BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Clara Hätzlerin

um 1430 - 1476/77

 

 

Das Liederbuch

 

Bl. 293r-293v (I, 41)

 

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Ich raitt ains tags spaciern

Für ainen grönen waldt;

Ich vand mit reicher ziere

Ain fräwlin wolgestalt.

5

Ich grüsset da das fräwlin zart;

Sy dancket mir mit züchten,

Gar haisz sy wainen wardt.

 

Ich tratt von meinem pfärd,

Zu ir ich nider sasz:

10

Nun sag mir, fraw vil wërd,

Warumb tünd ir das,

Das ir wainent also ser?

Sy sprach: ich hab verloren,

Ich überwind es nymmer mer.

 

15

Fraw, ich will nit emper‹n›,

Ir sagt mir ëwr verlust.

Sy sprach: ich tätt es geren,

Wär mir mein laid vertust.

Ich h‹e›tt ain valcken mir erzogen,

20

Ist lenger d‹a›nn ain Jar,

Der ist mir hin geflogen.

 

Fraw, laszt den valcken fliegen,

Wer waisz, was Im geprist!

Sy sprach: er tett mich triegen,

25

E‹r› chomt von argem list,

Sein triu ist gantz entzway.

In hat ain Eyl veriaget

Mit irem valschen geschray.

 

Die Eyl nistet nach daby,

30

Da mein valcke was.

Der valck was seins gemütes frey,

Er trůg der Eylen hasz,

Sein gefider schlůg er ze rugk.

Die vogel hassen die Eylen

35

Mit irem vil valschen duck.

 

Ich sich In nymmer fliegen,

Nach dem mich tůt verlangen,

Der valck der tůtt sich schmyegen,

Ich fürcht, er werd gefangen.

40

Vnd käm er wider in das garn,

Vnd wurd der Eylen ze taile,

Das vederspil wär verloren.

 

Fraw, volgent meiner lere:

Gavnd nit spacier‹n› vsz.

45

Ich ratt eüch vff mein ere:

Beleibt haym in ewrem hus,

Es hilfft doch nit ewr senlichs wainen!

Nermt ain Sperber vf die hanndt

Vnd laszt den valcken schwaymen.