BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Zweyter Theil

 

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am 26. Oktober.

 

Ja es wird mir gewiß, Lieber! gewiß und immer gewisser, daß an dem Daseyn eines Geschöpfs so wenig gelegen ist, ganz wenig. Es kam [154] eine Freundinn zu Lotten, und ich gieng herein in's Nebenzimmer, ein Buch zu nehmen, und konnte nicht lesen, und dann nahm ich eine Feder zu schreiben. Ich hörte sie leise reden, sie erzählten einander insofern unbedeutende Sachen, Stadtneuigkeiten: wie diese heyrathet, wie jene krank, sehr krank ist. Sie hat einen troknen Husten, die Knochen stehn ihr zum Gesichte heraus, und kriegt Ohnmachten, ich gebe keinen Kreuzer für ihr Leben, sagte die eine. Der N. N. ist auch so übel dran, sagte Lotte. Er ist schon geschwollen, sagte die andre. Und meine lebhafte Einbildungskraft versezte mich an's Bette dieser Armen, ich sah sie, mit welchem Widerwillen sie dem Leben den Rükken wandten, wie sie – Wilhelm, und meine Weibgens redeten davon, wie man eben davon redt: daß ein Fremder stirbt. – Und wenn ich mich umsehe, und seh das Zimmer an, und rings um mich Lottens Kleider, hier ihre Ohrringe auf dem Tischgen, und Alberts Scripturen und diese Meubels, denen ich nun so befreundet bin, sogar diesem Dintefaß, und denke: Sieh, was du nun diesem Hause bist! Alles in allem. Deine Freunde [155] ehren dich! Du machst oft ihre Freude, und deinem Herzen scheint's, als wenn es ohne sie nicht seyn könnte, und doch – wenn du nun giengst? wenn du aus diesem Kreise schiedest, würden sie? wie lange würden sie die Lükke fühlen, die dein Verlust in ihr Schiksal reißt? wie lang? – O so vergänglich ist der Mensch, daß er auch da, wo er seines Daseyns eigentliche Gewißheit hat, da, wo er den einzigen wahren Eindruk seiner Gegenwart macht; in dem Andenken in der Seele seiner Lieben, daß er auch da verlöschen, verschwinden muß, und das – so bald!