BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Melchior Goeze

1717 - 1786

 

Etwas Vorläufiges gegen des

Herrn Hofraths Lessings

mittelbare und unmittelbare

feindselige Angriffe

 

1778

 

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[74]

I.

 

Es ist vor einiger Zeit eine Schrift an das Licht getreten, von welcher ich gegenwärtig, aus gegründeten Ursachen, keine nähere Anzeige geben wil, als diese: Sie bestehet aus zween Haupttheilen. Der erste enthält Fragmente, welche Angriffe gegen die heilige Schrift darlegen, und der zweite, Gegensätze des Herrn Herausgebers dieser Fragmente, gegen dieselben.

Der Herr Herausgeber ist eben so wenig mit den bisherigen Widersachern, als Vertheidigern der christlichen Religion zufrieden. Er sagt S. 496: „Es ist falsch, daß schon alle Einwürfe gesagt wären, noch falscher ist es, daß sie alle schon beantwortet wären. Seichtigkeit und Spötterey auf der einen Seite, hat man nicht selten mit Stolz und Naserümpfen auf der andern erwiedert. Man hat sich sehr beleidigt gefunden, wenn der eine Theil [2] Religion und Aberglauben für eins genommen: aber man hat sich kein Gewissen gemacht, Zweifel für Unglauben, Begnügsamkeit mit dem, was die Vernunft sagt, für Ruchlosigkeit auszuschreyen. Dort hat man jeden Gottesgelehrten zum Pfaffen, hier jeden Weltweisen zum Gottesleugner herabgewürdiget. So hat der eine und der andre seinen Gegner zum Ungeheuer umgeschaffen, und ihn, wenn er ihn nicht besiegen können, wenigstens für vogelfrey erkläret. Wahrlich er sol noch erscheinen, auf beyden Seiten sol er noch erscheinen, der Mann, welcher die Religion so bestreitet, und der, welcher die Religion so vertheidigt, als es die Wichtigkeit und Würde des Gegenstandes erfordert.“

Es ist hart, auf diese Art die Feinde der Religion und die Vertheidiger derselben in eine Klasse zu werfen. Was der Herr Herausgeber hier nieder geschrieben, sol ein Resultat seyn. Was ist ein Resultat ohne vorher gegebene Induction? Ein Machtspruch, welchem der Leser einen blinden Beyfal geben sol: welchem er aber mit völligem Rechte ein bloßes: negatur, ergo probetur, entgegen setzen kan. Und wenn es hoch komt, so ist es ein Schlus von einzelnen Fällen auf das Algemeine. Ich wil es einräumen, daß einige Vertheidiger der christlichen Religion sich der von dem Herrn Herausgeber gerügten Fehler, schuldig gemacht haben; verdienen sie darum alle verworfen zu werden? Und der ganze Vortrag des Herrn Herausgebers ist doch augenscheinlich so eingerichtet, daß der Leser das Arge, das er von einigen sagt, von allen denken sol. Der Schlus: wahrlich er sol noch erscheinen, u. s. f. [3] leugnet nicht nur, daß die Religion noch nicht so angegriffen worden, als es die Wichtigkeit und Würde des Gegenstandes erfordert, sondern auch, daß sie noch nicht auf diese Art vertheidiget worden, und solches durch den algemeinsten Ausspruch, der möglich ist. Nach allen Grundsätzen der Logik muß der Herr Herausgeber erst den Beweis des letzten Satzes durch eine volständige und bündige Induction führen, ehe er von seinen Lesern verlangen kan, daß sie solchen als einen, auf unbeweglichen Gründen beruhenden Urtheilsspruch, annehmen sollen.

Meine Absicht ist gegenwärtig nicht, über die, in den Fragmenten enthaltene Angriffe, oder über die, in den Gegensätzen befindlich seyn sollende Vertheidigung der christlichen Religion, eine genaue Untersuchung anzustellen. Dieses kan und wird zu einer andern Zeit geschehen. Wenigstens kan die in den Abhandlungen über wichtige Gegenstände, des Herrn Jacobi, im 3. Th. befindliche vortreffliche und bündige Untersuchung von dem eigentlichen Character und Vorzügen der Bücher des alten Testaments, zu einer vorläufigen Einleitung dazu dienen, und manches aufklären, was hier verwirret und verdunkelt worden. Ich werde gegenwärtig nur über eine Stelle des Hrn. Herausgebers, welche vermuthlich die Grundlage zu den Gegensätzen enthalten sol, eine kurze Untersuchung anstellen. Es ist folgende, S. 495.

„Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Religion, folglich sind Einwürfe gegen den Buchstaben, und gegen die Bibel, nicht [4] eben auch Einwürfe gegen den Geist, und gegen die Religion:

Denn die Bibel enthält offenbar mehr als zur Religion gehöriges; und es ist Hypothes, daß sie in diesem Mehrern gleich unfehlbar seyn müsse. Auch war die Religion, ehe eine Bibel war. Das Christenthum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten. Es verlief eine geraume Zeit, ehe der erste von ihnen schrieb, und eine beträchtliche, ehe der ganze Kanon zu Ende kam. Es mag also von diesen Schriften noch so viel abhängen so kan doch unmöglich die ganze Wahrheit der Religion auf ihnen beruhen. War ein Zeitraum, in welchem sie bereits so ausgebreitet war, in welchem sie bereits sich so vieler Selen bemächtiget hatte, und in welchem gleichwol noch kein Buchstab aus dem von ihr aufgezeichnet war, was bis auf uns gekommen: so muß es auch möglich seyn, daß wenn alles, was Evangelisten und Apostel geschrieben haben, wiederum verloren ginge, und die von ihnen gelehrte Religion doch bestünde. Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist. Aus ihrer innern Wahrheit müssen die schriftlichen Ueberlieferungen erkläret werden, und alle schriftliche Ueberlieferungen können ihr keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat.“

Ich finde in dieser ganzen Stelle, auch keinen einzigen Satz, den ich in der Verbindung in welches er hier stehet, für richtig erkennen könte. Der Herr Herausgeber hat sie zwar alle als lauter Axiomen dahin gepflanzet, aber einige davon bedürfen allerdings [5] noch einen sehr starken Beweis, die übrigen, und das sind die meisten, sind erweislich falsch.

Es ist eine wesentliche Pflicht eines Weltweisen, daß er die Worte, welche die Hauptbegriffe in seinen Sätzen ausdrücken, richtig und bestimt erkläre, und den Lesern ohne alle Zweydeutigkeit auf die bestimmteste Art, die möglich ist, sage, was er selbst dabey denket, und was der Leser dabey denken sol. Der Hr. Herausgeber redet vom Buchstaben und Geiste, von Bibel und Religion, von dem, was zur Religion gehörig und nicht gehörig ist, ohne die Begriffe dieser Ausdrücke, unter welchen doch die meisten vieldeutig sind, im allergeringsten zu bestimmen. Was kan daher anders entstehen, als zweideutige, unbestimte, schwankende und irrige Sätze? Es wird sich dieses augenscheinlich zeigen, wenn wir einen nach dem andern, besonders betrachten.

1. Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Religion. Die beyden Ausdrücke, Buchstabe und Geist, wenn sie einander entgegen gesetzet werden, sind Ausdrücke, welche der Bibel allein eigen sind, 2 Kor. 4, 6. In diesem Verstande finden wir solche bey keinem andern Schriftsteller. Hier heist der Buchstabe das Gesetz, der Geist aber das Evangelium. Nimt der Hr. H. diese Worte aber auch in dieser Bedeutung? nein! sondern da er zween Sätze: der Buchstabe ist nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Religion, zusammen setzet, welche identische Sätze seyn sollen; so sagt er damit zugleich, daß er durch den Buchstaben die Bibel, und durch den Geist, [6] die Religion wolle verstanden wissen. Nach dieser Erklärung getraue ich mir die Gegensätze zu behaupten: der Buchstabe ist der Geist, und die Bibel ist die Religion, und solches mit eben dem Grunde, mit welchem Jesus sagt: die Worte, die ich rede, sind Geist und L.eben. Joh. 6, 63. Das Wort, Religion, kan entweder objective, oder subjective genommen werden. Im ersten Verstande bedeutet solches diejenigen Lehrsätze zusammen genommen, welche ein Mensch erkennen und als Wahrheit annehmen muß, der sich gegen Gott gebührend verhalten wil: und in dem zweiten Verstande bedeutet solches die Gemüthsfassung, und das Verhalten eines Menschen, welche er im Verhältnisse gegen Gott, zu haben, und zu beweisen schuldig ist. Natürlicher Weise kan der H. H. durch den Buchstaben und durch die Bibel nichts anders verstehen, als was die Gottesgelehrten die innere Form der heil. Schrift nennen, nemlich den Sin und Verstand der, mit Worten ausgedrückten Sätze, und den daraus entspringenden Zusammenhang der Gedanken und Vorstellungen, welche durch die heil. Schrift, ihrem Endzwecke gemäs, bey den Menschen hervorgebracht werden sollen. Da nun diese Sätze der heil. Schrift, und der daraus entspringende Zusammenhang der Gedanken und Vorstellungen von unserm Verhältniße und Verhalten gegen Gott, die Religion, objective genommen, ausmachen; so ist allerdings der Buchstabe der Geist, und die Bibel ist die Religion. Ist nun die Erkäntnis, die Gesinnung und Gemüthsverfassung eines Menschen, dem Systeme der Glaubenslehren und Lebenspflichten [7] der heiligen Schrift gemäs; so kan ich mit Recht sagen: ein solcher Mensch hat die Religion der heil. Schrift. Was sind also die Antithesen des Hrn. H.? spielender Witz? oder Wahrheit?

2. Folglich sind die Einwürfe gegen den Buchstaben, und gegen die Bibel, nicht eben auch Einwürfe gegen den Geist und gegen die Religion. Eine Folge, welche nothwendig die Natur des Grundsatzes haben muß, aus welchem sie hergeleitet wird. Jener ist falsch, also kan diese nicht wahr seyn. Da nach der Erklärung, welche ich vom Buchstaben und Bibel, vom Geist und Religion gegeben habe, und welche der Hr. H. auch nothwendig annehmen muß, wofern er nicht etwas ganz Unbedeutendes gesagt haben wil, beyde, Buchstabe und Geist, Bibel und Religion, eines sind; so müssen auch die Einwürfe gegen den Buchstaben Einwürfe gegen den Geist, und Einwürfe gegen die Bibel, Einwürfe gegen die Religion seyn. Ich wil die Sache durch ein Instanz erläutern. Wir wollen den Willen eines Herrn, nach welchem sich seine Unterthanen verhalten sollen, die Landesordnung nennen, das Buch aber, in welches er seine Vorschriften verfassen lassen, mag die Landesverfassung heißen. Wenn nun ein Unterthan gegen die letzte Einwürfe macht, um solche ihres Ansehens zu berauben, und er wolle gegen seine Richter sagen: Die Landesverfassung ist nicht die Landesordnung, Einwürfe gegen die erste, sind also keine Einwürfe gegen die letzte; würde eine solche Antithese eine Kraft haben, ihn zu rechtfertigen? [8]

3. Die Bibel enthält offenbar mehr, als zur Religion gehört. In diesem Satze liegen zween Sätze. Einmal, die Bibel enthält das, was zur Religion gehört. Zweytens, sie enthält mehr, als zur Religion gehört. In dem ersten Satze räumet der Herr Herausgeber das ein, was er in dem vorgehenden geläugnet hatte. Enthält die Bibel das, was zur Religion gehört; so enthält sie die Religion, objektive, selbst. Und der zweyte Satz kan zugegeben werden, wenn man einen Unterscheid macht, zwischen dem, was zur Erläuterung und Bestätigung der Hauptsätze, welche eigentlich das Wesen der Religion ausmachen, gehöret. Sol aber dieser Satz der Bibel zum Nachtheile gereichen; so ist er völlig unkräftig, eben so unkräftig, als wenn ich sagen wolte: Wolfs System der Mathematik enthält Scholia, und diese verringern den Werth desselben.

4. Es ist bloße Hypothese, daß die Bibel in diesem Mehrern gleich unfehlbar sey. Nein! dieses ist nicht Hypothese, sondern unwidersprechliche Wahrheit. Entweder dieses Mehrere ist von Gott eingegeben, oder wenigstens gebilligt, oder nicht. Ist das erste, so ist es eben so unfehlbar, als das wesentliche. Nimt man aber das letzte an, so verlieret das erste auch alle Zuverläßigkeit. Welcher großer Herr würde es zugeben, daß diejenigen, denen er es aufgetragen hätte, eine Landesverfassung nach seinem Willen abzufassen, wenn es auch nur zur Erläuterung und Bestätigung dienen solte, aus ihrem eigenen Gehirne solche Dinge mit einfließen ließen, welche er selbst für falsch und unrichtig [9] erkennete. Würde, wenn solches den Unterthanen bekant würde, oder wenn sie im Stande wären, solches zu entdecken, nicht seine gesamte Landesverfassung dadurch alles Ansehen verlieren? Wer sol, bey der Bibel vest setzen, was darin unfehlbar ist, und was zu dem Wesentlichen oder Mehrern gehört? Wir sehen die Folgen dieser verderblichen Meinung schon mehr als zu deutlich. Es finden sich schon manche sogenante Gottesgelehrte, selbst im unsrer Kirche, welche von dem Mehreren und nicht Unfehlbaren eine solche Rechnung machen, daß sie uns von dem Wesentlichen, oder von dem, was zur Religion gehört, nichts mehr, als die Grundsätze der natürlichen Theologie übrig lassen. Christus weiset die Juden auf die Schrift, ohne Einschränkung, und sagt: sie zeuget von mir. Joh. 5, 39. Paulus behauptet von aller Schrift, (er nimmt offenbar diesen Ausdruck in dem eminenten Verstande, in welchem ihn dazumal alle Juden und Christen nahmen) daß sie von Gott eingegeben, und nütze sey zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit. 2 Tim. 3, 16. Petrus weiset uns auf das vestere prophetische Wort, 2 Pet. 1,19. und versteht dadurch den ganzen Kanon, so wie er damals von Juden und Christen angenommen wurde. Sie haben also die neue Weisheit entweder gar nicht gewust, oder tückisch verschwiegen. Eines von beyden muß derjenige annehmen, der es für bloße Hypothes erklärt, daß alles, was in der heiligen Schrift enthalten ist, gleich unfehlbar sey.

5. Auch war die Religion, ehe eine Bibel war. Aber doch nicht, ehe eine Offenbarung [10] war. Freylich konte diese Offenbarung das noch nicht in sich fassen, was hernach in der Bibel enthalten war; sie fassete aber doch alles in sich, was die Menschen, denen sie mitgetheilet wurde, nach den Absichten Gottes, von Gott, und von der Art und Weise, wie sie Ihn verehren solten, wissen musten. Da nun Offenbarung und Bibel, in Absicht auf das Wesentliche, eben das sind, da der Unterscheid zwischen beyden blos in zufälligen Nebendingen bestehet; so sagt der Satz: die Religion war, ehe die Bibel war, im Grunde gar nichts, und wenn der Herr Herausgeber Vortheile daraus ziehen wolte, so hätte er solchen also abfassen müssen: auch war die Religion, ehe eine Offenbarung war; allein dieser Satz fällt gleich als falsch in die Augen, da im Gegentheile der von dem Herrn Herausgeber gewählte, blendet, und in den Augen kurzsichtiger Leser die völlige Gestalt eines Axioma hat.

6. Das Christenthum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten. Es verlief eine geraume Zeit, ehe der erste von ihnen schrieb , und eine sehr beträchtliche, ehe der ganze Kanon zu Stande kam. Alles dieses kan ich dem Herrn Herausgeber einräumen. Indessen aber werde ich diesen Satz doch eben, als den vorhergehenden, zu seiner Absicht unbrauchbar machen, wenn ich diesem Satze die Frage entgegen setze: War denn das Christenthum schon, ehe Christus und die Apostel gepredigt hatten? So lange Christus und die Apostel predigten; so lange die ausserordentlichen Gaben des heil. Geistes in den Gemeinen wirksam waren, so lange konte [11] die Fortpflanzung der christlichen Religion durch mündlichen Unterricht besser erhalten werden, als, durch Schriften. Nachher aber mußten, wenn das von Christo und den Aposteln gegründete Christenthum nicht wieder zu Grunde gehen, und weiter ausgebreitet werden solte, die Schriften solcher Zeugen Jesu, deren unmittelbare Erleuchtung durch den heil. Geist unleugbar war, in die Stelle des mündlichen Unterrichts treten. Dieser Satz ist also mit dem vorhergehenden von einerley Beschaffenheit. Er ist blendend, er sagt aber im Grunde nichts.

7. Es mag also von diesen Schriften noch so viel abhängen; so kann doch unmöglich die ganze Wahrheit der christlichen Religion auf ihnen beruhen. Die Wahrheit der christlichen Religion beruhet allerdings auf sich selbst, sie bestehet in ihrer Uebereinstimmung mit den Eigenschaften und Willen Gottes, und auf der historischen Gewisheit der Factorum, auf welche ihre Lehrsätze sich zum Theile gründen. Allein unsere Ueberzeugung von der Wahrheit der christlichen Religion beruhet doch lediglich und allein auf diesen Schriften. Würde, wenn diese Bücher nicht geschrieben, und bis auf uns gekommen wären, wohl eine Spur von dem, was Christus gethan und gelehret hat, in der Welt übrig geblieben seyn? Ich möchte wissen, aus welcher Quelle die Menschen die bloße historische Kentnis davon hätten schöpfen sollen? und ohne eine historische Kentnis würde eine lebendige doch wohl schwerlich stat gefunden haben. [12]

8. War ein Zeitraum, in welchem sie bereits so ausgebreitet war, in welchem sie sich bereits so vieler Seelen bemächtiget hatte, und in welchem gleichwohl noch kein Buchstabe aus dem von ihr aufgezeichnet war, was bis auf uns gekommen ist: so muß es auch möglich seyn, daß alles, was die Evangelisten und Apostel geschrieben haben, wiederum verloren gienge, und die von ihnen gelehrte Religion doch bestünde. Bey aller Achtung, welche ich für die sonstige Geschicklichkeit und Verdienste des Herrn Herausgebers um die weltliche Gelehrsamkeit habe, kan ich mich doch nicht, entbrechen, diesen ganzen Schlus für ein handgreifliches Sophisma zu erklären. Man setze nur für die Worte: in welchem gleichwohl noch kein Buchstabe aus dem von ihr aufgezeichnet war, was bis auf uns gekommen ist, diese: in welchem gleichwohl noch kein Wort aus dem von ihr gepredigt war, was bis auf uns gekommen ist; so wird uns die Falschheit desselben in die Augen leuchten. Die christliche Religion hat ihren Ursprung nicht aus den Schriften der Evangelisten und Apostel, sondern aus den Predigten Christi und der Apostel. Durch diese ist sie gepflanzet und gegründet, durch die letzte aber fortgepflanzet, erhalten und ausgebreitet worden. Der Herr Herausgeber muß also, wenn sein Schluß etwas beweisen sol, einen Zeitraum angeben, in welchem die christliche Religion ausgebreitet gewesen, und sich vieler Selen bemächtiget, ehe Christus und die Apostel gepredigt haben. Wird dieses ihm möglich [13] seyn? Auf den Lehren und Thaten Christi und der Apostel beruhet also die gesamte christliche Religion, als auf ihrem unmittelbaren Grunde. Woher können wir nun diese Lehren und Thaten wissen? allein aus den Schriften der Evangelisten und Apostel. Wenn also diese verloren gingen, so müßten jene gewiß auch mit verloren gehen. Und alsdann würde die christliche Religion eben so gewiß auch mit verloren gehen, als ein Haus zu Grunde gehen muß, dessen Pfeiler weggerissen werden; oder Gott müßte in jedem Menschen-Alter viele tausende erwecken, welche aus unmittelbarer Eingebung des heiligen Geistes dasjenige wieder lehreten, was Christus und die Apostel gelehret haben, und ihre Lehre mit Wunder bewiesen. Ich überlasse dem Herrn Herausgeber, und allen einsehenden Lesern, das Urtheil, ob dieser Weg, die christliche Religion zu erhalten, fortzupflanzen und auszubreiten, schicklicher sey, oder der, welchen die göttliche Weisheit selbst erwählt hat?

Daß die christliche Religion dennoch bestehen würde, wenn auch alles, was die Evangelisten und Apostel geschrieben haben, verloren ginge, ist überdem ein Satz, der der Erfahrung und Geschichte offenbar widerspricht. Von dem neunten Jahrhundert an, bis auf den Anfang des fünfzehnten, war ein Zeitraum, in welchem die Schriften der Evangelisten und Apostel beinahe verloren gegangen wären. Wer kante, außer wenigen Gelehrten, die Bibel? Sie steckte in Handschriften und Uebersezungen, bis auf die Erfindung der Druckerey, in den Klöstern. Der große Haufe erfuhr aus derselben [14] nichts mehr, als was ihm die römische Klerisey davon sagte, und diese sagte ihm nichts mehr, als was er, ohne Nachtheil ihres Interesse, wissen konte. Wie war in dieser Zeit die christliche Religion, in Absicht auf den großen Haufen, beschaffen? war sie mehr als ein verwandeltes Heidenthum? Nichts, als die Namen der ehemaligen Stifter derselben, welche sich aber unter einer großen Menge neuerschaffener Heiligen fast verloren, waren übrig, ihre Lehren aber völlig vergessen, und dagegen elende Menschenlehren eingeschoben. Es fanden sich zwar hin und wieder einige Zeugen und Bekenner der Wahrheit, aber würden diese existirt haben, wenn keine Bibel mehr existirt hätte? Mit einem Worte, dieser ganzer Satz ist so beschaffen, daß ich nicht genug bewundern kan, daß derselbe aus der Feder des Herrn Herausgebers habe fließen können.

9. Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehreten: sondern sie lehreten sie, weil sie wahr ist. Auch diese Antithese sagt nichts. Sind die Evangelisten und Apostel Männer, welche geredet und geschrieben haben, getrieben durch den heiligen Geist; so ist die christliche Religion wahr, weil die Evangelisten und Apostel, oder eigentlich, weil Gott selbst sie gelehrt hat. Der zweyte Satz steht blos müßig da.

10. Aus ihrer innern Wahrheit müssen die schriftlichen Über­lieferungen erkläret werden, und alle schriftliche Ueberlieferungen können ihr keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat. Gut! aber derjenige, der mir die schriftlichen Ueberlieferungen aus ihrer innern [15] Wahrheit erklären wil, muß [ich] mich vorher überzeugen, daß er selbst von der innern Wahrheit derselben, eine richtige und gegründete Vorstellung habe, und daß er sich nicht selbst ein Bild davon mache, das seinen Absichten gemäs ist. Woher aber will er die Erkentnis der innern Wahrheit der christlichen Religion nehmen, als aus den schriftlichen Überlieferungen, oder aus den Schriften der Evangelisten und Apostel, in der gehörigen Verbindung mit den Schriften des alten Testaments? Ich werde seiner Vernunft hier nichts einräumen, ob ich gleich voraussetze, daß die Lehrsätze der Religion, welche mir als die christliche vorgepredigt wird, nie einem algemeinen und unstreitigen Grundsatze der Vernunft widersprechen müssen. Wir erkennen also die innere Wahrheit der christlichen Religion nur alsdann, wenn unsere Begriffe von derselben eben diejenigen sind, welche die schriftlichen Ueberlieferungen, die in der heiligen Schrift enthalten sind, davon in unsern Selen hervorbringen sollen. Freylich können die Ueberlieferungen der christlichen Religion keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat. Das sollen sie aber auch nicht. Ihr Zweck ist also dieser: die innere Wahrheit derselben zu entdecken und zu beweisen. Folglich sind es leere Worte, wenn man die innere Wahrheit der christlichen Religion und die Ueberlieferungen, oder deutlicher, die heilige Schrift, einander, als zwey verschiedene Dinge entgegen setzen wil. Eben so vergeblich, als wenn man sagen wolte: man muß die Gesetze eines Gesetzgebers aus seiner innern Gerechtigkeit erklären. Umgekehrt! die innere Gerechtigkeit eines [16] Gesetzgebers muß aus seinem Gesetze erkant und beurtheilet werden.

Dieses wäre also, setzet der Herr Herausgeber hinzu, die algemeine Antwort auf ein großen Theil dieser Fragmente – wie gesagt in dem schlimmesten Falle, in dem Falle, daß der Christ, welcher zugleich Theolog ist, in dem Geiste seines angenommenen Systems, nichts Befriedigendes darauf zu antworten wisse.

Ich würde den Christen, der zugleich Theolog ist, sehr bedauren, wenn er sich, aus Mangel anderer Gründe, in der traurigen Nothwendigkeit setzen solte, diesen aus Stroh geflochtenen Schild, den in den Fragmenten befindlichen feurigen Pfeilen, entgegen zu halten. Ich würde ihm lieber rathen, gar die Flucht zu nehmen: denn durch Anwendung dieser von dem Herrn Herausgeber an die Hand gegebenen Sätze, würde er die Bibel Preis geben, um die Religion zu retten; aber welche Religion? gewiß nicht die christliche, als welche mit der Bibel stehet und fält.

Noch ein Wort von den Fragmenten überhaupt. Sie sind keine bescheidene Einwürfe gegen die christliche Religion, sondern die lauteste Lästerung derselben. Ihre Wirkungen sind in unsern gegenwärtigen Zeiten schon sehr betrübt, und werden noch schröcklicher werden. Den Juden wird insonderheit das letzte Fragment sehr wilkommen seyn, und ihnen zur Bestärkung in ihrem Unglauben, und in ihrer feindseligen Gesinnung gegen Jesum und gegen seine Religion, bessere Dienste thun, als ihr Toldos [17] Jeschu 1). Wie schwarz und wie stumpf zugleich die Sele des Verfassers gewesen, kan man allein aus dem vierten Fragmente sehen, in welchem seine Hauptabsicht dahin gehet, die Jünger Jesu als die ärgsten Bösewichter anzuschwärzen, indem er es als eine ausgemachte Wahrheit annimt, daß sie den Leib Christi gestohlen, und hernach die Welt mit der schandbaren Lüge von seiner Auferstehung betrogen hätten; ja da er so frech ist, S. 541 von der Erzählung Matthäi Kap. 28. f. zu sagen, daß er solche allein aus seinem Gehirne ersonnen habe, weil er auf die Beschuldigung etwas habe antworten wollen, und nichts besseres finden können.

Ich würde vor meiner Todesstunde zittern, wenn ich besorgen müste, daß von der Ausbreitung dieser boshaften, so vielen Selen höchst gefährlichen, und der Ehre unsers großen Erlösers so nachtheiligen Aufsätze, die Rechenschaft an jenem Tage von mir würde gefordert werden. Ich wünsche, daß uns der Herr Herausgeber aus den Schätzen der Bibliothek, welcher er vorgesetzet ist, künftig etwas bessers liefern möge, als Gift und Aergernisse.

 

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1) Toledot Jeschu (Geschichte Jesu) ist eine wohl im 8. Jahrhundert in Italien entstandene jüdische Legendensammlung über das Leben Jesu. Sie ist kulturgeschichtlich von Interesse, der Inhalt aber ohne historischen Wert. vgl.: Samuel Krauss, Das Leben Jesu nach jüdischen Quellen [U. H.]