BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Das älteste Systemprogramm

des deutschen Idealismus (um 1796)

 

Fragment eines unbekannten Autors

 

Text

 

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recto:

eine Ethik. Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt – wovon / Kant mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, / nichts erschöpft hat) so wird diese Ethik nichts anders als ein vollständiges System / aller Ideen, oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate enthalten / seyn. die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut / freien Wesen. Mit dem freyen, selbstbewußten Wesen tritt zugleich / eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenk- / bare Schöpfung aus Nichts – Hier werde ich auf die Felder der Physik herab- / steigen; die Frage ist diese: Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen / beschaffen seyn? Ich möchte unsrer langsamen an Experimenten müh- / sam schreitenden – Physik, einmal wieder Flügel geben.

So – wenn die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Data angibt, / können wir endlich die Physik im Großen bekommen, die ich von spätern Zeitaltern / erwarte. Es scheint nicht daß die jezige Physik einen schöpferi- / schen Geist, wie der unsrige ist, oder seyn soll, befriedigen könne.

Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk, die Idee der Menschheit / voran – will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der / Staat etwas mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. / Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heist Idee. Wir müßen also auch / über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechani- / sches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören. / Ihr seht von selbst, daß hier alle die Ideen, vom ewigen Frieden u.s.w. nur / untergeordnete Ideen einer höhern Idee sind. Zugleich will ich hier die Princi- / pien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen, und das ganze elende / Menschenwerk von Staat, Verfaßung, Regierung, Gesezgebung – bis / auf die Haut entblösen. Endlich kommen die Ideen von einer moralischen Welt, / Gottheit, Unsterblichkeit – Umsturz alles Aberglaubens Afterglaubens, Verfolgung / des Priesterthums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die Vernunft / selbst. – die absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt / in sich tragen, und weder Gott noch Unsterblichkeit ausser sich suchen / dürfen.

Zulezt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in / höherem platonischem Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß / der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfast, ein ästhe- / sti tischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit ver-/ schwistert sind – Der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besizen, verso: als der Dichter, die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsre BuchstabenPhilo-/ sophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. M Man kan / in nichts geistreich seyn selbst über Geschichte kan man nicht geistreich / raisonniren – ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich / den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen, – und treuherzig genug / gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Regi- / ster hinausgeht.

Die Poësie bekömmt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wie- / der, was sie am Anfang war – Lehrerin der Geschichte Menschheit; / denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die dichtkunst allein / wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.

Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Hauffen müße eine sinnliche Re- / ligion haben. Nicht nur der große Hauffen, auch der Philosoph bedarf ihrer. / Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungs- / kraft und der Kunst, dis ists, was wir bedürfen!

Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die so viel ich weiß, noch / in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müßen eine neue Mythologie / haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie mus / eine Mythologie der Vernunft werden.

Ehe wir die Ideen ästhetisch d.h. mythologisch machen, haben sie für / das Volk kein Interesse und umgekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muß / sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich aufgeklärte und Unauf- / geklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, und / das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philo- / sophen sinnlich zu machen, dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer / der verachtende Blik, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen / Weisen und Priestern, dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung / aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft / wird mehr unterdrükt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleich- / heit der Geister! – Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß / diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das lezte, gröste Werk / der Menschheit seyn.