B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Johann Wolfgang Goethe
1749 - 1832
     
   


F a u s t .
E i n e   T r a g ö d i e .


D e r   T r a g ö d i e   E r s t e r   T h e i l .

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[296]       K e r k e r .

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F a u s t ,  mit einem Bund Schlüssel und einer Lampe,
vor einem eisernen Thürchen.

4405 Mich faßt ein längst entwohnter Schauer,
Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an.
Hier wohnt sie hinter dieser feuchten Mauer,
Und ihr Verbrechen war ein guter Wahn!
Du zauderst zu ihr zu gehen!
4410 Du fürchtest, sie wieder zu sehen!
Fort! dein Zagen zögert den Tod heran.

            er ergreift das Schloß. Es singt inwendig.

      Meine Mutter, die Hur,
      Die mich umgebracht hat!
      Mein Vater, der Schelm,
[297]       Der mich gessen hat!
      Mein Schwesterlein klein
      Hub auf die Bein,
      An einem kühlen Ort;
      Da ward ich ein schönes Waldvögelein,
4420       Fliege fort, fliege fort!

F a u s t  aufschließend.
Sie ahndet nicht, daß der Geliebte lauscht,
Die Ketten klirren hört, das Stroh, das rauscht.
      er tritt ein.

M a r g a r e t e  sich auf dem Lager verbergend.
Weh! Weh! Sie kommen. Bittrer Tod!

F a u s t  leise.
Still! Still! ich komme, dich zu befreyen.

M a r g a r e t e  sich vor ihn hinwälzend.
4425 Bist du ein Mensch, so fühle meine Noth.

F a u s t .
Du wirst die Wächter aus dem Schlafe schreyen!
      er faßt die Ketten, sie aufzuschließen.

M a r g a r e t e  auf den Knieen.
Wer hat dir Henker diese Macht
Ueber mich gegeben!
[298] Du holst mich schon um Mitternacht.
4430 Erbarme dich und laß mich leben!
Ist's morgen früh nicht zeitig genung?
      sie steht auf.
Bin ich doch noch so jung, so jung!
Und soll schon sterben!
Schön war ich auch, und das war mein Verderben.
4435 Nah war der Freund, nun ist er weit,
Zerrissen liegt der Kranz, die Blumen zerstreut.
Fasse mich nicht so gewaltsam an!
Schone mich! Was hab' ich dir gethan?
Laß mich nicht vergebens flehen,
4440 Hab' ich dich doch mein' Tage nicht gesehen!

F a u s t .
Werd' ich den Jammer überstehen!

M a r g a r e t e .
Ich bin nun ganz in deiner Macht.
Laß mich nur erst das Kind noch tränken.
Ich herzt' es diese ganze Nacht;
4445 Sie nahmen mir's um mich zu kränken
Und sagen nun, ich hätt' es umgebracht.
Und niemals werd' ich wieder froh.
[299] Sie singen Lieder auf mich! Es ist bös von den Leuten!
Ein altes Mährchen endigt so,
4450 Wer heißt sie's deuten?

F a u s t  wirft sich nieder.
Ein Liebender liegt dir zu Füßen
Die Jammerknechtschaft aufzuschließen.

M a r g a r e t e  wirft sich zu ihm.
O laß uns knien die Heil'gen anzurufen!
Sieh! unter diesen Stufen,
4455 Unter der Schwelle
Siedet die Hölle!
Der Böse,
Mit furchtbarem Grimme,
Macht ein Getöse!

F a u s t  lacht.
4460 Gretchen! Gretchen!

M a r g a r e t e  aufmerksam.
Das war des Freundes Stimme!
      Sie springt auf. Die Ketten fallen ab.
Wo ist er? ich hab' ihn rufen hören.
Ich bin frey! mir soll niemand wehren.
[300] An seinen Hals will ich fliegen,
4465 An seinem Busen liegen!
Er rief Gretchen! Er stand auf der Schwelle.
Mitten durch's Heulen und Klappen der Hölle,
Durch den grimmigen, teuflischen Hohn,
Erkannt' ich den süßen, den liebenden Ton.

F a u s t .
4470 Ich bin's!

M a r g a r e t e .
                  Du bist's! O sag' es noch einmal!
      ihn fassend.
Er ist's! Er ist's! Wohin ist alle Qual?
Wohin die Angst des Kerkers? der Ketten?
Du bist's! Kommst mich zu retten.
Ich bin gerettet! -
4475 Schon ist die Straße wieder da,
Auf der ich dich zum erstenmale sah.
Und der heitere Garten,
Wo ich und Marthe deiner warten.

F a u s t  fortstrebend.
Komm mit! Komm mit!

[301] M a r g a r e t e .
                  O weile
4480 Weil' ich doch so gern wo du weilest.
      liebkosend.

F a u s t .
Eile!
Wenn du nicht eilest
Werden wir's theuer büßen müssen.

M a r g a r e t e .
Wie? du kannst nicht mehr küssen?
4485 Mein Freund, so kurz von mir entfernt,
Und hast's Küssen verlernt?
Warum wird mir an deinem Halse so bang?
Wenn sonst von deinen Worten, deinen Blicken
Ein ganzer Himmel mich überdrang,
4490 Und du mich küßtest als wolltest du mich ersticken.
Küsse mich!
Sonst küss' ich dich!
      Sie umfaßt ihn.
O weh! deine Lippen sind kalt,
Sind stumm.
[302] Wo ist dein Lieben
Geblieben?
Wer brachte mich drum?
      sie wendet sich von ihm.

F a u s t .
Komm! Folge mir! Liebchen fasse Muth!
Ich herze dich mit tausendfacher Glut,
4500 Nur folge mir! Ich bitte dich nur dieß!

M a r g a r e t e  zu ihm gewendet.
Und bist du's denn? Und bist du's auch gewiß?

F a u s t .
Ich bin's! Komm mit!

M a r g a r e t e .
                  Du machst die Fesseln los,
Nimmst wieder mich in deinen Schoos.
Wie kommt es, daß du dich vor mir nicht scheust? -
4505 Und weißt du denn, mein Freund, wen du befreyst?

F a u s t .
Komm! komm! schon weicht die tiefe Nacht.

M a r g a r e t e .
Meine Mutter hab' ich umgebracht,
Mein Kind hab' ich ertränkt.
War es nicht dir und mir geschenkt?
[303] Dir auch. - Du bist's! ich glaub' es kaum.
Gieb deine Hand! Es ist kein Traum!
Deine liebe Hand! - Ach aber sie ist feucht!
Wische sie ab! Wie mich däucht,
Ist Blut dran.
4515 Ach Gott! was hast du gethan!
Stecke den Degen ein,
Ich bitte dich drum!

F a u s t .
Laß das Vergang'ne vergangen seyn,
Du bringst mich um.

M a r g a r e t e .
4520 Nein, du mußt übrigbleiben!
Ich will dir die Gräber beschreiben,
Für die mußt du sorgen
Gleich morgen;
Der Mutter den besten Platz geben,
4525 Meinen Bruder sogleich darneben,
Mich ein wenig bey Seit',
Nur nicht gar zu weit!
Und das Kleine mir an die rechte Brust.
Niemand wird sonst bey mir liegen! -
[304] Mich an deine Seite zu schmiegen
Das war ein süßes, ein holdes Glück!
Aber es will mir nicht mehr gelingen,
Mir ist's als müßt' ich mich zu dir zwingen,
Als stießest du mich von dir zurück.
4535 Und doch bist du's und blickst so gut, so fromm.

F a u s t .
Fühlst du daß ich es bin, so komm!

M a r g a r e t e .
Dahinaus?

F a u s t .
In's Freye.

M a r g a r e t e .
                  Ist das Grab drauß',
Lauert der Tod; so komm!
4540 Von hier in's ewige Ruhebett
Und weiter keinen Schritt -
Du gehst nun fort? O Heinrich, könnt' ich mit!

F a u s t .
Du kannst! So wolle nur! die Thür steht offen.

M a r g a r e t e .
Ich darf nicht fort; für mich ist nichts zu hoffen.
[305] Was hilft es fliehn? sie lauern doch mir auf.
Es ist so elend betteln zu müssen,
Und noch dazu mit bösem Gewissen!
Es ist so elend in der Fremde schweifen
Und sie werden mich doch ergreifen!

F a u s t .
4550 Ich bleibe bey dir.

M a r g a r e t e .
Geschwind! Geschwind!
Rette dein armes Kind.
Fort! immer den Weg
Am Bach hinauf,
4555 Ueber den Steg,
In den Wald hinein,
Links, wo die Planke steht,
Im Teich.
Faß es nur gleich
4560 Es will sich heben,
Es zappelt noch,
Rette! rette!

[306] F a u s t .
Besinne dich doch!
Nur einen Schritt, so bist du frey!

M a r g a r e t e .
4565 Wären wir nur den Berg vorbey!
Da sitzt meine Mutter auf einem Stein,
Es faßt mich kalt beym Schopfe!
Da sizt meine Mutter auf einem Stein
Und wackelt mit dem Kopfe;
4570 Sie winkt nicht, sie nickt nicht, der Kopf ist ihr schwer,
Sie schlief so lange, sie wacht nicht mehr.
Sie schlief damit wir uns freuten.
Es waren glückliche Zeiten!

F a u s t .
Hilft hier kein Flehen, hilft kein Sagen;
4575 So wag' ich's dich hinweg zu tragen.

M a r g a r e t e .
Laß mich! Nein, ich leide keine Gewalt!
Fasse mich nicht so mörderisch an!
Sonst hab' ich dir ja alles zulieb gethan.

F a u s t .
Der Tag graut! Liebchen! Liebchen!

[307] M a r g a r e t e .
4580 Tag! Ja es wird Tag! der letzte Tag dringt herein;
Mein Hochzeittag sollt' es seyn!
Sag Niemand daß du schon bey Gretchen warst.
Weh meinem Kranze!
Es ist eben geschehn!
4585 Wir werden uns wiedersehn;
Aber nicht beym Tanze.
Die Menge drängt sich, man hört sie nicht.
Der Platz, die Gassen
Können sie nicht fassen.
4590 Die Glocke ruft, das Stäbchen bricht.
Wie sie mich binden und packen!
Zum Blutstuhl bin ich schon entrückt.
Schon zuckt nach jedem Nacken
Die Schärfe die nach meinem zückt.
4595 Stumm liegt die Welt wie das Grab!

F a u s t .
O wär' ich nie geboren!

M e p h i s t o p h e l e s  erscheint draußen.
Auf! oder ihr seyd verloren.
[308] Unnützes Zagen! Zaudern und Plaudern!
Meine Pferde schaudern,
4600 Der Morgen dämmert auf.

M a r g a r e t e .
Was steigt aus dem Boden herauf?
Der! der! Schicke ihn fort!
Was will der an dem heiligen Ort?
Er will mich!

F a u s t .
                  Du sollst leben!

M a r g a r e t e .
4605 Gericht Gottes! dir hab' ich mich übergeben!

M e p h i s t o p h e l e s  zu Faust.
Komm! komm! Ich lasse dich mit ihr im Stich.

M a r g a r e t e .
Dein bin ich, Vater! Rette mich!
Ihr Engel! Ihr heiligen Schaaren,
Lagert euch umher, mich zu bewahren!
4610 Heinrich! Mir graut's vor dir.

M e p h i s t o p h e l e s .
Sie ist gerichtet!

[309] S t i m m e  von oben.
                  Ist gerettet!

M e p h i s t o p h e l e s  zu Faust.
                                    Her zu mir!
      Verschwindet mit Faust.

S t i m m e  von innen, verhallend.
Heinrich! Heinrich!