BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Glückel von Hameln

um 1646 - 1724

 

Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln

übersetzt von Alfred Feilchenfeld

 

Beispiele der im Original vorkommenden

erbaulichen Erzählungen.

 

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[314]

3.

Von frommen Werken.

 

(S. 204-209 der Kaufmannschen Ausgabe.)

 

Hierher paßt, was ich in dem Buche Jesdi Nochalin 1) mit den Anmerkungen des gelehrten Rabbi Jesaia [Hurwitz] [315] gefunden habe, welches man mir auf deutsch vorgelesen hat. Es heißt dort: Etwas Schlimmes an dem Menschen habe ich unter der Sonne gesehen. Wenn Gott einem Menschen großen Reichtum, viele Güter und Grundstücke gegeben hat, so wird er von all dieser Güte nicht satt. Das heißt, wenn der Mensch sterben soll und den Tod nahe vor sich sieht und er hinterläßt anderen Leuten oder seinen Kindern ein großes Vermögen, so ist ihm dies Vermögen noch lieber als seine verschnittene Seele und er denkt nicht daran ihr das zu geben, was ihr fehlt; denn er vergibt von seinem Vermögen nichts für Wohltätigkeitswerke und fromme Stiftungen und sonstige Gaben für Arme und Dürftige. Nach seiner Stärke lädt man dem Kamel seine Last auf 2), das heißt: [der Mensch soll Wohltun üben] nach seinem Vermögen, auf daß die Mildtätigkeit vor ihm hergehe und ihm auf seinem Wege vor allen Scharen böser Engel behüte, die in der Luft sind, von der Erde bis zum Himmel, und zwischen denen seine Seele hindurchgehen muß. Sie begegnen ihm und hindern ihn auf dem Wege und bedrängen ihn mit allen Qualen und Schmerzen. Wenn er aber Almosen gibt, dann geht die Frömmigkeit vor ihm her um ihn auf seinem Wege zu behüten und bringt ihn ohne Qual und Schmerzen an den Ort, der ihn bereitet ist.

Nun nehmen sich die meisten Menschen dies leider nicht zu Herzen, wenn sie vom Leben scheiden. Bist du, Mensch, da nicht der größte Tor? Für wen hast du dich abgemüht und gearbeitet alle Tage deines Lebens? Für eine Welt, die nicht dein ist. Und jetzt, wo du siehst, [316] daß deine Seele von dir geht und du dir in einer Stunde das ewige Leben kaufen und durch Mildtätigkeit großen Lohn erlangen kannst – da willst du dennoch nichts von deinem Geld abbröckeln, wiewohl du siehst, daß du es fremden Leuten, die sich nicht darum bemüht haben, wider deinen Willen geben mußt und du selbst leer hinweggehst? Wenn du auch denkst, daß du in deinem Leben schon viel Wohltätigkeit geübt hast, so laß diese Gedanken; denn „eine Handvoll macht den Löwen nicht satt“ 3) und sicher reicht dies nicht aus zu dem großen, weiten Weg, den du gehen mußt. So finden wir dies auch im Talmud-Traktat Ketubot 4) von dem großen Mischnalehrer Mar Ukbah, der, wie jedem bekannt ist, in seinem Leben sehr viel Gutes getan hat. Dennoch sagte er in seiner Todesstunde: „Was für einen weiten Weg habe ich zu gehen und wie wenig Zehrung habe ich mitzunehmen!“ Da stand er auf und gab die Hälfte von allem, was er hatte, für Gaben der Mildtätigkeit her. Wenn auch unsere Weisen sagen: Man soll nicht mehr als ein Fünftel von seinem Vermögen weggeben, so gilt dies nur, so lange der Mensch am Leben und frisch und gesund ist. Aber in seiner Todesstunde mag er sogar alles, was er hat, weggeben. Denn jeder ist sich selbst der nächste. Nun war der Mar Ukbah einer von den stärksten Tannenbäumen in unserer heiligen Lehre und er hat also getan; was sollen nun in unserer jetzigen Zeit gewöhnliche Menschen tun? Darum soll jeder ein kluger und besonnener [317] Mensch sein und sich einen guten Anteil für sich und seine Seele wählen. Denn was hilft und nützt es der betrübten Seele, wenn er alles Seinige seinen Kindern hinterläßt, um das er sich lange gemüht und gearbeitet hat, und er wird in die Grube geworfen und sein Glanz wird in Verderben umgewandelt? Seine Erben bleiben in seinen schönen Häusern und Palästen und sitzen geräumig und singen Lieder und Lobgesänge; er aber sitzt allein mit Wehklagen in der traurigen Grube. Seine Erben essen von seinem Vermögen lauter Leckerbissen und seine Speise ist lauter Erde! Darum soll derjenige, dem der hochgepriesene Gott Weisheit und Verstand gegeben hat, sich alles zu Herzen nehmen; denn wenn er nicht selbst auf sein Wohl bedacht ist, wer soll denn darauf bedacht sein, und wenn nicht jetzt, wann denn?

Wenn auch der große Weise (Rabbi Abraham Hurwitz) noch viel mehr Mahnungen und andere Sachen schreibt, die so süß schmecken wie Honig, so will ich es doch bei dem Gesagten bewenden lassen; wer noch Weiteres davon wissen will, mag es in dem erwähnten Buche nachlesen. Liebe Kinder, um Gottes willen, seid gottesfürchtig [und hänget euer Herz nicht an irdisches Gut]; was ihr in dieser Welt nicht habt, das wird euch Gott in der künftigen Welt doppelt geben, wenn ihr ihm mit eurem ganzen Herzen und eurer ganzen Seele dient.

 

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1) Testament des Abraham ben Sabbatai Hurwitz (Prag 1615), das von seinem Sohn Jacob Hurwitz mit Anmerkungen begleitet wurde. Siehe Güdemann, Quellenschriften zur Geschichte des Unterrichts usw., S. 104, 117 ff. Daß Jakobs berühmterer Bruder Rabbi Jesaia Hurwitz Anmerkungen zum Testamente des Vaters herausgegeben habe, beruht wohl nur auf einem Irrtum unserer Verfasserin, die das hebräische Werk, wie sie selbst sagt, nicht eingesehen hat. Uebrigens ist die ganze obige Erzählung in dem Original des zitierten Werkes nicht zu finden. Siehe Landau, Die Sprache der Memoiren Glückels, S. 26-28. 

2) Talmud Ketubot, fol. 67 a: Nach dem Kamel die Last.  

3) Talmud Berachot, fol. 3 b. 

4) Fol. 67 b (einziges Talmud-Zitat bei Glückel mit Angabe des Traktates). Die Bezeichnung „Mischnalehrer“ ist ungenau.