Gottfried Wilhelm Leibniz
1646 - 1716
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Von der Weisheit
1672/76
Text:Die philosophischen Schriften vonGottfried Wilhelm Leibniz, Band 7herausgegeben von C. G. GerhardtBerlin: Weidmann, 1890
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Von der Weisheitdas ist von der Wißenschafft derGlückseeligkeit und Tugend
Dieweil nichts cräfftiger uns antreibt, als deßen Nuz wohl bekandt; auch nichts mehr bekand, noch leichter zu verrichten, als was in wenigen enthalten, und also dem gemüth stets vorzustellen, so ist rathsam daß was sonsten weitläufftiger abgefast, in dieses wenige zusammen gezogen werde. Nehmlichen die Haupt=Regel unsers Lebens ist, daß wir stets nach vermögen alles das jenige genau thun oder laßen, was uns nicht die Bewegungen, sondern der Verstand anweiset am nüzlichsten oder am schädlichsten zu seyn: Und wann wir solches gethan, daß wir alsdann es schlage auch aus wie es wolle uns für glückseelig halten, und ohne einige clage oder traurigkeit ruhig und vergnüget seyn, uns versichert haltende, daß so lang wir in diesem Gemüthsstande seyn alles was geschehen wird, auffs beste für uns geschehen werde.Solches zu erhalten, ist nothig zu zeigenErstlich was für herrlichen Nuzen der gebrauch dieser Regel habe. Das ist von Glückseeligkeit.Fürs andere, welcher gestalt man sich gewehnen könne; so viel müglich sie stets für augen zu haben, sie stets aufs festeste zu glauben und ihr mit allen cräfften nachzutrachten, daß ist von Tugend.Fürs dritte wie man die obgedachte regel aufs vollkommenste Üben und also, was bey ieder begebenheit das beste sey, durch den verstand aufs geschwindeste, soviel die zeit zuläßet finden, und das so gefunden und beschloßen aufs leichteste erhalten könne. Das ist von andern Gaben, ohne welche man zwar glücklich seyn kan, gleichwohl aber zu solcher vollkommenheit nicht gelanget als wann man sie dabey hat. Solche Gaben nun sind, Wißenschafft, Kunst, und Vermögen: Wißenschafft der natur unser [uns] äuserlichen dinge, Kunst, daß ist gewiße Übungen, so unsers gemüths und leibes Kräffte vermehren, umb sich der äusern dinge beßer zu gebrauchen, Vermögen, das ist vorrath äuserlicher dinge, deren gebrauch zu unser mehrer Vollkommenheit, oder zu erhöhung unser Glückseeligkeit dienen kan.Sind also diese drey Puncte also unterschieden, daß der erste der andern beyden zweck ist; der andere das ist die tugend, den ersten das ist die Glückseeligkeit, zu erlangen und zu erhalten dienet; der dritte aber das ist die wißenschafft und kunst, euserer dinge sich zu gebrauchen, nur die durch tugend erhaltene glückseeligkeit erhöhet; dahehr der Mensch durch die bloße tugend das ist ohne äuserer dinge hülff glückseelig seyn kan, wenn er gleich ohne wißenschafften, künste und vermögen ist. Nicht aber ohne tugend durch äusere dinge, noch durch glück und reichthum ohne Vergnügen, glückseelig das ist vergnügt seyn kan.
Erstes TheilVon Nuzbarkeit der Lebens Regel
Das ist von der Nuzbarkeit eines steten Vorsazes alles nach der Vernunfft zu thun; und eines festen Glaubens daß wer solchen vorsaz soviel er erkennen kan ins werck zu richten suchet, glückseelig sey.Der Nuzen solches Glaubens oder solches Vorsazes ist die Glückseeligkeit selbsten. Denn wer da glaubt er sey glückseelig der ists so lang ers glaubt; und wers mit Vernunfft glaubt, wirds, so lang er seine Vernunfft wohl zu brauchen einen ernsten vorsaz hat, und bey Vernunfft bleibet, allezeit glauben. Dieweil so lang er bey Vernunfft bleibet, in seiner macht die Vernunfft wohl zu brauchen, und also zu glauben was wahr ist.Damit aber solcher Nuzen clärer erhelle wird rathsam seyn deßen Exempel in einigen fällen zu erzehlen, und zu bemercken,Erstlich Was ein Mensch vor sich dadurch erhalte,vors andere Was er von sich und andern vor aestim habe,vors dritte Wie er sich gegen andere bezeuge.
I.Vor sich erlangt ein Mensch dadurch1) Weisheit, 2) Tugend, 3) Glückseeligkeit.
1) Besizet ein solcher Mensch wahre weisheit, und wird durch stete übung bequem alles was einem Menschen möglich zu erlernen, zu erfinden, und welches das vornehmste wohl zu gebrauchen aus welchen vor erst folgt, daß er sich wiße nicht nur einer und ander gaben theilhafftig zu machen, sondern aller ingesamt deren das Menschliche Gemüth fähig ist. Denn nur zwey Ursachen die Menschen unterscheiden, und machen daß einer einige gemüths gaben vor den [andern] hat, nehmlich daß einer leichter als der andere zu etwas gelanget, weil ihn die Leibesbeschaffenheit und bewegungen dazu bequem machen, oder auch weil sich einige gelegenheiten gefunden, so ihn durch lange übung dazu bereitet. Solcher Leibesgeschickligkeit aber und Glücksfälle mangel kan in andern durch fleiß ersezet werden, wiewohl es wegen der anfänglich verspürten mühe gemeiniglich unterlaßen wird.Ferner folgt daraus daß nur allein ein solcher Mensch vor gelert zu achten; maßen studiren nichts anders seyn solte, als seinen Verstand recht und wohl zu gebrauchen lernen, daß ist wie man in allen vorfällen was einem nüzlich oder schädlich seyn möchte erkennen möge, und also siehet man daß einem ieden Menschen dergestalt zu studiren obliege, welches dann sowohl der Verstand anweiset, als auch alle Menschen stillschweigend billigen. Denn weil vor erst der Verstand die herrlichste gabe von Gott (dann ohne ihn wißen und haben wir nichts), so kan nichts beßers gethan werden, als daß die so damit begabt, solchen wohl zu gebrauchen lernen (dann was ist was guthes haben, und deßen gebrauch nicht wißen), daß ist das alle Menschen zu studiren sich befleißen sollen; und dann ist gewiß das so viel die glückseeligkeit betrifft, zwischen einem gelerthen und ungelehrten Menschen in dieser bedeutung ein größer Unterschied sey, als zwischen einem Menschen und unverständigen thiere. Daß aber alle Menschen wo nicht mit dem munde, doch in der that solches vor gewiß halten, siehet man daraus daß nichts mehr von ihnen geclagt wird, als daß wenig leute sind die ihr glück wohl zu gebrauchen wißen, die guthe tage ertragen können, und bey aller ihrer herrligkeit und überfluß vergnügt seyn.Endtlich folgt daß ein solcher Mensch über alle gesez, und keinem geboth unterworffen, dieweil er auch ohne alle gesez der verständigsten gesezgäber wundsch erfüllen, und alles beßer thun wird als einige worth ihm vorschreiben können. Denn ja alle gesez sind eines gewißen Nuzens wegen gegeben, nun aber nicht Gott zu dienst, denn der Mensch lebe wohl oder ubel, so kan er dem vollkommensten wesen nichts zu sezen oder benehmen, folgt also, daß sie nur dem Menschen zu nuz gegeben, und zwar ferner ohne zweifel auch nur demselbigen, der durch anleitung des verstandes seinen nuzen nicht zu suchen weis, sondern durch bewegungen umbgetrieben wird, dem man gewiße und sichtbare schrancken sezen müßen, damit er durch misbrauch seiner freyheit nicht zu weit ausweiche, und sich in die tieffe des verderbens stürze.
2) wohnet in einem solchen Menschen Vollkommene Tugend maßen ein großer unterscheid unter wahren tugenden, und denen so nur einen schein der tugend haben ja auch bey den wahren tugenden selbst, unter denen die von Verstand, und unter denen die von gewißen einbildungen oder fehlern entspringen, und mit unwißenheit vermenget seyn. Dann erstlich pflegt man offt die Laster so nicht viel im gebrauch, und die bekandten lastern können entgegengesezt werden, tugenden zu nennen, ja offt vor höher als wahre tugenden zu halten, so solchen schein nicht haben. Also dieweil mehr gefunden werden, die die gefahr furchtsamer weise fliehen, als die sich unbedachtsam in selbige stürzen, so wird dem laster der furchtsamkeit die vermeßenheit als eine tugend entgegengesezt, und offt mehr als wahre herzhafftigkeit gepreiset; also kommen offt die verschwänder zu einem größern Nahmen als die freygäbigen, und die aberglaubische Scheinheiligkeit hat einen größern ruff als die wahre Gottseeligkeit.Weiter können auch wahre doch unvollkommene Tugenden von irrthum entspringen; so komt offt von einfalt ein guthes gemüth von der furcht frömmigkeit, von der verzweifelung herzhafftigkeit, und diese tugenden sind unterschiedener Natur, wie auch ihre benennungen; aber diese reine und lautere tugenden, so von wahrer erkäntnüß des guthen hehr fließen, wie sie alle einer Natur, also sind sie auch alle unter diesen einzigen Nahmen der Weißheit enthalten. Denn wer nach dieser Regel sein thun richtet, der hat nicht nur diese oder jene tugend, sondern alle zugleich, auch also mit einander vereiniget, daß keine über die andere hervorscheine, dahero obgleich selbige weit vortreflicher, iedoch weil sie dem gemeinen hauffen nicht so bekand, pflegt man sie mit so großen Lobe nicht herauszustreichen.
3) begleitet ihn in allen seinen verrichtungen große vergnügung und heraus entspringende belustigung des gemüthes. Denn ein solcher Mensch über das Vergangene sich nicht bekümmern kan; in dem er entweder erlangt was er gesucht, oder wo nicht, doch wohl sihet, daß ihm nüzlicher daß ers nicht erlanget, und so er endlich gefehlet, dienet ihm solches ins künfftige zu desto beständigerm glück.Das gegenwertige weis er also einzurichten, daß es ihm sichere große angenehmligkeit erwecken mus; maßen das menschliche gemüth absonderlich durch dreyerley art wollüste in diesem Leben ergäzet wird, einer aber aus denselbigen genießet ein solcher Mensch allezeit völlig. Denn entweder er ist in schärffung und erbauung seines Verstandes bemühet; weil es der jenige wegweiser dem er sich gänzlich übergeben und anvertrauet, alsdann erwecket die erkändnüß deren sachen so er dadurch uberkomt in ihm eine solche wollust, die im geringsten nicht zu vergleichen mit der jenigen welche wir empfinden durch beschauung derer sachen so die augen uns anweisen; oder aber dieweil er stets nur den bewegungen des gemüths nachzufolgen im vorsaz, solchen aber die bewegungen des Leibes sehr zuwieder, so ists zwar offtmahls schwehr sich diesen entgegen sezen; die überwindung aber versuchet in ihm die lieblichste angenehmste beständigste vergnügung des gemüths, als einige andere seyn mag, sie komme auch hehr wo sie wolle; oder ja endtlich da er sich zu zeiten der erlustigung bedienet, so uns Gott durch die euseren sinne ertheilet, und die fast nur allein ins gemein bekandt, so weis er sich der mit weit mehr empfindligkeit zu bedienen, als die so nur bloß durch affecten getrieben werden. Dazu denn sonderlich dieser vortheil dienet, daß er sich deren zu rechter zeit zu bedienen, und sie wohl zu mischen wiße; denn wenn sie zu offt kommen, erlustigen sie nicht mehr, und wenn sie zu unrechter zeit kommen, erlustigen sie nicht gnugsam. Daß also wer dieses wohl verstehet, die kunst hat wohl zu leben und dieses Lebens sußigkeit mit beßer annehmligkeit und vergnügung als andere zu schmecken.Endtlich fürchtet er auch das Zukünfftige nicht, theils seiner eignen tugend sich vertrauende, theils wißende, daß man sich zu dem wesen alles vollkommen guthen nichts böses zu versehen habe.
II.Ein solcher Mensch weis sich und andere recht zu schäzen. Denn weil vergnügung eine gewiße aestim von sich selbst mit sich bringet, alle aestimation aber eine vergleichung erfodert, solche vergleichung aber sowohl mit sich selbst (in dem er den unterschied zwischen dem was er ehemahlen, vor erlangter erkändnüß gewesen, und dem was er aniezo ist, empfindet) als auch mit andern die ihm in gewißen dingen vorgehen oder weichen, geschehen kan. So ist zu mercken Erstlich daß ein solcher Mensch vor niemand hoher ansehns sich scheuet, oder niederschlägt; noch vors andre geringre vor sich verachtet, weniger drittens durch ander urtheil sich betrüben läßet maßen gewis
1) daß ein Mensch so unsre Lebens=Regel wohl gefaßet vermeinet, er sey nicht viel weniger als andere so durch den in der welt eingefuhrten hohen stand, reichtums oder ander Gaben wegen ihm vorgezogen werden. Dieweil in seiner macht, nicht weniger glückseelig zu seyn, als sie; und andere dinge fast nichts in vergleichung eines guthen gemüths zu achten.
2) Erkennet er hie wiederumb auch leicht, daß er keine ursach habe sich über andere zu erheben noch selbige zu verachten; Denn solte er etwa zu größerer perfection gelanget seyn, so stehet ihm hinwiederumb vor die schwachheit unser Natur und die irrthümer so durch geschwinde ubereilung (in dem nicht wohl müglich allezeit gnugsam auff sich acht zu haben) entweder schon mögen geschehen seyn, oder noch geschehen können und vielleicht eben so groß seyn können, als die von andern gethan werden. Weiter ist auch gewiß das andere sich ihres verstandes ja so wohl als er selbst bedienen können, und ob er gleich offt siehet andere solche fehler begehen, die ihre schwachheit gnugsam an tag geben, so ist er doch geneigter sie zu entschuldigen als zu tadeln; auch mehr bereit zu glauben daß der fehler aus mangel erkändtnüß als guthen willens hehr rühre. Dahehro so er gleich die laster haßet, leget er doch keinen haß auff die so damit beflecket.
3) Achtet er nur allein dieses so nach unser Haupt=Regel gethan wahrhafftig ruhm= und lobes= auch was dem zu wieder, scheltwürdig. Dahehr krancket er sich gar nicht, wann andere sein thun tadeln, dieweil solches entweder aus unverstand geschicht, daß sie ihn dem gemüth nach nicht kennen; dahehr wir uns ein solches nicht mehr zu gemüthe zu ziehen haben, als wenn ein guther freund uns, wenn wir unter einer larffe bedeckt, und ihm unerkändtlich, beschimpfte; oder es rühret solch tadeln hehr aus misverständnüß der wahren Ursach so ihn zu einiger that bewogen.
III.Weis ein solcher Mensch sich gegen andere also zu bezeugen, wie es ihm und ihnen am besten; nehmlich holdseelig in geberden; annehmlich in reden, dienstfertig in wercken. *)
1) Ist er hold= und leut=seelig, also daß iederman gern mit ihm umb=gehen, und das vertrauen zu ihm faßen möge, daß er in allen aufrichtig verfahre; damit man sich auff ihn verlaßen, und die Kühnheit nehmen möge was es auch sey ihm anzuvertrauen. Giebt also durch geberden zu erkennen, wie tugendhafft er in seinem gemüth seyn müße.
2) Erweist er sich gegen iederman annehmlich oder lieblich in reden, entfernet von allen zorn, unwahrheit oder andern affecten.
3) Ist er diensthafft gegen alle so sein verlangen, willig in dero anliegen, und emsig was er erkennet andern zu ihren verrichtungen nöthig ihnen an die hand zu geben, absonderlich weil ihm Gott durch seine gnade angewiesen, wie er höchst vergnügt leben könne, als trachtet er auch andere solcher glückseeligkeit theilhafftig zu machen.Das 1. theil von glückseeligkeit oder Nuzen der Haupt=Regel ist bisher in etwas entworffen. Nun solte folgen das II. theil von Tugend, oder wie man sich an obgedachte Regel gewehnen könne. Und das III. von Kunst und Wißenschafft sich äuserer dinge zu gebrauchen, umb die durch Tugend erlangte Glückseeligkeit zu erhöhen. Allein es wird alsdann zeit sein davon zu reden wenn man spüren wird, daß eine Person aus dem Ersten theil den Nuzen dieses Vorhabens wohlgefaßet, und nach reiffer überlegung bey sich beschloßen haben wird der obgedachten Lebens Regel auffs genaueste nachzugehen, ohne das einige Geschäffte, Schwierigkeit, gewohnheiten, und andere umbstände so die Menschen zu verwirren und abzuschrekken pflegen, ihn daran verhindern können. Dann alsdann wird er der Heimligkeiten dieser unvergleichlichen wißenschafft fähig seyn, wenn er bey diesem vorschmack eine sehnliche begierde zu wahrer glückseeligkeit in sich erwecket zu seyn empfindet.
―――――――― *) Humanus, affabilis, officiosus. |