Johann Christoph Gottsched
1700 - 1766
Der Biedermann
1727
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0:3 | Vierzehntes Blatt 1727. den 2. Augusti.___________________________________________________________
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0:4 | CANITZ. |
0:5 | Ein aufgeschnittnes Wams, die Tracht der alten Zeit, |
0:6 | Ist nicht so lächerlich als itzt die Redlichkeit. ___________________________________________________________
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53:1 | DIeß ist das andre Schreiben, welches mir von einem unbekannten Freunde |
53:2 | zugeschicket worden. Ich trage kein Bedencken dasselbe in eben dem Stande |
53:3 | zu lassen als ich es bekommen; weil ich es durch meine Aenderung nur seiner |
53:4 | grösten Anmuth berauben würde. Denn ich mache mir die Hoffnung: daß |
53:5 | die darinn befindlichen Spuren einer alten ungekünstelten deutschen Ehrlichkeit, |
53:6 | meinen lieben Lesern eben so wohlgefallen werden, als sie mir gefallen haben. Die |
53:7 | Aufschrifft von außen war: An den redlichen Teutschen, Ernst Wahrlieb Biedermann, |
53:8 | großgünstig abzugeben bey Jacob Schustern in Leipzigk. Der Inhalt |
53:9 | aber lautet folgender maßen.
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53:10 | Alter Bruder Ernst. |
53:11 | DEine vernunfftgemäße naturgescheide Sittenkunstblättlin, welche Du |
53:12 | seit etwelcher Zeyt inn Truck ausgehen lassen, scheinen mir allsämptlichen |
53:13 | nit nur menschlichem Gemüt anmütige, besondern auch in der christlichen |
53:14 | Philosophia eingenaturte Lehrsprüche zu enthalten; vnnd weilen mir |
53:15 | nit zweyfelt, daß selbige vielen andern Geschefft=lautenden Hausbüchlin |
53:16 | billich weren vorzuzihen, als die zu Unterweisung männiglichens, schuldiger |
53:17 | Gebür gemäs zu wandelen, vnnd nit ob blosen vernunfftlichen naturgefolgigen |
53:18 | Heyden zu erschamen vil beytragen; als habe ich es vor diensam erachtet, |
53:19 | dir lieber Bruder Ernst, mein bereitwillige ungesparte Dienst fordersamst |
53:20 | zu vermelden. Du scheinst mir warlichen ein hochsinniger Weißheits=Erkundiger |
53:21 | zu seyn, der mit viel nutzlichen Ermanungen vnd Gesatz |
53:22 | zuvorderst vff ehrliche lobesame Sitten eyffert; darnechst auch durch seine |
53:23 | Vena und Stylus der Teutschen Schreibensart bey männiglichen in zimlich |
53:24 | Achtung kommen: umb welcher beyden Stuck halber Deine Blättlin auch |
53:25 | mir meher vnnd höher gefallen, ja vil daß behagen als vil andre zusammen |
53:26 | gebettelte gezettelte, vnnd gespättelte Werck, die inn unsre unvermengte, reine |
53:27 | vnnd für sich selbs bestendige Muttersprach zu vertollmetschen je zuweilen |
53:28 | wol Not thete. Seiteinmahl mein freundlicher lieber Vater seeliger, treuer |
53:29 | Meinung nach, alstäts davor gehalten, daß wir auf eigene heymische Ehre |
53:30 | alzu vneyfferig weren vnnd alles Teutsches Schreiben von den gutten sinnreichen |
53:31 | Künsten, so etwanig von den Grichen unnd Latinern ehedessen beschriben |
54:1 | worden, schelten und ausblodern: fürgebende, daß man dadurch |
54:2 | die Kunst in ein Kleynachtung bringe und viel Argernuß anrichte: welchergestalten |
54:3 | auch des römischen Gottesdiensts Rümling davor halten, daß die |
54:4 | Sprachwandelung heyliger Schrifften nur zu mannichen Kätzereyen Ursach |
54:5 | geben würde. |
54:6 | Einshallben aber mein lieber Bruder Ernst, trage ich weidlich ein Besorgnuß, |
54:7 | daß du dich nemlich mit deinem Namen Biedermann zu dieser wol |
54:8 | ja recht unbiderlichen Zeyt inn offenen Truck wagen thust. Weißest du denn |
54:9 | nit, daß unsre ehrliche tugendsame Biderleut, rumlicher Gedechtnuß, zugleich |
54:10 | mit ihren alten Schauben, Spitzhüten, Wämbsern, Kragen, weiten |
54:11 | Hosen, Puschbändern unnd breiten Schlachtschwertern, gantz altfränckisch |
54:12 | worden: Welches dich denn von solchem geuerlichen Wagstuck heilsamlich |
54:13 | hette abschrecken können vnnd mügen. Denn
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54:14 | Daß ein Mann sich halte eben, |
Inn eynem unbefleckten Leben, |
54:15 | Fromb redlich, erbar unnd uffrichtig, |
Warhafft, still, trew, weis unnd vorsichtig |
54:16 | Standhafftig, meßig, friedsam, gütig, |
Freundlich, holdselig, unnd großmüthig, |
54:17 | Daß jedermann in gut muß sprechen etc.
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54:18 | Wie der weitgelobte vnnd fürtreffliche teutsche Kunstdichter aus Nürnberg, |
54:19 | gar fein gesungen, das ist bey der heytigen Welt nit allmodisch, italienisch, |
54:20 | französisch vnnd englisch genugh. Du selbst freundlicher lieber Bruder Ernst, |
54:21 | heissest zwaren wohl mit Ehren vnnd Rechten Bidermann, weil nemlich |
54:22 | dein ehrlicher Vater seeliger, weiland so geheissen: Möchtst aber wohl mit |
54:23 | Gunsten zu melden, etwas füglicher Neumann heissen; so weltgeziert kommt |
54:24 | mir deine neufränckische kunstsinnige Schreybensahrt vor. Du suchest deine |
54:25 | Verstandübung überall so wolschicklich vnnd genausichtig mit einzuflechten, |
54:26 | unnd deine Meynung in solche kunstschlüßige Wortgleichheit zu binden |
54:27 | unnd zu enden, daß man dich vor einen Teutschgelehrten Kunstrichter ansehen |
54:28 | sollte und könnte. Das ist aber nit die Weis unsrer ehrlichen Vorväter |
54:29 | christmildesten Andenckens gewesen. Besiehe einmahl vnsers tewren Vaters |
54:30 | D. M. Luthers in alten Zeyten in Truck ausgegangene, vnnd von keinem |
54:31 | neumodischen Ausgeber zerhuntzte Schrifften, als z. E. sein Buch an Hans |
54:32 | Worst von Wolfenbüttel, oder an König Heintz von Engelland; besiehe |
54:33 | anderweit das von Hanns Willhelm Kirchhoff ausgefertigte weidliche |
54:34 | Buch Wendunmuth genannt, darinn allerley lieblicher, nützlicher, kurtzweiliger |
54:35 | Geschicht beschriben sind; vnsrer alten Poeten und Versdichter, als |
54:36 | der Geverlichkeiten vnnd einsteils der Geschichten des löblichen streytparen |
54:37 | vnnd hochberümbten Helds und Ritters Herr Teurdanckhs, welche von |
54:38 | Melchior Pfintzingen in stattlichen sechs biß sieben oder achtsylbigen kurtzlangen |
54:39 | Reimzeilen beschrieben worden; vnnd des vorbelobten Hans Sachsens |
54:40 | vielfältige herrliche Gedicht, dermalen nicht zu erwähnen: Besiehe, sag |
54:41 | ich, alle diese wohlbenannte Werck, so wirst du darinn die rechte alte teutschhertzige |
54:42 | Biedermännische Sprach, inn aller Milde und Zierde finden thun, |
54:43 | wie ich denn meinem ehrengedachten Vater seeligen, es noch Danck weiß, daß |
55:1 | er mich gleich in meiner Jünglingschafft auf diese und desgleichen andre |
55:2 | feine Büchlin mehr, wohlmeynend verwisen. |
55:3 | Hiernächst mein lieber Bruder Ernst, hab ich dich freundbrüderlich zu |
55:4 | ermanen nit Anstand nemen wollen; daß du nit allein vf vnser Männlich tugendliche |
55:5 | Sitten, sondern allewege auch mit vf das adenliche und unadenliche |
55:6 | Weibsvolck, dein Zweck unnd wolbesonnene Absicht kehren sollst. Zu |
55:7 | welchem End es meines geringfügigen Gutdünckens halb, nit scheltbar seyn |
55:8 | würde, wenn du den itzigen neustrotzigen, modischen Prachtpuppen, die |
55:9 | sich in alle Wege wie die Katzen streicheln, mutzen unnd butzen, vnnd in Ermangelung |
55:10 | häußlicher Geschäfft nur leichtfärtig, geyl vnnd mutwillig seyn, |
55:11 | zur diensamen Beschamung, ein recht ehrliches teutsches Biderweib, als ein |
55:12 | fleißige sittsame Hausverwäserin ihres Hauswirts, in einem seinen lieblichen |
55:13 | Kunstgemäl, deiner Lobesamen Weis nach, vorbilden und entschildern |
55:14 | möchtest. Dieser frommen Biderweiber gibt es zu diesen Zeyten leyder so gar |
55:15 | ein sparsame Anzal, daß ich nit Zweifel hege, du habest ebenmäsig aus Ursach |
55:16 | dessen in ein Ehlosen unbeheyrhateten Stand zu bleiben beschlossen, weil |
55:17 | du dir nit eine von den ungesitteten Schandsäcken vnnd Luderpanern an Hals |
55:18 | hengen wollen, die mit lauter buhlerischen Grillen umgehen, und nit wissen |
55:19 | was das heißt, ein ehrsam Weib vnnd gescheide Hausmutter seyn. Welches |
55:20 | Stuck dir vf etwelche Weis leichter zu machen, ich dir hiermit diese inn |
55:21 | etlichen Reimgesätzen Retzselweis verfügte Kern Beschreibung, guthertziger |
55:22 | Meynung nach, zugedacht. Es thut sich aber ein rechtes Biderweib gegen |
55:23 | iren Hauswirt also verhalten.
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55:24 | Wann er schreiet, |
Sie nur schweiget, |
55:25 | Schweigt er dann, |
Redt sie jn an, |
55:26 | Ist er grimmsinnig, |
Ist sie külsinnig, |
55:27 | Ist er vilgrimmig, |
Ist sie stillstimmig, |
55:28 | Ist er stillgrimmig, |
Ist sie troststimmig, |
55:29 | Ist er unsinnig, |
Ist sie kleinstimmig, |
55:30 | Tobt er aus Grimm, |
So weicht sie jm, |
55:31 | Ist er den Wütig, |
So ist sie gütig, |
55:32 | Mault er aus Grimm, |
Redt sie ein jm. |
55:33 | Er ist die Sonn, |
Sie ist der Mon, |
55:34 | Sie ist die Nacht, |
Er hat Tagsmacht, |
55:35 | Was von der Sonnen |
Im Tag ist verbronnen, |
55:36 | Das kült die Nacht, |
Durch des Mons Macht, |
55:37 | Also wird gstillt, |
Alls was ist wild, |
55:38 | Sonst gern geschicht, |
Gleich wie man spricht, |
55:39 | Zween harte Stein, |
Maln niemals klein.
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55:40 | Welche schöne Reimlin ich aus dem Philosophischen Ehzuchtbüchlin |
55:41 | oder der Vernunfft gemäsen Naturgescheiden Ehezucht, des berümbtesten |
55:42 | Griechischen Philosophi Plutarchi, so von Johann Fischarten genandt |
55:43 | Mentzer, nun fast vor zwey hundert Jahren vertollmetscht vnnd ausgegeben |
55:44 | ist, gezogen habe. Dieses wenige freundlicher lieber Bruder habe ich dir |
55:45 | vff dißmal aus guter teutschgesinnter biderlicher Meynnug schreiben wollen, |
56:1 | hoffende du werdest solches sein sanfftiglich und mit allem Glimpf aufnehmen |
56:2 | thun, vnnd deine mehrgelobte Sittenblättlin best möglicher Weis |
56:3 | darnach einzurichten geflissen seyn, verbleibe dir wiederumb zu allen |
56:4 | Ehren=Diensten bereit vnnd hertzlichen zugethan. Deinen vielgeliebten Junckher |
56:5 | Sophroniscus vnnd seine tugendsame Hausehre bitte dienstlichen von mir zu |
56:6 | grüßen, der ich mich seinen vnnd deinen bestendigen Gunsten bevehlend |
56:7 | verbleibe |
56:8 | Lieber Bruder Ernst |
56:9 | geben zu Eckendorff vf St. Johann |
dein vnbekannter doch wolgemeinter und |
56:10 | des 1727 Jahrs |
dienstgeflissener guter Freund |
56:11 | und Bruder | |
56:12 | Wallraff Zuhckmantel von Brümat | |
56:13 | säßhafft zu Eckendorf.
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56:14 | So angenehm mir diese Kerndeutsche Zuschrifft eines redlichen Bidermannes gewesen, so |
56:15 | gern hätte ich ihm längst schrifftlich geantwortet. Da ich aber noch biß diese Stunde nicht |
56:16 | erfahren kan, in welcher Gegend von Deutschland das liebe Eckendorf, darauf er säßhafft |
56:17 | ist, lieget, so muß ich demselben meine Antwort gedruckt hieher setzen, in Hoffnung, daß sie |
56:18 | ihm dergestalt eben sowohl als meine bisherige Blätter zu Händen kommen wird.
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56:19 | Ehrlicher Bruder Wallraff, |
56:20 | DEin treuhertziges und wohlgemeyntes Schreiben bestärcket mich von neuem in den Gedancken, |
56:21 | daß es noch hier und da rechtschaffene Biederleute in Deutschland gebe, und dein |
56:22 | löbliches Exempel lehrt mich aufs deutlichste, daß deutsche Treu und Redlichkeit noch nicht gantz |
56:23 | abgestorben sey, ob sie gleich bißweilen lange gesucht werden muß, ehe man sie findet. Ich dancke |
56:24 | dir vor einen so ungeheuchelten Brief, daraus ich ersehe, daß du auch deinen unbekannten Mitbruder, |
56:25 | um des wenigen Guten halber liebest, welches du etwa an ihm wahrgenommen. Fahre |
56:26 | fort mir mit deinen Ermahnungen zurecht zu helfen, und verschone keines Fehlers den du an mir |
56:27 | wahrnehmen wirst. Du wohnest ohne Zweifel in einer abgelegenen Provintz des deutschen Reichs, |
56:28 | dahin die verderbten Sitten dieser Zeit noch nicht gedrungen sind. Du verstehst auch die HeuchelKunst |
56:29 | nicht, und ich nehme dich deswegen zu meinem Lehrmeister an. Deine Erinnerungen sollen |
56:30 | mir also zur Fürschrifft in meiner künfftigen gantzen Arbeit dienen. Meine Schreibart anlangend, |
56:31 | so wirst du mirs nicht übel deuten, lieber Bruder, daß ich mich darinn nach der Landes=Art |
56:32 | richte, die mir angebohren und durch das Lesen unsrer neuen Schrifften einmahl geläufig |
56:33 | worden ist. Wenn ich gleich so schreiben wollte als du; so würde ich es doch entweder nicht thun |
56:34 | können, oder meine eckle Mitbürger würden es nicht lesen wollen. Wir sehen, wie wenig des |
56:35 | theuren Luthers Schrifften mehr gelesen werden, und unsre Gottesgelehrten, die dessen einzelne |
56:36 | Tractätchen beliebt machen wollen, sehen sich genöthiget, die Schreibart desselben nach der heutigen |
56:37 | Art einzu richten, so gut sichs thun läßt. Was würde man aus mir machen, wenn ich dem |
56:38 | Theuerdanck nachahmen wollte? Hans Wilhelm Kirchhoffs Wendunmuth habe ich in meiner Jugend |
56:39 | etliche mahl durchgelesen; dein Philosophisches Ehezuchtbüchlein aber ist mir bißher gantz |
56:40 | unbekannt gewesen, und ich werde mich bemühen dessen habhafft zu werden. Daß ich meine Lehren |
56:41 | auch zum Nutzen des weiblichen Geschlechts einrichten solle, ist eine gute Fürschrifft: mich |
56:42 | dünckt aber daß ich mich schon in meinem ersten Blatte dazu anheischig gemacht, und in etlichen |
56:43 | andern meinem Versprechen nachgekommen. Um soviel mehr aber werde ich mir inskünfftige |
56:44 | dieses angelegen seyn lassen, da ich von neuem durch dich dazu aufgemuntert worden. Mein |
56:45 | Freund Sophroniscus und seine Ehgattin wünschen dir alles Wohlergehen. Lebe wohl! Ich bin |
56:46 | Werthester Bruder Wallraff |
56:47 | Geschrieben auf meinem Gute N. N. |
Dein ehrlicher Freund |
56:48 | 1727. den 30. Julii. |
E. W. B. |