BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Erster Theil

 

____________________________________________

 

 

 

am 30. Juli.

 

Albert ist angekommen, und ich werde gehen, und wenn er der beste, der edelste Mensch wäre, unter den ich mich in allem Betracht zu stellen bereit wäre, so wär's unerträglich, ihn vor meinem Angesichte im Besizze so vieler Vollkommenheiten zu sehen. Besiz! – Genug, Wilhelm, der Bräutigam ist da. Ein braver lieber Kerl, dem man gut seyn muß. Glüklicher weise war ich nicht bey'm Empfange! Das hätte mir das Herz zerrissen. Auch ist er so ehrlich und hat Lotten in meiner Gegenwart noch nicht einmal geküßt. Das lohn ihm Gott! Um des Respekts willen, den er vor dem [73] Mädgen hat, muß ich ihn lieben. Er will mir wohl, und ich vermuthe, das ist Lottens Werk, mehr als seiner eigenen Empfindung, denn darinn sind die Weiber fein und haben recht. Wenn sie zwey Kerls in gutem Vernehmen mit einander halten können, ist der Vortheil immer ihre, so selten es auch angeht.

Indeß kann ich Alberten meine Achtung nicht versagen, seine gelassne Aussenseite sticht gegen die Unruhe meines Charakters sehr lebhaft ab, die sich nicht verbergen läßt, er hat viel Gefühl und weis, was er an Lotten hat. Er scheint wenig üble Laune zu haben, und du weist, das ist die Sünde, die ich ärger hasse am Menschen als alle andre.

Er hält mich für einen Menschen von Sinn, und meine Anhänglichkeit an Lotten, meine warme Freude, die ich an all ihren Handlungen habe vermehrt seinen Triumph, und er liebt sie nur desto mehr. Ob er sie nicht manchmal heimlich mit kleiner Eifersüchteley peinigt, das laß ich dahin gestellt seyn, wenigstens an seinem Plazze würde ich nicht ganz sicher vor dem Teufel bleiben.

[74] Dem sey nun, wie ihm wolle, meine Freude, bey Lotten zu seyn, ist hin! Soll ich das Thorheit nennen oder Verblendung? – Was braucht's Nahmen! Erzählt die Sache an sich! – Ich wuste alles, was ich jezt weis, eh Albert kam, ich wuste, daß ich keine Prätensionen auf sie zu machen hatte, machte auch keine – Heist das, insofern es möglich ist, bey so viel Liebenswürdigkeiten nicht zu begehren – Und jezt macht der Frazze grosse Augen, da der andere nun wirklich kommt, und ihm das Mädgen wegnimmt.

Ich beisse die Zähne auf einander und spotte über mein Elend, und spottete derer doppelt und dreyfach, die sagen könnten, ich sollte mich resigniren, und weil's nun einmal nicht anders seyn könnte. – Schafft mir die Kerls vom Hals! – Ich laufe in den Wäldern herum, und wenn ich zu Lotten komme, und Albert so bey ihr sizt im Gärtgen unter der Laube, und ich nicht weiter kann, so bin ich ausgelassen närrisch, und fange viel Possen, viel verwirrtes Zeug an. Um Gottes willen, sagte mir Lotte heute, ich bitte Sie! keine Scene wie die von gestern Abend! sie sind [75] fürchterlich, wenn sie so lustig sind. Unter uns, ich passe die Zeit ab, wenn er zu thun hat, wutsch! bin ich draus, und da ist mir's immer wohl, wenn ich sie allein finde.