüthig. Lissow wußte, daß sie ihre Lebensbeschreibung geendigt hatte, und bat sie dringend um Mittheilung derselben. Sie war nicht zu überreden, und verbrannte die Lebensbeschreibungen den Tag vor ihrem Tode. Kurz vorher las sie noch selbst darin, und mit großer Bewegung. Unvermerkt that Lissow, der an ihrem Sterbebette zugegen war, einen Blick hinein. Er sah meistens nur Charaktere, die sie ohne Zweifel sich selbst anstatt der Buchstaben erfunden hatte, damit das Buch, wenn es auch durch einen Zufall einem Leser in die Hände geriethe, doch unverständlich wäre.

Iglou legte das Buch auf ein Kohlenbecken, und eine Magd mußte es vor ihren Augen in den Kamin des Zimmers tragen. Als es verbrannt war, ließ sie sich das Kohlenbecken bringen. „Asche!“ sagte sie lächelnd; „und ist nicht auch dieses Leben bald Asche?“

Flamings Leben erlosch wenige Monathe nach Iglou's Tode. Er starb mit den Worten: „Thue Gutes, mein Sohn, und habe nicht den Wunsch, mehr zu seyn, als es dem Menschen von der Vorsehung erlaubt ward.“

 

Ende.

 

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1) Den Rechtschaffenen kann keine Beschimpfung treffen! 

2) Vom Troste; von der Standhaftigkeit des Weisen; von der Vorsehung. 

3) Wenn eine Häßliche Liebe erregt, so kann diese Liebe nicht anders als äußerst stark seyn; denn man muß verborgnere, unwiderstehlichere Reitze als die Schönheit, an ihr lieben.