BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Christian Fürchtegott Gellert

1715 - 1769

 

 

Das Leben der Schwedischen

Gräfinn von G***

 

1. Teil (2)

 

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Itzt wundere ich mich, daß ich meinen Gemahl noch nicht beschrieben habe. Er sah bräunlich im Gesichte aus, und hatte ein Paar so feurige und blitzende Augen, daß sie einem eine kleine Furcht einjagten, wenn man sie allein betrachtete. Doch seine übrige Gesichtsbildung wußte dieses Feuer so geschickt zu dämpfen, daß nichts als Großmuth und eine lebhafte Zärtlichkeit aus seinen Minen hervorleuchtete. Er war vortrefflich gewachsen. Ich will ihn nicht weiter abschildern. Man verderbt durch die genaue Beschreibungen oft das Bild, das man seinen Lesern von einer schönen Person machen will.

Genug, mein Graf war in meinen Augen der schönste Mann. Nicht lange nach unserer Vermählung mußte mein Gemahl zu seinem Regimente. Sein Vater, der bey einem hohen Alter noch munter und der angenehmste Mann war, wollte mir die Abwesenheit meines Gemahls erträglich machen, und reisete mit mir auf seine übrigen Güter. Auf dem einen traf ich eine sehr junge und schöne Frau an, die man für die Witwe des Oberaufsehers der Güter ausgab. Diese Frau hatte so viel reizendes an sich, und so viel gefälliges und leutseliges in ihrem Umgange, daß ich ihr auf den ersten Anblick gewogen, und in kurzer Zeit ihre gute Freundinn ward. Ich bat, sie sollte mich wieder zurück begleiten, und bey mir leben. Sie sollte nicht meine Bediente, sondern meine gute Freundinn seyn. Und wenn sie nicht länger bey mir bleiben wollte, so wollte ich ihr eine ansehnliche Versorgung schaffen. Sie nahm diesen Antrag mit Thränen an, und schützte bald ihren kleinen Sohn, bald die Lust zu einem stillen Leben vor, warum sie mir nicht folgen könnte. Sie gieng mir indessen nicht von der Seite, und bezeigte so viel Ehrerbietung und Liebe gegen mich, daß ich sie hundertmal bat, mir zu sagen, womit ich ihr dienen könnte. Allein sie schlug alle Anerbietungen recht großmüthig aus, und verlangte nichts, als meine Gewogenheit. Der alte Graf wollte wieder fort, und indem mich die junge Witwe an den Wagen begleitete, so sah ich ein Kind in dem untersten Gebäude des Hofes am Fenster stehen. Ich fragte, wem dieses Kind wäre? Die gute Frau kam vor Schrecken gantz außer sich. Sie hatte mich beredt, daß ihr Sohn unlängst die Blattern gehabt hätte. Und damit ich mich nicht fürchten sollte; so hatte sie mir ihn bey meinem Daseyn, ungeachtet meines Bittens, nicht wollen sehen lassen. Allein ich sahe, daß diesem Knaben nichts fehlete, und ich ließ nicht nach, bis man ihn vor mich brachte. Hilf Himmel! wie entsetzte ich mich, als ich in seinem Gesichte das lebendige Ebenbild meines Gemahls antraf. Ich konnte kein Wort zu dem Kinde reden. Ich küßte es, umarmte zugleich seine Mutter, und setzte mich den Augenblick in den Wagen. Der alte Graf merkte meine Bestürzung, und entdeckte mir mit einer liebreichen Aufrichtigkeit das ganze Geheimniß. Die Frau, sprach er, die sie gesehen haben, ist die ehemalige Geliebte ihres Gemahls. Und wenn sie dieses Geständniß beleidiget, so zürnen sie nicht so wohl auf meinen Sohn, als auf mich. Ich bin an der Sache Schuld. Ich habe ihn von Jugend auf mit einer besondern Art erzogen, die ihnen in manchen Stücken ausschweifend vorkommen dürfte. Mein Sohn mußte in mir nicht so wohl seinen Vater, als seinen Freund lieben und verehren. Er durfte mich nicht fürchten, als wenn er mir etwas verschwieg. Daher gestund er mir alles, und ich erhielt dadurch Gelegenheit, ihn von tausend Thorheiten abzuziehen, ehe er sie begieng, oder doch, ehe er sich daran gewöhnete. Ich wußte, ehe ich meinen Sohn auf Reisen schickte, daß er ein gewisses Frauenzimmer vom bürgerlichen Stande liebte, welches meine Schwester als eine Wayse sehr jung zu sich genommen, und, weil das Kind viel Lebhaftigkeit besaß, in der Gesellschaft ihrer einzigen Tochter wohl hatte erziehen lassen. Mein Sohn hatte mir aus dieser Liebe nie ein Geheimniß gemacht. Er bat mich, da er seine Reisen antrat, daß ich ihm erlauben möchte, dieses Frauenzimmer, als seine gute Freundinn, mitzunehmen. Kurz, ich war entweder zu schwach, ihm diese Bitte abzuschlagen, oder ich willigte mit Fleiß darein, um ihn von den gefährlichen Ausschweifungen der Jugend durch ihre Gesellschaft abzuhalten. Und dieses ist eben das Frauenzimmer, das sie itzt gesehen und nach der gemeinen Rede für eine Witwe gehalten haben. Sie besitzt sehr gute Eigenschaften, und ich habe ihr zehn tausend Thaler ausgesetzt, damit sie heyrathen kann, wenn es ihr beliebt. Für ihren Sohn habe ich auch etwas gewisses zu seiner Erziehung bestimmt. Und wenn ihnen diese Frau gefährlich scheint: so will ich sie binnen wenig Tagen nach Liefland auf meine Güter schicken, und ihr daselbst alle mögliche Versorgung verschaffen.

Man glaube ja nicht, daß ich die ehemalige Geliebte meines Gemahls zu hassen anfieng. Nein, ich liebte sie, und die Liebe besänftigte die Eifersucht. Ich bat, daß er sie mit einer anständigen Heyrath versorgen, und sie entfernen möchte. Bey unserer Zurückkunft traf ich meinen Gemahl schon an. So sehr ich von der Gewißheit seiner Liebe versichert war: so konnte ich doch nicht ruhig werden, bis ich ihn durch allerhand kleine Kaltsinnigkeiten nöthigte, ein Geheimniß aus mir heraus zu locken, das mein Herz nicht umsonst entdecket haben wollte. Er erschrack, und beklagte sich über die Unvorsichtigkeit seines Vaters, daß er mich an einen Ort geführet hätte, der unsrer Zärtlichkeit so nachtheilig seyn könnte. Er gab den Augenblick Befehl, daß man dieses Frauenzimmer nebst ihrem Sohne entfernen, und alles, was sie verlangte, zu ihrem Unterhalte ausmachen sollte. Dieses geschah auch binnen acht Tagen. Ich konnte keine deutlichere Probe von seiner Treue verlangen, und es war mir unmöglich, ihn wegen dieser Sache auch nur einen Augenblick zu hassen, ob ich mich gleich von aller Unruhe nicht frey sprechen will.

Er gestund mir, daß er dieses Frauenzimmer gewiß zu seiner Gemahlinn erwählet haben würde, wenn er die Einwilligung vom Hofe hätte erhalten können. In der That verdiente sie dieses Glück so wohl als ich. Ich sah bey nahe keinen Vorzug, den ich vor ihr hatte, als daß ich adelich gebohren war. Und wie geringe ist dieser Vorzug, wenn man ihn vernünftig betrachtet! Sie hatte sich gar nicht aus Leichtsinn ergeben. Die Ehe war der Preis gewesen, für den sie ihm ihr Herz und sich überlassen hatte. Der Vater des Grafen hatte die Liebe und die Wahl seines Sohnes gebilliget. Sie kannte das edelmüthige Herz ihres Geliebten. Sie war von der Aufrichtigkeit seiner Zärtlichkeit überzeugt. Ein Frauenzimmer, das sich unter solchen Umständen in eine vertrauliche Liebe einläßt, verdienet eher Mitleiden, als Vorwürfe. Mein Gemahl erzählte mir einen Umstand, der Carolinens Werth, so will ich seine Geliebte künftig nennen, sehr verschönert. So bald sie gesehen, daß er die Einwilligung, sich mit ihr zu vermählen, nicht würde erhalten können, ohne dabey sein Glück in Gefahr zu setzen, und die Gnade des Hofes zu verlieren: so hatte sie sich des Rechts auf sein Herz freywillig begeben. Er zeigte mir folgenden Brief von ihr, der mich wegen seines großmüthigen Innhalts ungemein gerühret hat.

Mein lieber Graf,

Ich höre, daß man Ihnen den Entschluß, mich für ihre Gemahlinn zu erklären, sehr sauer macht. Sie dauren mich, weil ich gewiß weis, daß Sie mich lieben, und daß Sie eben so viel Ueberwindung brauchen, mir ihr Wort nicht zu halten, als es mich Mühe kostet, meine Ansprüche auf das edelste und großmüthigste Herz fahren zu lassen. Doch wenn ich einmal meinen Grafen verlieren soll: so will ich ihn mit Ruhm verlieren. Kurz, mein liebster Graf, ich opfere Ihrem Glücke und Ihrem Stande meine Liebe und meine Zufriedenheit auf, und vergesse das schmeichelhafte Glück, Ihre Gemahlinn zu werden, auf ewig. Sie sind frey, und können sich zu einer Wahl entschliessen, welche Ihnen nur immer gefällt. Ich bin alles zufrieden, wenn ich nur sehe, daß Sie glücklich wählen, und die Zufriedenheit an der Seite Ihrer Gemahlinn erhalten, die ich Ihnen durch meine Liebe habe verschaffen wollen. Dieses ist, wie der Himmel weis, mein größter Wunsch. Und was gehöret mehr zu der Aufrichtigkeit eines solchen Wunsches, als daß man Sie liebt! Ich mache Ihnen nicht den geringsten Vorwurf. Sie haben in meinen Augen Ihr Wort vollkommen gehalten; denn ich bin überzeugt, daß Sie es erfüllen würden, wenn es bey Ihnen stünde. Ich werde mich auch nie über mich selbst beklagen. Ich bin die Ihrige unter der Bedingung gewesen, daß Sie mich einst öffentlich dafür erklären würden. Ich habe Ihnen also bey aller meiner Zärtlichkeit doch nie meine Tugend aufgeopfert. Nein, das Andenken meiner Liebe wird mir allemal die größte Beruhigung geben, so traurig auch mein künftiges Schicksal der Welt vorkommen wird. Vermählen Sie sich, mein lieber Graf, und denken Sie künftig nur an mich, als an Ihre Freundinn. Diese Belohnung verdiene ich. Leben Sie wohl, und lassen Sie mir auf einem ihrer Güter einen Platz anweisen, wo ich nebst meinem Sohne in der Stille leben kann. Verlieren Sie weiter kein Wort. Ich bleibe bey meinem Entschlusse, Ihnen zu beweisen, daß ich Ihr Glück meiner Wohlfahrt vorziehe. Leben Sie wohl, mein lieber Graf.

Carolinens großmüthigem Entschlusse hatte ichs also zu danken, daß mir der Graf zu Theil worden war. Sie hatte sich nach diesem Briefe nicht mehr, als noch einmal, von ihm sprechen lassen, und sich so gleich auf das Landgut begeben, wo ich sie antraf. Er versicherte mich, daß er sie seit anderthalb Jahren nicht gesehen, und ich hätte ihr gern das Vergnügen gegönnt, den Grafen vor ihrer Abreise nach Liefland noch einmal zu sprechen, wenn es der Wohlstand hätte erlauben wollen. Mein Graf verdoppelte seine Bemühungen, mir zu gefallen, und der Himmel weis, daß er der liebenswürdigste Mann war, den man kaum zärtlicher und edler denken konnte. Er war vernünftig und gesittet gewesen, ehe er ein Soldat geworden war, und daher hatte er nicht das geringste von dem Rohen und Wilden an sich genommen, das dieser Lebensart sonst eigen zu seyn pflegt. Er war die Gutheit und Menschenliebe selbst, und dennoch ward er im ganzen Hause so gefürchtet, daß der kleinste Wink an seine Leute die Wirkung des nachdrücklichsten Befehls that. Er schien mir vollkommen zu gehorchen; es war ihm unmöglich mir etwas abzuschlagen; er hielt alles für genehm, was ich verlangte. Allein mitten in dieser zärtlichen Unterthänigkeit wußte er sich bey mir in einer gewissen Ehrfurcht zu erhalten, daß ich bey aller meiner Herrschaft nicht so wohl meinen Willen, als vielmehr sein Verlangen in Gedanken zu Rathe zog, und in der That nichts unternahm, als was er befohlen haben würde, wenn er hätte befehlen wollen. Er war der ordentlichste Mann in seinen Geschäften, und band sich doch selten an die Zeit. Er arbeitete, so bald er sich geschickt zur Arbeit fühlete, und arbeitete so lange fort, als er sich in dieser Verfassung merkte. Allein er ließ auch von seinen Verrichtungen nach, so bald als er keine Lust mehr dazu verspürte. Daher war er stets munter, weil er sich niemals zu sehr ermüdete, und hatte stets Zeit zu den Vergnügungen übrig, weil er die Zeit niemals mit vergebenen Bemühungen zu arbeiten verschwendete. Er hatte eine sehr schöne Bibliothek auf seinen Reisen gesammlet. Ich verstund Französisch, und etwas Latein und Italiänisch. Der Büchersal ward mir in kurzer Zeit an der Seite meines Gemahls der angenehmste Ort. Er las mir aus vielen Büchern, die theils historisch, theils witzig, theils moralisch waren, die schönsten Stellen vor, und brachte mir seinen guten Geschmack unvermerkt bey. Und ob ichs gleich nicht allemal sagen konnte, warum eine Sache schön, oder nicht schön war: so war doch meine Empfindung so getreu, daß sie mich selten betrog. Unsere Ehe selbst war nichts, als Liebe, und unser Leben nichts, als Vergnügen. Wir hatten fast niemanden zu unserm Umgange, als uns. Mein Gemahl unterhielt mich, ich ihn, und unser alter Vater uns alle beyde. Dieser Mann von siebenzig Jahren vertrat die Stelle von sechs Personen. Seine Erfahrung in der Welt, seine brauchbare Gelehrsamkeit und sein zufriednes und redliches Herz machten ihn stets munter und belebt in seinen Gesprächen. Ich kann sagen, daß ich diesen Greis in drey Jahren fast keine Stunde unruhig gesehen habe; denn so viele Jahre waren in meiner Ehe verstrichen, als er starb. Gott, wie lehrreich was das Ende dieses Mannes! Er bekam sieben Tage vor seinem Tode Schwulst in den Beinen. Diese trat immer weiter, und er sah mit iedem Tage sein Ende näher kommen. Er fragte den Arzt, wie lange es noch mit ihm dauren würde. Wahrscheinlicher Weise, antwortete dieser, über drey Tage nicht. Recht gut, versetzte der alte Graf. Gott sey gedankt, daß meine Wallfahrt so glücklich abgelaufen ist. Also habe ich nur noch drey Tage von dem Leben zuzubringen, von dem ich meinem Schöpfer Rechenschaft geben soll? Ich werde sie nicht besser anwenden können, als wenn ich durch meine Freudigkeit den Meinigen ein Beyspiel gebe, wie leicht und glückselig man stirbt, wenn man vernünftig und tugendhaft gelebt hat. Er ließ darauf alle seine Bedienten zusammen kommen. Er rühmte ihre Treue, und bat sie, als ein Vater, daß sie die Tugend stets vor Augen haben sollten. Ich, fieng er an, bin euer Herr und Aufseher gewesen. Der Tod hebt diesen Unterschied auf, und ich gehe in eine Welt, wo ihr so viel, als ich seyn werdet, und wo ihr für die Erfüllung eurer Pflichten eben so viel Glück erhalten werdet, als ich für die Erfüllung der meinigen. Lebt wohl, meine Kinder! Wer mich lieb hat, und mir vor meinem Tode noch ein Vergnügen machen will, der verspreche mir mit der Hand, daß er meine Lehren und meine Bitten erfüllen will. Er befahl darauf, iedwedem eine gewisse Summe Geldes auszutheilen. Er ließ diesen und den folgenden Tag die meisten von seinen Unterthanen zu sich kommen, und redete mit ihnen eben so, wie mit seinen Bedienten. Wem er Geld zu seiner Nahrung vorgestrecket hatte, dem erließ ers. Und alle durften sich etwas von ihm ausbitten. Die Anzahl der Armen war sehr klein; denn er hatte seine Wohlthaten und seine Vorsorge gegen die Unterthanen nicht bis an sein Ende versparet. Man kann sich die Wehmuth dieser Leute leicht vorstellen. Ein ieder beweinte in ihm den Verlust eines Vaters. Nach dieser Verrichtung fragte der sterbende Graf, ob noch iemand in seinem Hause wäre, der nicht Abschied von ihm genommen hätte. Ich sagte ihm, daß ich niemanden wüßte, außer die Soldaten, die mein Gemahl bey sich hätte. Auch diese, sagte er, sind mir liebe Leute. Sie brauchen am meisten den Tod kennen zu lernen, weil sie ihn vor andern unvermuthet gewärtig seyn müssen. Laßt sie herein kommen. Hierauf traten vier Leute herein, denen die Wildheit und Unerschrockenheit aus den Augen sah. Der alte Graf redete sie liebreich an, und er hatte kaum angefangen; so weinten diese dem Anscheine nach so beherzte und barbarische Männer, wie die Kinder. Er fragte sie, wie lange sie gedienet hätten. Sie hatten fast alle zwanzig Jahre die Waffen getragen. O, fieng der Graf an, ihr verdient, daß ihr die Ruhe des Lebens schmeckt, weil ihr die Unruhe so lange ausgehalten habt. Mein Sohn mag euch den Abschied ertheilen. Und ihr sollt euch in meinem Dorfe niederlassen, und so lange ihr lebet, noch so viel bekommen, als eure ordentliche Löhnung austrägt. Einer von diesen Leuten hat nachdem meinem Gemahle einen sehr wichtigen Dienst geleistet.

Die Nacht vor seinem letzten Ende brach nunmehr an. Er fragte den Doctor noch einmal um die Zeit seines Todes, und hörte mit der grösten Standhaftigkeit, daß er kaum vier und zwanzig Stunden noch auf der Welt seyn würde. Er forderte darauf zu essen. Er aß, und ließ sich auch ein Glas Wein reichen. Gütiger Gott, fieng er an, es schmeckt mir bey meinem Ende noch so gut, als es mir vor funfzig Jahren geschmeckt hat. Hätte ich nicht mäßig gelebt: so würden meine Gefäße zu dieser Erqvickung nicht mehr geschickt seyn. Nun, fuhr er fort, will ich mich zu meinem Aufbruche aus der Welt noch durch einige Stunden Schlaf erholen. Er schlief drey Stunden. Alsdann rief er mich, und bat, ich sollte ihm aus seinem Schreibetische ein gewisses Manuscript hohlen. Dieses war ein Verzeichniß seines Lebens seit vierzig Jahren. Und dieses mußte ich ihm bis zu anbrechendem Tage vorlesen. Als wir fertig waren, so that er das brünstigste Gebet zu Gott, und dankte ihm für die Güte und Liebe, welche er ihm in der Welt hatte genießen lassen, auf eine ganz entzückende Weise, und bat, daß er ihn in der künftigen Welt die Wahrheit und Tugend, der er hier unvollkommen nachgestrebt, möchte vollkommen erreichen lassen. Er ließ seinen Sohn rufen, nam uns beyde in die Arme, und fieng an zu weinen. Dieses, sagte er, sind seit vierzig und mehr Jahren die ersten Thränen, die ich vergieße. Sie sind keine Zeichen meiner Wehmuth und Furchtsamkeit, sondern meiner Liebe. Ihr habt mir mein Leben angenehm gemacht; allein das Glück, das ich nach meinem Tode hoffe, macht mir den Abschied von euch sehr erträglich. Liebt getreu, und genießt das Leben, das uns die Vorsehung zum Vergnügen und zur Ausübung der Tugend geschenkt hat. Er gab mir noch allerhand Regeln, wie ich meine Kinder ziehen sollte, wenn unsre Ehe fruchtbar seyn würde. Und in eben der Bemühung, auch seine Nachkommen durch eine weise Vorsorge noch glücklich zu machen, starb er.