BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Erster Theil

 

____________________________________________

 

 

 

am 17. May.

 

Ich hab allerley Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft hab ich noch keine gefunden. Ich weiß nicht, was ich anzügliches für die Menschen haben [14] muß, es mögen mich ihrer so viele, und hängen sich an mich, und da thut mirs immer weh, wenn unser Weg nur so eine kleine Strecke mit einander geht. Wenn Du fragst, wie die Leute hier sind? muß ich Dir sagen: wie überall! Es ist ein einförmig Ding um's Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den grösten Theil der Zeit, um zu leben, und das Bisgen, das ihnen von Freyheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um's los zu werden. O Bestimmung des Menschen!

 

Aber eine rechte gute Art Volks! Wann ich mich manchmal vergesse, manchmal mit ihnen die Freuden genieße, die so den Menschen noch gewährt sind, an einem artig besetzten Tisch, mit aller Offen- und Treuherzigkeit sich herum zu spassen, eine Spazierfahrt, einen Tanz zur rechten Zeit anzuordnen und dergleichen, das thut eine ganz gute Würkung auf mich, nur muß mir nicht einfallen, daß noch so viele andere Kräfte in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern, und die ich sorgfältig verbergen muß. Ach, das engt all das Herz so ein – Und [15] doch! Misverstanden zu werden ist das Schicksal von unser einem.

Ach daß die Freundin meiner Jugend dahin ist, ach daß ich sie je gekannt habe! Ich würde zu mir sagen: du bist ein Thor! du suchst, was hienieden nicht zu finden ist. Aber ich hab sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu seyn als ich war, weil ich alles war was ich seyn konnte. Guter Gott, blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt, konnt ich nicht vor ihr all das wunderbare Gefühl entwickeln, mit dem mein Herz die Natur umfaßt, war unser Umgang nicht ein ewiges Weben von feinster Empfindung, schärfstem Witze, dessen Modifikationen bis zur Unart alle mit dem Stempel des Genies bezeichnet waren? Und nun – Ach ihre Jahre, die sie voraus hatte, führten sie früher an's Grab als mich. Nie werd ich ihrer vergessen, nie ihren festen Sinn und ihre göttliche Duldung.

Vor wenig Tagen traf ich einen jungen V an, ein offner Junge mit einer gar glücklichen Gesichtsbildung. Er kommt erst von Akademien, [16] dünkt sich nicht eben weise, aber glaubt doch, er wüßte mehr als andere. Auch war er fleißig, wie ich an allerley spüre, kurz, er hatt' hüpsche Kenntnisse. Da er hörte, daß ich viel zeichnete, und Griechisch konnte, zwey Meteore hier zu Land, wandt er sich an mich und kramte viel Wissens aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu Winkelmann, und versicherte mich, er habe Sulzers Theorie den ersten Theil ganz durchgelesen, und besitze ein Manuscript von Heynen über das Studium der Antike. Ich ließ das gut seyn.

Noch gar einen braven Kerl hab ich kennen lernen, den fürstlichen Amtmann. Einen offenen, treuherzigen Menschen. Man sagt, es soll eine Seelenfreude seyn, ihn unter seinen Kindern zu sehen, deren er neune hat. Besonders macht man viel Wesens von seiner ältsten Tochter. Er hat mich zu sich gebeten, und ich will ihn ehster Tage besuchen, er wohnt auf einem fürstlichen Jagdhofe, anderthalb Stunden von hier, wohin er, nach dem Tode seiner Frau, zu ziehen die Erlaubniß erhielt, da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und dem Amthause zu weh that.

[17] Sonst sind einige verzerrte Originale mir in Weg gelaufen, an denen alles unausstehlich ist, am unerträglichsten ihre Freundschafts-bezeugungen.

Leb wohl! der Brief wird dir recht seyn, er ist ganz historisch.