Johann Wolfgang Goethe
1749 - 1832
Die Leidendes jungen Werthers
Zweyter Theil
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am 15. Nov.
Ich danke Dir, Wilhelm, für Deinen herzlichen Antheil, für Deinen wohlmeynenden Rath, und bitte Dich, ruhig zu seyn. Laß mich ausdulden, ich habe bey all meiner Müdseligkeit noch Kraft genug durchzusezzen. Ich ehre die Religion, das weist Du, ich fühle, daß sie manchem Ermatteten Stab, manchem Verschmachtenden Erquikkung ist. Nur – kann sie denn, muß sie denn das einem jeden seyn? Wenn Du die grosse Welt ansiehst; so siehst du Tausende, denen sie's nicht war, Tausende, denen sie's nicht seyn wird, gepredigt oder ungepredigt, und muß sie mir's denn seyn? Sagt nicht selbst der Sohn Gottes: daß die um ihn seyn würden, die ihm der Vater gegeben hat. Wenn ich ihm nun nicht gegeben bin! Wenn mich nun der Vater für sich behalten will, wie mir [160] mein Herz sagt! Ich bitte Dich, lege das nicht falsch aus, sieh nicht etwa Spott in diesen unschuldigen Worten, es ist meine ganze Seele, die ich dir vorlege. Sonst wollt ich lieber, ich hätte geschwiegen, wie ich denn über all das, wovon jedermann so wenig weis als ich, nicht gern ein Wort verliehre. Was ist's anders als Menschenschiksal, sein Maas auszuleiden, seinen Becher auszutrinken! – Und ward der Kelch dem Gott vom Himmel auf seiner Menschenlippe zu bitter, warum soll ich gros thun und mich stellen, als schmekte er mir süsse. Und warum sollte ich mich schämen in dem schröklichen Augenblikke, da mein ganzes Wesen zwischen Seyn und Nichtseyn zittert, da die Vergangenheit wie ein Bliz über dem finstern Abgrunde der Zukunft leuchtet, und alles um mich her versinkt, und mit mir die Welt untergeht. – Ist es da nicht die Stimme der ganz in sich gedrängten, sich selbst ermangelnden und unaufhaltsam hinabstürzenden Creatur, in den innern Tiefen ihrer vergebens aufarbeitenden Kräfte zu knirschen. Mein Gott! Mein Gott! warum hast du mich verlassen? Und sollt ich mich des Ausdruks schämen, sollte mir's [161] vor dem Augenblikke bange seyn, da ihm der nicht entgieng, der die Himmel zusammenrollt wie ein Tuch. |