BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Zweyter Theil

 

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am 24. Nov.

 

Sie fühlt, was ich dulde. Heut ist mir ihr Blik tief durch's Herz gedrungen. Ich fand sie allein. Ich sagte nichts und sie sah mich an. Und ich sah nicht mehr in ihr die liebliche Schönheit, nicht mehr das Leuchten des treflichen Geistes; das war all vor meinem Auge verschwunden. Ein weit herrlicherer Blik würkte auf mich, voll Ausdruk des innigsten Antheils, des süßten Mitleidens. Warum durft' ich mich nicht ihr zu Füssen werfen! warum durft ich nicht an ihrem Halse mit tausend Küssen antworten – Sie nahm ihre Zuflucht zum Claviere und hauchte mit süsser leiser Stimme harmonische Laute zu ihrem Spiele. Nie hab ich ihre Lippen so reizend gesehn, es war, als wenn sie sich lechzend öffneten, jene süsse Töne in sich zu schlürfen, die aus dem Instrumente hervorquollen, und nur der heimliche Wiederschall aus dem süssen Munde zurükklänge – [163] Ja wenn ich dir das so sagen könnte! Ich widerstund nicht länger, neigte mich und schwur: Nie will ich's wagen, einen Kuß euch einzudrükken Lippen, auf denen die Geister des Himmels schweben – Und doch – ich will – Ha siehst du, das steht wie eine Scheidewand vor meiner Seelen – diese Seligkeit – und dann untergegangen, die Sünde abzubüssen – Sünde?