BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Glückel von Hameln

um 1646 - 1724

 

Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln

übersetzt von Alfred Feilchenfeld

 

Sechstes Buch.

 

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[279]

Siebentes Buch.

Zusammenbruch des

Geschäftes Cerf Levys.

Glückels spätere

Erlebnisse in Metz.

 

Nun will ich mit Gottes Beistand das siebente Buch anfangen, welches teils Trübsal teils Vergnügen enthält, wie es so die Ordnung der Welt ist. Gott gebe, daß ich weiter keinen Schmerz von meinen lieben Kindern erlebe, daß ich in meinem Greisenalter alle Freude und ihr Wohlergehen sehen und hören möge. Wie oben erwähnt 1), hatte ich von meinem Sohne Samuel einen ewigen Abschied genommen. Gott soll sich erbarmen, daß so ein wackerer, junger Mensch schon die schwarze Erde kauen muß! Ich war noch nicht zwei Jahre hier in Metz, als ich leider die traurige Nachricht bekam, daß er das Zeitliche gesegnet habe und in das Ewige eingegangen sei. Was mir das für ein Schmerz und Seelenkummer war, ist Gott bekannt. So einen lieben Sohn in so jungen Jahren zu verlieren! Nicht lange nach seinem Absterben kam seine Frau ins Kindbett und bekam eine Tochter, die Gottlob frisch und gesund und ein schönes Kind ist. Gott gebe, daß wir allerseits viele Freude an ihr erleben! Sie wird jetzt ungefähr dreizehn [280] Jahre alt sein 1a) und soll ein sehr wackeres Menschenkind sein; sie ist bei ihrem Großvater Moses Bamberg. Meine Schwiegertochter, Samuels Witwe, hat wieder einen andern Mann genommen, ihn aber nicht lange behalten; er ist auch gestorben. So hat das gute, junge Weib auch ihre Jugend bis jetzt miserabel zugebracht. „Wer kann [zu Gott] sagen: Was tust du?“ (Job. 9,12; Kohelet 8,4.) Ich mag weiter nichts davon erwähnen; es ist mir zuviel Herzeleid.

 

Inneres einer Lothringer Synagoge (Metz?)

 

Als ich ein Jahr hier war, meinte ich vergnügt leben zu können, wie es auch den Anschein hatte. Wenn mein Mann sich noch zwei Jahre hätte halten können, hätte er sich genügend herausreißen können. Denn zwei Jahre, nachdem er seinen Kreditoren alles hatte geben müssen, waren in Frankreich die Geschäfte so gut, daß die ganze Gemeinde [Metz] davon reich geworden ist. Mein Mann war sehr klug und ein großer Geschäftsmann und bei Juden und Nichtjuden wohl gelitten., Aber der allgütige Gott hat es nicht haben wollen und seine Kreditoren haben ihn gar sehr gedrängt, so daß er über Bord gehen 2) und ihnen alles Seinige hat überlassen müssen. Wenn sie auch nicht einmal die Hälfte von dem bekommen haben, was er ihnen schuldig war, so sind sie doch sehr gütig mit ihm gewesen. Obschon ich die mir bei der Heirat verschriebene Summe von ihm zu [281] fordern hatte, so habe ich doch selbst gesehen, daß nichts zu kriegen war. Er hat alles Geld meiner Tochter Mirjam in Händen gehabt; das habe ich von ihm in Schuldbriefen auf andere Juden bekommen. Aber wie sauer und schwer es mir geworden ist, das weiß der hochgepriesene Gott. Auch mein Sohn Nathan hat einige Tausend Reichstaler von ihm zu fordern gehabt; die habe ich auch gesehen zu bekommen und habe darum nicht an meine Eheverschreibung gedacht und mit allem vorlieb genommen, was mir der Allgütige zugeschickt und getan hat, wie der Adler, der seine Kinder auf seine Flügel nimmt und sagt: Es ist besser, daß man auf mich schießt als auf meine Kinder. Was habe ich mich gequält! Mein Mann hat sich verbergen müssen. Als die Kreditoren es gewahr wurden, haben sie drei Gerichtsdiener in sein Haus geschickt; die haben eine Inventur gemacht und alles bis zum Nagel an der Wand aufgeschrieben und versiegelt, so daß sie mir nicht Speise für eine Mahlzeit gelassen haben. Ich habe mit meiner Jungfer 3) in der Stube gewohnt; darin haben sich die drei Gerichtsdiener auch aufgehalten und sie sind die Meister gewesen, keiner hat aus- und eingehen dürfen. Habe ich am Tage einmal weggehen wollen, da haben sie mich untersucht, ob ich etwas bei mir hätte. In diesem miserablen Zustand haben wir etwa drei Wochen gelebt. Endlich hat mein sel. Mann einen Akkord mit seinen Kreditoren gemacht. Sie haben alles, was er gehabt hat, aufgeschrieben und es ihm in Händen gelassen, damit er [282] einen Ausruf machen 4) sollte. Da ist kein zinnerner Löffel bei ihm im Hause gewesen, der nicht aufgeschrieben wurde, so daß er nichts hat verheimlichen können. Er wollte auch nichts verheimlichen; denn er hat Gott gedankt, daß er mit seinem Leben davongekommen ist. Seine Kreditoren haben gesehen, daß er ihnen alles gegeben, was er gehabt hat; da haben sie selbst Mitleid mit ihm gehabt, als er die Hälfte von dem nicht bezahlen konnte, was er mit ihnen akkordiert hatte. Sie haben ihn in Frieden gelassen und ihn nicht scharf gedrängt. Sie hätten ihn wohl gefangen nehmen können, aber sie haben gesehen, daß er ein ehrlicher Mann war und daß ihm nicht das geringste von dem, was er besessen hatte, übrig geblieben war. Er ist ein sehr wackerer Mann gewesen und war in seinem Wohlstand von allen geliebt und gefürchtet. Er ist an die dreißig Jahre lang Gemeindevorsteher und Fürsprecher 5) in Metz gewesen und hat alles sehr schön geführt, so daß er bei Juden und Nichtjuden sehr beliebt war. Aber da ihn leider das Unglück betroffen hatte, ist es uns sehr miserabel gegangen, so daß wir wirklich oft kein Brot im Hause gehabt haben. Wie vor einigen Jahren hier so große Teuerung war, habe ich von meinem bißchen Geld zeitweise ausgegeben, was für den Haushalt nötig war. Sobald er Geld bekommen hat, hat er mir solches wiedergegeben. Mein Schwiegersohn Moses Krumbach hat ihm viel Gutes getan, obwohl er um mehr als 2000 Taler bei [280] ihm zu kurz gekommen ist. Der allgütige Gott hat das meinen Schwiegersohn auch genießen lassen, so daß er Gottlob wirklich der reichste Mann in der Gemeinde gewesen ist und ein rechtschaffener Mann. Er hat ein „neues Herz“ bekommen, so daß er an Verwandten viel Gutes tut, sei es von seiner Seite, sei es von Seiten meiner Tochter Esther. Er ist jetzt Gemeindevorsteher; sein Haus ist für Arme weit geöffnet und alle angesehenen Fremden, die von den vier Enden der Welt kommen, sind bei ihm und er tut einem jeden Zucht und Ehre an, desgleichen seine Frau, meine Tochter Esther. Beide haben gute Herzen und es geschieht aus ihrem Hause sehr viel Gutes. Gott vergelte es ihnen und lasse sie mit ihren Kinderchen bis zu hundert Jahren in Reichtum und Ehre gesund bleiben!

Ungefähr im Jahre 1712 5a) am 1. Siwan, ist mein aia Enkel Elia zu Glück und Segen Bräutigam geworden; die Hochzeit wurde auf Siwan 1716 – er komme zum Guten – festgesetzt, da Braut und Bräutigam beide noch sehr jung sind 6). Gott verlängere ihre Tage und Jahre! Sie bringen mit Geschenken nicht mehr zusammen als ungefähr 30 000 Reichstaler 7). Der allgütige Gott soll ihnen Glück und Segen geben! [284]

Um nun wieder von meinem sel. Mann zu schreiben – er hat sich in sein Elend nicht gut schicken können. Denn seine Kinder sind damals noch nicht imstande gewesen ihrem Vater vollkommen zu helfen. Sie haben aber getan, was sie konnten. Der Sohn meines sel. Mannes, Rabbi Samuel, ist ein großer Schriftgelehrter und ein in jeder Beziehung tüchtiger und überaus kluger Mann gewesen. Er ist lange in Polen gewesen und hat dort gelernt und den Morenu-Titel 8) erhalten. Als er aus Polen zurückkam, war ich noch nicht in Metz, sondern ich bin erst einige Jahre danach hierher gekommen. Da habe ich den Rabbi Samuel schon hier in seinem eigenen Hause gefunden.

Mein seliger Mann wie auch Samuels Schwiegervater, der reiche und fromme Abraham Krumbach, haben ihn sehr unterstützt, so daß er sein Lernen fortsetzen konnte. Sie haben ihm auch soweit geholfen und, wie mir scheint, hat die Autorität beider Eltern bewirkt, daß man meinen Stiefsohn als Rabbiner im Elsaß 9) aufgenommen hat, welches Amt er nach seiner Klugheit sehr gut geführt hat. Er ist auch bei allen Menschen sehr beliebt gewesen. Aber der Ertrag der Stelle konnte nicht für den Gebrauch seines Hauses ausreichen. Denn Rabbi Samuel und seine Gattin Genendel stammten beide aus großen Häusern, die sich gar prächtig geführt und viel Gutes getan haben; da wollten sie auch in demselben Stand bleiben; aber die Rabbinerstelle konnte nicht soviel eintragen. [285] Da hat sich Rabbi Samuel bei dem Herzog von Lothringen engagiert, der damals seine Hofhaltung in Luneville hatte; denn damals fing der Krieg zwischen dem Könige von Frankreich und dem Kaiser nebst seinen Alliierten 10) an, die ich nicht nötig habe mit Namen zu nennen, da allen wohlbekannt ist, wer sie gewesen sind.

Zu dieser Zeit hat Rabbi Samuel die Münze von dem erwähnten Herzog übernommen. Hierfür brauchte er zum Zwecke der Geschäftsführung ein großes Kapital, das er nicht allein aufbringen konnte. Ein halbes Jahr bevor er die Münze übernahm, hatte er einen Kram angefangen. Zu diesem war auch ein großes Kapital nötig, denn der Herzog und der ganze Hofstaat kauften alles bei ihm, denn er stand bei dem Herzog und allen seinen Ratgebern in großer Gunst, wie er auch wirklich so ein Mensch ist, der Gunst findet in den Augen Gottes und der Menschen. Aber er konnte den Kram auch nicht allein führen, wie sich's gehört; daher hat er seine beiden Schwäger, die hier in Metz wohnten, zu sich genommen. Der eine von ihnen, Isai Willstadt, der mit der Schwester des Rabbi Samuel verheiratet war, war ein sehr angesehenes Gemeindemitglied, der andere, Jakob Krumbach, der Bruder der Frau des Rabbi Samuel und meines Schwiegersohnes Moses Krumbach, ist auch ein großer und wackerer Mann.

 

Fassaden jüdischer Häuser in Metz

 

Diese drei Männer haben ihre vornehmen Häuser, die sie in der Judenstraße (in Metz) hatten, stehen lassen und sind nach Luneville gezogen. Sie haben dort mit [286] Rabbi Samuel Kompagnie gemacht und große Stücke Waren in ihrem Lager gehabt, die sehr gut abgingen. Sie haben auch anderen Handel gehabt, so daß sie sehr gut dort gesessen haben. Danach hat Rabbi Samuel die Münze bekommen, an der zwar nicht soviel zu verdienen war; aber die Menge hat es ausgemacht, daß doch schöner Verdienst daran war. Zu jener Zeit, als sie die Münze übernommen haben, hat Rabbi Samuel solches seinem Vater geschrieben. Aber meinem Manne hat dieses Geschäft nicht recht angestanden; denn er war überaus klug und wußte, daß ein solches Geschäft nicht gut tun kann und besonders, daß der König von Frankreich so etwas nicht gut leiden konnte. Denn Metz liegt dicht bei Luneville, nur eine Tagereise von dort, und alles Geld [das in der Münze zu L. hergestellt wird] muß hier verkonsumiert werden. – Mein Mann hat das alles wie ein alter, geübter Geschäftsmann betrachtet und auch seinem Sohn ganz genau geschrieben, was für ein großes Kapital dazu gehört und was daraus entstehen kann. Aber alle die drei Genannten sind junge Leute gewesen, die sehr hitzig auf das Geschäft gewesen sind, und sie haben endlich mit dem Herzog einen Vertrag geschlossen ihm eine große Menge Silber zu liefern und die Bezahlung von der Münze in verschiedenen Münzsorten zu bekommen. Eine Zeitlang ist alles glücklich gegangen; aber es ist einigen von ihnen nicht zum Guten ausgeschlagen und für Rabbi Samuel ist es der Untergang gewesen, wie weiter folgen wird.

Ein halbes Jahr haben die drei Gesellschafter ihr Warengeschäft geführt und anderen Handel mit Wechseln und sonstigem, wie es bei Juden Brauch ist, getrieben. [287] Damals hat hier ein Familienvater mit Namen Moses Rothschild gewohnt. Er war auch ein sehr reicher Mann und hatte schon viele Jahre nach Lothringen gehandelt und war dort bei einflußreichen Männern und bei Kaufleuten sehr bekannt. Da er nun hörte, daß sie (Rabbi Samuel und seine Genossen) so gute Geschäfte machten, ließ er sich auch mit seinem Sohn dort nieder, der ein Schwiegersohn des Rabbi Samuel war. Moses Rothschild hat solches durch die Räte des Herzogs erreicht und sich nicht weit von Luneville angesiedelt; denn er galt sehr viel bei dem Herzog und seinen Räten. Kurz – dieser Moses Rothschild hat sich auch engagiert und Silber an die Münze geliefert. Das hat so einige Zeit gewährt und sie sind mit ihrem Geschäft ganz zufrieden gewesen. Rabbi Samuel hat auch seinem Vater, meinem Mann, in jeder Beziehung viel Gutes getan, so daß er keinen Mangel hatte. Sie haben das Geld von dort hierher geschickt; zuweilen ist es angehalten worden und sie haben es wiederbekommen; zuweilen haben sie es auch nicht wiederbekommen. Unterdessen ist mein Mann immer in Sorge gewesen; denn er hat gesehen, daß großes Risiko und große Gefahr dabei war. Er hat das auch öfter seinem Sohne geschrieben. Solches hat aber nicht helfen können; denn geschehene Dinge sind nicht zu ändern.

Wie nun der Krieg zwisclien dem König von Frankreich und dem Kaiser immer heftiger geworden ist, ist vom König ein Verbot gekommen Lothringer Geld ein- oder aus Frankreich auszuführen. Zudem hat der König durch seinen großen Minister hierher an den Herrn [288] Latandy 11) ein Schreiben ergehen lassen, das dieser an die jüdische Gemeinde schicken und der Gemeinde vorlesen lassen sollte. Darin waren die fünf in Geschäftsgemeinschaft befindlichen Juden mit Namen genannt, die hier gewohnt hatten und von hier nach Lothringen gezogen waren. Wenn sie dort in Lothringen bleiben wollten, so sollten sie ihr ganzes Leben lang bei verschiedenen sdhweren Strafen keinen Fuß nach ganz Frankreich setzen. So hatten sie also die Wahl, ob sie wieder hierher nach Metz kommen oder in Lothringen bleiben wollten; hierfür sollten sie einige Monate Bedenkzeit haben. Als dieses den sämtlichen Gesellschaftern zu wissen getan wurde, erschraken sie sehr darüber; denn sie wußten nicht, wie sie sich entscheiden sollten, da ein jeder von ihnen wertvolle Häuser hier stehen hatte und sie auch ihr Wohnrecht in der Stadt nicht gern aufgeben wollten. Zudem hatten sie sich in dem Münzgeschäft mit dem Herzog bei großer Strafsumme stark verpflichtet. Der König schrieb auch: wenn die genannten Juden in Lothringen bleiben wollten, sollte die Gemeinde (Metz) in ihre Bücher einschreiben, daß sie kein Wohnrecht mehr in Metz haben sollten. Sie waren also sehr übel daran. Endlich kam die Zeit heran, daß sie Bescheid geben sollten. Da entschied sich zuerst Isai Willstadt dafür hierher zu kommen; desgleichen tat auch Jakob Krumbach. Ich weiß nicht, wie sie mit dem Herzog gefahren sind 12). Was sie an Waren in ihrem Laden hatten, [289] haben sie untereinander geteilt und sind mit Frau und Kindern und allem Ihrigen hierher gekommen und jeder hat sich wieder in sein Haus begeben. Aber Rabbi Samuel und Moses Rothschild und sein Sohn haben sich resolviert dort zu bleiben. Das hat meinen Mann sehr gekränkt und er hat sich, solches sehr zu Herzen genommen, so daß er den Kummer und die Beschwerde nicht aushalten konnte; denn er ist ohnehin ein schwacher Mann gewesen und gar sehr mit dem Zipperlein geplagt gewesen, und wie das noch hinzugekommen ist, hat es ihn gar sehr niedergeschlagen.

Wenn ihn auch sein Sohn Rabbi Samuel keinen Mangel hat leiden lassen und ihm alles geschickt hat, was er brauchte, und an seine Korrespondenten Order gegeben hat, daß man ihm alles geben solle, was er verlangte, so hat doch alles nichts helfen wollen. Rabbi Samuel hat seinem Vater auch einen bewährten Arzt geschickt um einige Heilmittel bei ihm anzuwenden. Der ist auch etliche Tage bei ihm geblieben und hat einige Heilmittel angewendet, hat aber gleich gesagt, daß er ein Mann des Todes ist – was sich auch [als richtig] erwiesen hat. Denn der gepriesene Gott hat ihn zu sich in das Ewige genommen und er ist sicher in die jenseitige Welt eingegangen. Denn er war viele Jahre hindurch Vorsteher gewesen und die Gemeinde ist gar wohl mit ihm zufrieden gewesen und er hat wirklich sein Leben dabei gewagt, wovon viel zu schreiben wäre. Aber ich finde solches nicht für nötig. Er ist zu seiner Ruhe gegangen und hat mich in Elend und Trübsal sitzen lassen. Ich habe wenig Geld für meine Eheverschreibung bekommen, nicht ein Drittel von dem, was mir [289] gebührt. Dennoch – was sollte ich tun? Ich habe alles dem Allgütigen anheimgestellt. Dazumal bin ich noch in dem Hause des Isai Willstadt gewesen, welches meinem sel. Mann zugehört hat, und ich habe vermeint, daß ich in seinem Hause bleiben könnte, so lange ich lebte, was mir Rabbi Isai auch zugesagt hatte. Aber als mein Mann gestorben war und Rabbi Isai mit seiner Frau und seinen Kindern, auch mit seinen Möbeln hierher gekommen ist, habe ich sofort aus seinem Hause gemußt und nicht gewußt, wohin ich soll. Bei meinem Schwiegersohn Moses Krumbach habe ich auch nicht sein können, da er noch nicht gebaut hatte, wie er es jetzt mit Gottes Hilfe getan hat. Also bin ich übel daran gewesen. Endlich hat ein Familienvater namens Jakob Marburg mir ein kleines Kämmerchen bauen lassen, worin ich keinen Ofen oder Schornstein gehabt habe. Ich durfte wohl in seiner Küche kochen und auch in seiner Winterstube sein – aber wenn ich zu Bett gehen oder sonst in meine Kammer gehen wollte, mußte ich zweiundzwanzig Treppen hinaufsteigen, was mir gar schwer angekommen ist, so daß ich die meiste Zeit unpäßhch gewesen bin. Mein Schwiegersohn Moses hat mir einen Krankenbesuch gemacht – es ist im Tebet (= Januar) 1715 gewesen – und hat zu mir gesagt, ich sollte in sein Haus kommen; er wollte mir ein Zimmer geben, das an der Erde wäre, so daß ich nicht die hohen Stiegen zu steigen brauchte. Aber ich habe mich dessen auch geweigert, da ich aus verschiedenen Gründen niemals gern bei meinen Kindern habe sein wollen. Aber auf die Dauer habe ich es doch nicht länger aushalten können. In jenem Jahre ist eine große Teuerung gewesen und ich habe eine Jungfer [291] halten müssen; bei der Gemeinde hat es auch Geld gekostet, so daß ich endlich angenommen habe, was ich lange zurückgewiesen hatte, und zu meinem Schwiegersohn Moses Krumbach gezogen bin. Solches ist ungefähr im Jahre 1715 gewesen und dieses schreibe ich im Tamus desselben Jahres. Mein Schwiegersohn und meine Tochter – sie sollen leben – und die Kinder – Gott beschütze sie – sind wohl mit mir zufrieden gewesen. Soll ich nun schreiben, wie mich mein Schwiegersohn und meine Tochter halten? Davon kann ich nicht genug schreiben. Der allgütige Gott soll es ihnen bezahlen! Sie tun mir alle Ehre in der Welt an. Von allem wird mir das Beste aus der Schüssel vorgelegt, mehr, als ich mir wünsche und begehre, und ich fürchte, daß mir solches Gott behüte an meinen Verdiensten, deren ich gar wenig habe, abgezogen wird. Wenn ich zu Mittag zum Essen nicht da bin, da man präzis 12 Uhr ißt, und um diese Zeit sagt man in der Synagoge eine Stunde lang Psalmen für die Seele seiner frommen Mutter, der verstorbenen Jachet – was jetzt schon lange eingeführt ist und vielleicht bis zur Ankunft des Erlösers dauern wird – wenn ich dann von der Synagoge heimkomme, finde ich mein Essen, drei oder vier Gerichte, alle möglichen Leckerbissen, die mir gar nicht gebühren. Ich sage meiner Tochter oft: „Laß mir doch nur ein wenig stehen.“ Aber meine Tochter antwortet mir: „Ich koche um deinetwillen nicht mehr oder weniger“ – was auch die Wahrheit ist. Ich bin noch in vielen Gemeinden gewesen, aber ich habe noch nicht so eine Haushaltung führen sehen. Es wird alles einem jeden mit wohlwollendem Auge und in Ehren gegeben, sowohl Plettengästen als [292] ganz ehrlichen Gästen 13). Der allgütige und hochgepriesene Gott wolle sie nur dabei erhahen, daß sie solches bis zu hundert Jahren in Gesundheit und Frieden, in Reichtum und Ehre ausführen sollen!

Soll ich viel schreiben, was sonst hier passiert oder ob die Gemeinde fromm lebt, so kann ich nur schreiben: Als ich hierher gekommen bin, ist Metz eine sehr schöne, fromme Gemeinde gewesen und die Vorsteher lauter ehrwürdige Leute, welche die Gemeindestube wirklich geziert haben. In jener Zeit ist in der Gemeindestube keiner gewesen, der eine Perücke aufgehabt hat 14), und dazumal hat man auch nichts davon gewußt, daß man aus der Judengasse heraus vor dem nichtjüdischen Gericht einen Prozeß führen sollte 15). Wenn auch bisweilen manche Differenzen vorgekommen sind, wie es leider bei Juden so üblich ist, so sind solche doch alle bei der Gemeinde oder bei dem Rabbinatsgericht geschlichtet worden. Es hat auch nicht so großer Hochmut geherrscht [293] wie jetzt; man hatte sich auch nicht an so kostbare Speisen gewöhnt wie jetzt: Ihre Kinder haben sie zum Lernen angehalten und wiederholt die bedeutendsten Rabbiner dort gehabt. Zu meiner Zeit ist der hochgelehrte Rabbi Gabriel [Eskeles] Rabbiner und Oberhaupt der Talmudschule gewesen. Von seiner großen Frömmigkeit brauche ich nicht viel zu schreiben, da sie weltkundig ist, und es steht mir auch njcht an seine Vorzüge zu rühmen, von denen ich nicht die Hälfte und nicht einmal den zehnten Teil beschreiben könnte. Der Sohn des erwähnten Rabbiners hat sich mit der Tochter des reichen und vornehmen Samson Wertheimer in Wien verheiratet; die Mitgift mit den Geschenken ist mehr als 30000 Reichstaler gewesen. Rabbi Gabriel Eskeles ist damals mit der Rabbinerin, seinem Sohne Loeb und dem Bräutigam Rabbi Berisch nach Wien gereist und hat dort die Hochzeit mit großer Herrlichkeit gefeiert, daß es noch nie unter Juden so prächtig zugegangen ist. Aber was soll ich lange von dieser Materie sprechen, da ich doch nicht alles vollständig beschreiben kann? Also lassen wir es lieber bei dem wenigen bewenden, da solches doch weltkundig genug gewesen ist. Der fromme und außerordentlich gelehrte Rabbi Gabriel hat von seiner Gemeinde Erlaubnis gehabt ein Jahr auszubleiben. Man hat hier nicht geglaubt, daß er ein ganzes Jahr ausbleiben werde. Aber aus dem einen Jahr sind nahezu drei Jahre geworden. Als das Jahr aus war, hat ihm die Gemeindeverwaltung mit der größten Ehrerbietung von der Welt geschrieben, er möchte doch wieder in Frieden an seinen Ort kommen und sein Rabbinat hier wieder antreten; denn die Gemeinde wäre hier wie eine Herde [294] ohne Hirten und eine solche Gemeinde könne nicht gut ohne Rabbiner sein. Es sind zwar wackere Leute, große Thoragelehrte und weise Männer hier gewesen und unter ihnen insbesondere der Fürst der Thora, der ehrwürdige Rabbi Ahron [Worms] 15a), der viele Jahre Rabbiner in Mannheim und dem zugehörigen Lande und auch im Elsaß gewesen ist.

Dieser Rabbi Ahron hatte sich mit dem Schwiegersohn des Rabbi Gabriel verschwägert: dessen Tochter hat den Sohn des Rabbi Ahron, der Rabbiner im Elsaß war, genommen. Also hat sich Rabbi Ahron zu der Partei des Metzer Rabbiners Rabbi Gabriel gehalten und hat oftmals vorgegeben, daß Rabbi Gabriel kommen werde. Denn Rabbi Ahron war ein außerordentlich kluger Mann und sehr bewandert in religiösen und in weltlichen Angelegenheiten imd seine Worte wurden sehr gehört. Die Gemeinde hat sich wieder einige Zeit beruhigen lassen. Endlich hat man in Erfahrung gebracht, daß Rabbi Gabriel zum Rabbiner in Nikolsburg ernannt worden sei.

 

Grab Rabbi Gabriels in Nikolsburg

 

Es wäre viel davon zu schreiben, was für große Streitigkeiten dadurch erregt worden sind. Der Sohn Rabbi Gabriels ist hierher gekommen und hat gemeint die Gemeindeverwaltung zu überreden, daß sie noch länger warten solle. Aber nachdem sie gehört haben, daß Rabbi Gabriel sich zum Nikolsburger Rabbiner hat ernennen lassen, hat die Gemeindeverwaltung nebst einer Vereinigung des größten Teils der Gemeindemitglieder danach getrachtet einen anderen Rabbiner zu ernennen. Dadurch haben sie großen Streit erregt; denn [295] die Anhänger Rabbi Gabriels, wie Rabbi Ahron und die Seinen, haben viel getan um die Ernennung eines anderen Rabbiners zu verhindern. Endlich hat die Gemeindeverwaltung mit einer großen Vereinigung von Gemeindemitgliedern sich bei einer hohen Strafsumme fest verpflichtet, da ihr Rabbiner nicht wiederkomme, einen anderen Rabbiner zu wählen. Dieses ist auch geschehen und sie haben einen Rabbinatsbrief in allen gebührenden Ehren an den hochgelehrten damaligen Prager Oberrabbiner Rabbi Abraham [Broda] geschrieben und dieses Schreiben durch einen besonderen Boten an ihn geschickt. Nach einiger Zeit und nachdem er in einigen Punkten Aenderungen [an dem Kontrakt] vorgenommen, die ihm die Gemeindeverwaltung bewilligt hat, hat der erwähnte Rabbiner hierher geschrieben, daß er kommen wolle. Ob nun der hochehrwürdige Rabbi Gabriel solches zu wissen bekommen hat oder ob er wirklich in sein Rabbinat hat wieder kommen wollen – er ist hierher gekommen und hat gemeint durch seinen Anhang sein Rabbinat wieder zu erhalten. Aber ich mag nicht schreiben, wie es hier zugegangen ist. Gott soll einem jeden seine Sünden verzeihen! Mir als einer geringen, schlichten Frau gebührt es nicht von solchen Größen zu schreiben. Gott soll einem jeden verzeihen, der etwas Widerliches in seiner Partei getan hat. Es wären ganze Bücher davon zu schreiben, was jede Partei getan hat um ihre Sache durchzuführen. Gott soll uns die Tugend und Frömmigkeit von beiden Gelehrten genießen lassen! Als nun der hochberühmte Rabbi Gabriel eine Zeitlang hier war und sah, daß nichts zu erlangen war, da die Gemeindevertretung doch den getanen Schritt nicht wieder zurücktun [296] konnte, ist er wieder von hier weggereist – mit großen Ehren; denn in der ganzen Gemeinde sind keine Feinde von ihm gewesen, sondern nur Freunde. Aber sie haben nicht mehr zurückgehen können, nachdem sie den Berufungsbrief schon abgeschickt und der große, hochgelehrte Rabbi Abraham auch schon geschrieben hatte, daß er kommen wolle.

Also will ich meine Feder einziehen und nur schreiben, daß Rabbi Abraham glücklich hierhergekommen ist. Ich brauche nicht zu beschreiben, mit welchen Ehren man ihn hier eingeholt hat, da das wohl weltkundig ist. Man hat ihm wirklich ein neues Haus bauen lassen mit seinem Lehrzimmer und seinem Lehrstuhl und ich meine nach meinen schwachen Begriffen, daß selbige nirgends so sind. Unsere ganze Gemeinde, auch die, die vor seinem Kommen nicht zu seiner Partei gehalten, haben mit dem großen Mann in aller Freundschaft gelebt. Von seiner Persönlichkeit 16), seinem Lernen und seinen guten Werken wäre viel zu schreiben; es ist der ganzen Welt genügend bekannt, besonders was für eine Gelehrsamkeit er in die Gemeinde gebracht und wie er nichts weiter begehrt hat als Tag und Nacht beständig bei seinem Studium zu sein und die Thora in Israel zu verbreiten. Kinder, die wirklich nichts gelernt hatten, hat er angenommen und so mit ihnen gelernt, daß sie sehr tüchtig geworden sind. Was brauche ich viel davon zu sprechen? Seine Thorakenntnis [297] ist ja weit und breit bekannt. Aber unsere Freude hat leider nicht lange gedauert; denn der große Gelehrte hat sich in Frankfurt zum Rabbiner wählen lassen. Obwohl die Gemeindeverwaltung gar sehr in ihn gedrängt hat, daß er bleiben solle, und ihm alles hat geben wollen, was sein Herz begehrte, so hat er sich doch nicht entschlossen zu bleiben. Wir haben, seit dieser große Gelehrte von hier fort ist, gar schlechte Zeiten gehabt an Gesundheit und Vermögen. Viele wackere junge Weiber sind leider gestorben, von denen man sonst nicht Böses gehört hatte; es ist ein großes Elend gewesen. Gott soll sich weiter erbarmen und seinen Zorn von uns nehmen und von ganz Israel! Amen!

 

Alte Synagoge in Metz

 

Ich kann mich nicht enthalten von dem Vorfall zu schreiben, der sich in unserer Gemeinde Metz am Sabbat des Wochenfestes im Jahre 5475 (= 1715) ereignet hat, als wir in der Synagoge gewesen sind 17). Der Vorbeter und große Sänger Rabbi Jokel aus Rzeszow in Polen trug gerade mit lieblichem Gesänge das Morgengebet vor. Da hörten viele Männer und Frauen ein Getöse, wie wenn etwas einbräche. Die Frauen oben in der Synagoge meinten, das ganze Gewölbe würde einbrechen und auf sie fallen. Da ist die Furcht gar groß gewesen; dadurch haben die Frauen oben in der Synagoge sich beeilt und herausgehen wollen; eine jede wollte gern die erste sein um ihr Leben [298] zu retten. Sie drängten sich mit aller Kraft heraus bis zur Treppe und dadurch, daß eine jede vorangehen wollte, sind sie eine über die andere gefallen und haben eine die andere mit den Sohlen, die sie an ihren Füßen hatten, zu Tode getreten. So wurden in einer Zeit von etwa einer halben Stunde sechs Frauen getötet und mehr als dreißig Frauen blessiert, ein Teil von ihnen bis auf den Tod, so daß sie mehr als ein Vierteljahr unter den Händen der Balbierer gewesen sind.

Wenn sie in Ordnung heruntergegangen wären, so wäre keiner von ihnen etwas geschehen. Eine alte, blinde Jüdin ist auch in der Synagoge gewesen; die hat nicht laufen können, darum ist sie sitzen geblieben, „bis der Zorn vorüber war“ 17a). So ist ihr nichts geschehen und sie ist bei bestem Wohlsein nach Hause gekommen. Die Frauen, die gerettet wurden, kamen meist mit bloßem Kopf 18) aus dem Gedränge hervor, die Kleider waren ihnen vom Leibe gerissen. Einzelne Frauen,, die oben in der Synagoge waren, haben mir gesagt, daß sie auch herauslaufen wollten; es war ihnen aber nicht möglich fortzukommen. Da sind sie wieder in die Synagoge zurückgegangen und haben gesagt: „Wenn wir doch sterben sollen, wollen wir lieber in der Synagoge bleiben und dort sterben, als daß wir auf den Treppen zerquetscht werden.“ Denn es sind mehr als fünfzig Frauen auf der Treppe gelegen und so miteinander verkettet gewesen, als wenn sie mit Pech aneinander geklebt wären. Lebendige und Tote haben alle untereinander gelegen. [299] Die Männer sind alle zu laufen gekommen, ein jeder hat gern die Seinigen retten wollen. Aber nur schwer und mit großer Arbeit hat man die Frauen, die auf den Treppen lagen, auseinander gebracht. Die Männer haben große Hilfe geleistet; es sind gar viele Bürger von der Straße mit Leitern und Haken in die Judengasse gekommen um die Frauen von der obersten Galerie herabzubringen; denn man hat nicht gewußt, wie es oben in der Frauensynagoge bestellt ist. Die Männer im Bethaus hatten den Krach gleichfalls gehört und auch gemeint, das Gewölbe würde auf sie fallen; darum haben sie den Frauen zugerufen, sie sollen geschwind heruntergehen. Dadurch haben sich diese auch noch mehr beeilt und sind übereinander gefallen und so auf den Treppen liegen geblieben.

Ihr könnt denken, was das für ein Jammer gewesen ist, da man sechs Tote unter den Lebendigen hervorgezogen hat, die vor einer Stunde noch frisch und gesund gewesen waren. Gott soll sich weiter erbarmen und seinen Zorn von uns und von ganz Israel abtun!

Die Weiber aus der untersten Weibersynagoge sind auch in großem Gedränge gelegen. Ich 19) bin auf meiner Stelle in der untersten Galerie gesessen und habe gebetet; da höre ich ein Gelauf der Weiber und frage, was dieses Gelauf zu bedeuten hat. Meine Nachbarin meinte: Es wird einer Frau, die guter Hoffnung ist, übel geworden sein. Da habe ich mich sehr erschrocken, da [300] meine Tochter Esther, die wohl acht Plätze von mir entfernt saß, auch guter Hoffnung war. Ich komme also zu ihr in das Gedränge, wie sie sich auch herausdrängen will, und sage zu ihr: „Wo willst du hin?“ Sie antwortet mir: „Das Gewölbe will einfallen.“ Da nehme ich meine Tochter vor mich und schaffe mit meinen Händen Platz um meine Tochter weiterzubringen. Aus der Frauensynagoge muß man noch fünf oder sechs Treppchen herabsteigen. Wie ich mit meiner Tochter auf die unterste Treppe komme, falle ich nieder und habe von nichts mehr gewußt, auch mich gar nicht bewegt oder um Hilfe gerufen. An der Stelle, wo ich gelegen bin, haben alle Männer vorbeigehen müssen, die die Frauen auf der Treppe von der obersten Galerie [retten wollten], und wenn es noch einen Augenblick gedauert hätte, wäre ich zertreten worden. Aber endlidi haben mich die Männer gesehen und mir aufgeholfen, so daß ich auf die Straße gekommen bin. Da habe ich angefangen zu schreien und zu fragen, wohin meine Tochter Esther gekommen wäre. Man hat mir gesagt, daß sie in ihrem Hause wäre; da habe ich jemand hingeschickt um zu sehen, ob sie dort wäre, habe aber Antwort bekommen, daß sie nicht in ihrem Hause wäre. Nun bin ich herumgelaufen wie eine, die den Verstand verloren hat. Da kommt meine Tochter Mirjam zu mir gelaufen und freut sich, daß sie mich sieht. Ich frage sie: „Wo ist meine Tochter Esther?“ Da antwortet sie mir: „Im Hause ihres Schwagers Rüben, das nicht weit von der Synagoge ist.“ Ich laufe nun flugs in das Haus von Rüben und finde meine Tochter dort sitzen ohne Kleid und Schleier; mehrere Männer und Frauen standen bei ihr um sie [301] in ihrer Schwäche zu laben. Nun – ich danke Gott, daß er ihr geholfen und daß es ihr und ihrem Kind keinen Schaden getan hat. Gott – gelobt sei er – möge ferner seinen Zorn von uns und von ganz Israel zurückhalten und uns vor solchen bösen Unglücksfällen bewahren!

Man ist darauf in die Frauensynagoge hinaufgegangen und hat untersucht, ob etwas von dem Gewölbe oder von dem Bau eingefallen sel. Man hat aber nichts gefunden und wir können auch nicht wissen, woher das arge Unglück gekommen ist. Wir können solches von nichts anderem herleiten als von unseren Sünden. Wehe uns, daß solches in unseren Tagen geschehen ist, „daß wir solches hören müssen, betrübt unsere Seele tief 20).“ So erfüllt sich an uns der Bibelvers: „Ich werde Angst in ihr Herz bringen und es verfolgt sie das Geräusch eines verwehten Blattes und sie fliehen wie vor dem Schwert und fallen und sie straucheln einer über den andern, während niemand sie verfolgt.“ (3. B. Mos., 26,36.) „Darüber ist unser Herz krank und unsere Augen verfinstern sich“ (Klagelieder 5,17), über die Entweihung des Sabbats und des Festtages und über die Störung des Gebets. An diesem heiligen Tage [ist's geschehen], an dem unsere heilige Thora gegeben worden ist und Gott uns erwählt hat von allen Völkern und Zungen! Wenn es uns beschieden gewesen wäre, hätten wir uns über die Thora am heiligen Feste freuen können. Jetzt aber, „sind wir zur Schmach geworden unseren Nachbarn, zum Spott und Gelächter [302] unserer Umgebung“ (Psalm 79,4) und es ist so, wie wenn das Heiligtum in unseren Tagen zerstört worden wäre.

Die meisten der getöteten Frauen waren leider Wöchnerinnen, eine von ihnen war guter Hoffnung. Sie sind zur Ruhe gegangen, wir aber haben Schmerz, Kummer und Jammer. Am Tage nach dem Feste ging die Beerdigungsbrüderschaft schon in aller Frühe nach dem Friedhof und die sechs getöteten Frauen wurden dicht beieinander in einer Reihe begraben. . . .

Es wird nun viel davon erzählt; aber wer kann alles schreiben oder glauben? Dennoch will ich 20a) etwas davon schreiben, was mir Esther, die Frau des hiesigen Lehrers Jakob, erzählt hat. Diese Frau hatte sich mit ihrem Kinde, einem Knaben von etwa fünf Jahren, auf die oberste Treppe der Weibersynagoge gesetzt zur Zeit, als die Geschichte angefangen hat. Da hat sie sechs Frauen mit kleinen Schleierchen gesehen, die sehr lang von Statur waren. Diese haben sie etliche Stiegen herabgestoßen. Die Frau hat geschrieen: „Wollt ihr mich mit meinem Kinde töten?“ Da haben sie das Kind in einen Winkel gesetzt und sind hinweggegangen. Die Frau mit ihrem Kinde ist gerettet worden. In diesem Augenblick hat die Verwirrung angefangen, daß alle Frauen von der obersten Galerie herabgelaufen und aufeinander gefallen sind und sich gegenseitig zerquetscht haben. Mein Schwiegersohn, der Vorsteher Moses Krumbach, hat ihnen noch zugerufen, warum sie nicht von der Stiege heruntergehen; sie aber haben geschrieen, sie könnten nicht herunterkommen; [303] denn die Treppe bräche unter ihnen zusammen – wiewohl in Wirklichkeit gar nichts an den Treppen zerbrochen war und nur Angst und Schrecken ihnen alles vorgespiegelt hat. Die Frau Esther ist mit ihrem Kinde gerettet worden. Mit großer Mühe und Not hat man sie beide unter den anderen heruntergekriegt. Zwar ist die Frau mehr tot als lebendig gewesen, wie es sich auch nachher gezeigt hat; denn sie hat eine Fehlgeburt gehabt und sie hat so viele Wunden bekommen, daß die Aerzte und Bader über drei Monate an ihr herumkurieren mußten. Die Frau hat mir zugeschworen, daß es so passiert sei, wie sie mir erzählt hat; auch ihr Mann und ihre Eltern haben bezeugt, daß sie sogleich so erzählt habe. Auch angesehenen Leuten und Thoragelehrten, die zu ihr gegangen sind, hat sie solches zugeschworen und sie und die Ihrigen sind ehrliche Leute, von denen man keine Lüge gehört hat.

Ferner hat in einer Nacht kurz vor diesem Vorfall die Frau des reichen Jakob Krumbach, der sein Haus dicht neben der Synagoge hat, einen großen Lärm in der Synagoge gehört, als wenn Diebe darin wären und alles herausnähmen und als wenn Leuchter umgefallen wären. Die Frau hat ihren Mann geweckt und ihm das gesagt. Da haben sie nach dem Synagogendiener geschickt und die Synagoge aufschließen lassen, aber da war „kein Laut und keine Antwort.“ (1. B. Kön. 18,46.) Man hat nicht gefunden, daß ein Stückchen von seinem Platz verrückt gewesen ist. Man weiß also nicht, „durch wen dieses Unglück gekommen ist.“ (Jona 1,7.)

Es war leider ein großer Taumel. Die Frauen haben gemeint, die Männerbetschule fällt ein, und die Männer [304] haben dasselbe von der Frauenbetschule gemeint; darum haben die Männer den Frauen zugeschrieen, sie sollten aus der Betschule herausgehen. Die meisten Männer und Frauen haben einen großen Donnerschlag gehört, wie wenn man ein Geschütz losschießt. Manche wieder, unter denen auch ich war, haben gar nichts gehört. Der Vorbeter Rabbi Jokel ist mitten im größten Gebet aus der Synagoge herausgegangen; nachher hat sich ein anderer hingestellt und vorgebetet, aber wenig oder gar nichts gesungen.

Eine Anzahl frommer Frauen haben sich vereinigt und zehn Talmudgelehrte angenommen, die jeden Morgen um neun Uhr in der Synagoge Psalmen sangen und einen Abschnitt aus dem Talmud vortrugen, worauf die verwaist gewordenen Kinder das Kaddisch-Gebet sprachen. Gott möge die Seelen der so traurig ums Leben Gekommenen in Gnaden aufnehmen und ihren so schrecklichen Tod eine Sühne für alle ihre Sünden sein lassen und möge auch denen verzeihen, die ihnen zu nahe getreten sind und ihren Tod mitverschuldet haben! Ich hätte solches nicht in mein Buch hineingeschrieben; aber da es etwas so Unerhörtes ist, was niemals [sonst] geschehen ist und auch nie wieder geschehen soll, so soll sich jeder, Mann oder Frau, Jüngling oder Jungfrau, solches zu Herzen nehmen und Gott bitten solche Strafe keinem Judenkind mehr zuzuschicken.

Ich kann es leider auf nichts anderes zurückführen als auf die Sünden, die am vorangegangenen Simchas-Thora-Feste begangen worden sind. Damals waren alle Thora-Rollen, wie üblich, aus der heiligen Lade genommen und sieben von ihnen standen auf dem Tisch. Da hat in [305] der Frauensynagoge eine Schlägerei unter den Frauen angefangen und sie haben einander die Schleier vom Kopf gerissen, so daß sie in der Synagoge barhäuptig standen. Deshalb haben auch die Männer in ihrer Synagoge angefangen zu zanken und sich zu schlagen. Obwohl der hochgelehrte Rabbiner Abraham Broda mit lauter Stimme und mit Androhung des Bannes gebot Ruhe zu halten und den Festtag nicht zu entweihen, so hat dies doch alles nichts geholfen. Der Rabbiner und die Gemeindevorsteher sind darauf eilig aus der Synagoge gegangen und haben bestimmt, was eines jeden Strafe sein solle.

Im Nissan 5479 (= 1719) ist eine Frau an der Mosel gestanden und hat Geräte gesäubert. Ungefähr um 10 Uhr nachts ist es so hell geworden wie bei Tage, die Frau hat in den Himmel gesehen und der Himmel ist offen gewesen als wie ein . . . 21) und Funken sind davon gesprungen, und danach ist der Himmel wieder zugegangen, als wenn einer einen Vorhang zugezogen hätte, und es ist wieder ganz finster geworden. Gott soll geben, daß es zum Guten sei! Amen!

 

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1) S. 262.  

1a) Dieses letzte Kapitel der Memoiren ist also 1715 begonnen worden. 

2) überseit gehen = Bankerott machen (nach Landau, a. a. O., S. 61). Kaufmann faßt es = ins Jenseits gehen, nicht in Uebereinstimmung mit den Tatsachen. Denn Cerf Levy ilt erst 1712, 10 Jahre nach dem Bankerott, gestorben.  

3) Glückel gebraucht hier stets den französischen Ausdruck Pulcel = pucelle.  

4) = eine Auktion veranstalten (siehe S. 146, 181/82).  

5) Im Original: Schtadlan = Fürsprecher seiner Glaubensgenossen und Förderer aller jüdischen Angelegenheiten.  

5a) Nach anderer Lesart 1714.  

6) Da dieser Enkel wenige Wochen nach Glückels Ankunft in Metz (1700) geboren war, so war er bei seiner Verlobung erst 12 Jahre alt. Die Heirat hatte, als Glückel dieses schrieb (1715, s. auch S. 291), noch nicht stattgefunden.  

7) Die Wendung „nicht mehr als“ bei der großen Summe scheint humoristisch gefärbt zu sein (M. Sparier in den Blättern für Erziehung und Unterricht, Jahrg. 1913, Nr. 45).  

8) Titel für Rabbiner und hervorragende Schriftgelehrte, s. S. 27.  

9) Samuel Levy war Rabbiner in Colmar. Siehe Kaufmanns Glückel-Ausgabe S. 182, Anm. 4. Kaufmann - Freudenthal, Familie Gompertz, S. 283.  

10) Der spanische Erbfolgekrieg begann im Jahre 1701.  

11) Vermutlich war das der damalige Gouverneur von Metz.  

12) d. h. wie sie sich mit dem Herzog auseinandergesetzt haben.  

13) Die Anweisungen, durch die den Familienvätern arme Fremde als Gäste zugewiesen wurden, nannte man Pletten (= Billette). Siehe oben S. 126, Anm. 20. Güdemann, Erziehungswesen bei den Juden in Deutschland, S. 102. Berliner, Aus dem Leben der deutschen Juden im Mittelalter, S. 115. Im Gegensatz zu den gewohnheitsmäßigen Bettlern, die sich solcher Anweisungen bedienten, werden die Gäste, die sonst zu Tisch geladen wurden, als „ehrlich“ bezeichnet. Vgl. die Bezeichnung „unehrliche Leute“ für Leute mindergeachteter Stände, zu denen auch fahrende Sänger und Schauspieler, Gaukler, Seiltänzer usw. gehörten.  

14) Diese Mode aus der Zeit Ludwigs XIV. hat sich also gegen Ende dieser Periode auch bei den angesehenen Juden in Metz eingebürgert.  

15) Anspielung auf den Prozeß, den Jacob Krumbach-Schwab gegen die Gemeinde und das Rabbinat Metz geführt hat. Kaufmann, zur Stelle. (Vgl. S. 314, Anm. 7.)  

15a) siehe S. 265, Anm. 12.  

16) Schudt, Jüd. Merkwürdigkeiten IV, 3, 81 (zitiert bei Kaufmann) sagt von ihm: R. Abraham Brodt, ein langer, starker, ansehnlicher Mann der vor etwa zwei Jahren von Metz hierher berufen worden, usw.  

17) Ueber die tragische Katastrophe in der Synagoge zu Metz im Jahre 1715 berichtet auch eine 1722 gedruckte, teils liebräisch teils jüdisch-deutsch abgefaßte Schrift des Benjamin ben David aus Krailsheim, aus der Brüll in den Jahrbüchern für jüd. Geschichte und Literatur 11, 161 ff. einen Auszug mitteilt. - Die etwas weitschweifige, öftere Wiederholungen enthaltende Darstellung Glückels, die das hohe Alter der Verfasserin verrät, ist im folgenden etwas verkürzt wiedergegeben.  

17a) Jesaia 26, 20.  

18) Mit entblößtem Haupthaar zu gehen galt damals allen verheirateten jüdischen Frauen als eine Schmach.  

19) Im Text stellt hier und weiter unten (S. 302) noch das Wort „Mutter“, das aber nicht recht hineinpaßt. Vielleicht wollte Glückel gerade an diesen Stellen noch einmal andeuten, daß sie ausschließlich für ihre Kinder schreibt.  

20) Satz aus dem Mussaph-Gebet des Versöhnungstages. 

20a) Siehe Anm. 18.  

21) Hier ist ein Wort in der Handschrift unleserlich [vielleicht Scheunentor ?].