BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. II. Abtheilung.

 

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[246]

Fünftes Capitel.

 

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Von der religiösen Anlage,

die man Mysticismus nennt.

 

Die religiöse Anlage, welche Mysticismus genannt wird, ist nichts anderes, als eine innigere Art und Weise, das Christenthum zu fühlen und aufzufassen. Da in dem Worte Mysticismus das Wort Mysterium (Geheimniß) enthalten ist: so hat man gewähnt, die Mystiker hätten außerordentliche Glaubenslehren und bildeten eine besondere Sekte. Mysterien kennen sie nur, in sofern ihr religiöses Gefühl dergleichen in sich schließt; und das Gefühl ist zugleich das Klarste, das Einfachste und das Unerklärlichste, was es giebt. Indeß muß man doch die Theosophen, d. h. diejenigen, welche sich, wie Jacob Böhm, St. Martin, u. s. w. mit der philosophischen Theologie beschäftigen, von den einfachen Mystikern unterscheiden. Jene wollen das Geheimniß der Schöpfung ergründen; diese halten sich an ihrem eigenen Herzen. Mehrere Kirchenväter, Thomas a Kempis, Fenelon, St. Franciskus von Sales, u. s. w. und bei den Protestanten eine Anzahl von englischen und deutschen Schriftstellern sind Mystiker gewesen, d. h. Menschen, welche aus der Religion eine Liebe machten, und sie allen ihren Gedanken, wie allen ihren Handlungen beimischten.

Für die ganze Lehre der Mystiker giebt es keine andere Grundlage, als das religiöse Gefühl, und dieses besteht in einem inneren Frieden voll Leben. Die Stürme der Leidenschaften vertragen sich mit keiner Ruhe; die Gelassenheit eines trockenen und mittelmäßigen Geistes tödtet das Leben des Gemüths; [247] nur in dem religiösen Gefühl trif[f]t man eine vollkommene Vereinigung der Bewegung und Ruhe. Diese Stimmung ist, glaub' ich, in keinem Menschen anhaltend, wie fromm er auch seyn möge; aber die Erinnerung und die Erwartung dieser heiligen Bewegungen entscheiden über das Betragen Derer, die sie kennen gelernt haben.

Betrachtet man die Leiden und Freuden des Lebens als eine Wirkung des Zufalls und des Glücksspiels , dann müssen Verzweifelung und Freude, so zu sagen, convulsivische Bewegungen seyn. Denn welch ein Zufall, wie der, der über unsere Existenz gebietet! Welchen Stolz, oder welche Reue muß man nicht empfinden, wenn es auf einen Schritt ankommt, der auf unser Schicksal hat Einfluß haben können? Welchen Foltern der Ungewißheit würde man nicht preis gegeben seyn, wenn unsere Vernunft allein über unser Geschick in dieser Welt entschiede? Allein, glaubt man, im Gegentheil, es gebe nur zwei für das Wohlseyn entscheidende Dinge, nemlich Reinheit der Absicht und Ergebung in das Ereigniß, sobald dieses nicht mehr von uns abhängt: dann werden unstreitig noch mehrere Umstände bewirken, daß wir empfindlich leiden, aber keiner wird das Band zerreißen, das uns an den Himmel knüpft. Gegen das Unmögliche ankämpfen , erzeugt in uns die bittersten Gefühle; und der Zorn des Satans ist nichts weiter, als Freiheit im Kampf mit Nothwendigkeit, ohne Kraft diese zu zähmen oder zu unterwerfen.

Die vorherrschende Meinung mystischer Christen ist: die einzige Huldigung, welche Gott gefallen könne, sey die des Willens, den er dem Menschen geschenkt hat. In Wahrheit, welches noch uneigennützigere [248] Opfer könnten wir der Gottheit darbringen? Cultus, Weihrauch, Lobgesänge haben beinahe immer die Glückseligkeiten der Erde zum Zweck, und so umgiebt die Schmeichelei dieser Welt die Monarchen: Aber sich in den Willen Gottes ergeben, nichts wollen, als was er will, dies ist die reinste religiöse Handlung, deren die menschliche Seele fähig ist. Um von dem Menschen diese Ergebung zu erhalten, werden drei Aufforderungen an ihn gerichtet: die Jugend, die männlichen Jahre und das Alter. Wohl denen, die sich der ersten unterwerfen!

In allen Dingen ist es der Stolz, der Gift in die Wunde bringt; die rebellische Seele klagt den Himmel an. Der religiöse Mensch hingegen läßt den Schmerz nach der Absicht Dessen wirken, der ihn verhängt hat. Er bedient sich aller Mittel, die in seiner Gewalt stehen, ihn zu vermeiden, oder zu erleichtern; aber wenn das Geschick unwiderruflich ist, so sind die geheiligten Charaktere des höchsten Willens darin ausgedrückt.

Giebt es ein zufälliges Unglück, das mit dem Alter und dem Tode verglichen werden könnte? Und doch ergeben sich beinahe alle Menschen darein, weil es dagegen keine Waffen giebt. Woher kommt es also, daß Jeder sich gegen besonderes Unglück empört, während sich Alle unter das allgemeine Unglück schmiegen? Daher, daß man das Schicksal wie eine Regierung betrachtet, der man Allen Leides zuzufügen gestattet, wofern sie nur Keinem Privilegien bewilligt. Das Unglück, das wir mit unserm Nächsten gemein haben, ist eben so hart und verursacht uns eben so viel Leiden, als unser besonderes Unglück; und doch treibt es uns nie zu derselben [249] Empörung. Warum sagen sich die Menschen nicht, man müsse das, was uns persönlich angeht, eben so ertragen, wie das allgemeine Loos der Menschheit? Darum nicht, weil man in seinem individuellen Loose eine Ungerechtigkeit wahrzunehmen glaubt. Seltsamer Stolz des Menschen, die Gottheit mit dem Werkzeuge richten zu wollen, das er von ihr erhalten hat! Was weiß er von dem, was ein Anderer empfindet? Was weiß er von sich selbst? Was kennt er anders, als sein inneres Gefühl? Und dies Gefühl, je inniger es ist, desto mehr schließt es das Geheimnis unserer Glückseligkeit in sich; denn, fühlen wir nicht in unserem eigenen Innern das Glück und das Unglück? Die religiöse Liebe oder die Selbstliebe dringen allein bis zur Quelle unserer verborgensten Gedanken. Unter der Benennung religiöser Liebe sind alle uneigennützigen Affectionen, unter der Benennung von Selbstliebe alle egoistischen Neigungen begriffen; und auf welche Weise das Schicksal uns unterstützen oder bekriegen möge, immer hängt von dem Uebergewicht der einen oder der andern Liebe der ruhige Genuß oder das unruhige Uebelbefinden ab.

Es fehlt uns, dünkt mich, an Achtung gegen die Vorsehung, wenn wir uns jenen Fantomen, die man Ereignisse nennt, preisgegeben wähnen. Ihre Wirklichkeit besteht in dem, was sie im Gemüthe wirken, und es ist eine vollkommene Gleichheit zwischen allen Lagen und allen Geschicken, freilich nicht dem äußeren Scheine nach, wohl aber, wenn sie nach ihrem Einflusse auf die religiöse Vervollkommnung beurtheilt werden. Wenn Jeder von uns den Einschlag seines eigenen Lebens genau untersuchen will, so wird er zwei ganz verschiedene [250] Gewebe erblicken, von welchem das eine gänzlich den natürlichen Ursachen und Wirkungen unterworfen ist, während die geheimnißvolle Tendenz des andern sich nur mit der Zeit begreift. Es verhält sich damit wie mit den Hautelisse-Tapeten, deren Gemählde man so lange verkehrt arbeitet, bis sie, ausgestellt, ihrer Wirkung nach beurtheilt werden können. Selbst in diesem Leben endigt man damit, daß man einsieht, warum man gelitten, warum man nicht alles erhalten hat, was man wünschte. Die Veredelung unseres eigenen Herzens enthüllt uns die wohlthätige Absicht Dessen, der uns dem Schmerze unterworfen hat; denn die Glückseligkeiten dieser Erde würden sogar etwas Furchtbares haben, wenn sie uns zu Theil würden, nachdem wir uns großer Fehler schuldig gemacht hätten. Man würde sich alsdann von der Hand Dessen verlassen glauben, der uns dem irdischen Glück als unserer einzigen Zukunft hingäbe.

Entweder ist alles Zufall dieser Welt, oder es giebt gar keinen; und wenn es keinen giebt, so besteht das religiöse Gefühl darin, daß wir uns mit der allgemeinen Ordnung in Harmonie setzen, trotz dem Geiste der Rebellion und der Verheerung, welchen der Egoismus Jedem von uns besonders einflößt. Alle Dogmen und alle Gottesverehrung sind die verschiedenen Formen, welche dieses religiöse Gefühl je nach den Zeiten und den Ländern bekleidet hat; es kann sich durch den Schrecken verderben, wie sehr es auch auf das Vertrauen gegründet ist: aber immer besteht es in der Überzeugung, daß in den Ereignissen kein Zufall ist und daß die einzige Art, wie wir auf das Schicksal einwirken können, in der Bearbeitung unserer selbst besteht. Die Vernunft [251] regiert deswegen nicht minder in Allem, was mit der Führung des Lebens zusammenhängt; aber wenn diese Haushälterin des Daseyns dasselbe nach ihrer besten Einsicht geordnet hat, so gehört das Innere unseres Herzens immer der Liebe, und was man Mystizismus nennt, ist diese Liebe in ihrer vollkommensten Reinheit.

Die Erhebung des Gemüths zu seinem Schöpfer ist der höchste Gottesdienst der mystischen Christen; aber nie wenden sie sich nach Gott, um die eine oder die andere Glückseligkeit des Lebens zu erhalten. Ein französischer Schriftsteller, der erhabene Ansichten hat, Herr von Saint Martin, hat gesagt: das Gebet sey ein Athemholen des Gemüths. Die Mystiker sind meistens überzeugt, daß es auf dieses Gebet eine Antwort giebt, und daß die große Offenbarung des Christenthums sich gewissermaßen in dem Gemüthe erneuert, so oft es sich mit Inbrunst zum Himmel erhebt. Glaubt man, daß es keine unmittelbare Mittheilung zwischen dem höchsten Wesen und dem Menschen gebe, so ist das Gebet, so zu sagen, ein Selbstgespräch; aber es wird zu einer weit ersprießlichern Handlung, wenn man überzeugt ist, die Gottheit mache sich fühlbar im Inneren unseres Herzens. In Wahrheit, es läßt sich nicht leugnen, daß Bewegungen in uns vorgehen, die von nichts Aeußerlichem herrühren, und die uns beruhigen und aufrecht erhalten, ohne daß man sie dem gewöhnlichen Zusammenhange der Ereignisse des Lebens zuschreiben könnte.

Menschen, welche in eine, ganz auf Verleugnung der Eigenliebe gegründete, Lehre Eigenliebe gebracht haben, haben aus jenen unerwarteten Hülfen [252] den Vortheil gezogen, sich auf alle mögliche Weise zu täuschen. Sie haben sich für Auserwählte oder Propheten gehalten; sie haben sich eingebildet, Erscheinungen zu haben; kurz, sie haben sich, sich selbst gegenüber, in Aberglauben gestürzt. Was vermag nicht der menschliche Stolz, da er sich sogar in der Gestalt der Demuth in das Herz einschleicht! Aber es ist deshalb nicht minder ausgemacht, daß nichts einfacher, nichts reiner ist, als die Beziehungen des Gemüths auf Gott, so wie sie von den sogenannten Mystikern aufgefaßt werden, d. h. von Christen, welche Liebe in die Religion bringen.

Wer, der Fenelons geistreiche Werke lieset, fühlte sich wol nicht gerührt! Wo fände man mehr Licht, mehr Trost, mehr Nachsicht! Da ist kein Fanatismus, keine andere Strenge, als die Tugend, keine Unduldsamkeit, keine Ausschließung. Die Verschiedenheiten der christlichen Gemeinden können nicht gefühlt werden aus dieser Höhe, die sich über alle die zufälligen Formen, welche die Zeit schafft und zerstört, so sehr erhebt.

Der, welcher es wagen wollte, das vorherzusehen, was mit so großen Dingen in Verbindung steht, würde unstreitig sehr verwegen seyn. Gleichwol wage ich zu behaupten, daß alles darauf abzweckt, die religiösen Gefühle in den Gemüthern vorherrschend zu machen. Der Calcul hat über die Angelegenheiten dieser Welt eine solche Herrschaft errungen, daß alle Die, welche damit nichts zu schaffen haben, sich in das entgegenstehende Aeußerste werfen. Deshalb suchen alle einsame Denker, von dem einen Ende der Welt bis zum andern, die zerstreuten Strahlen der Literatur, der Philosophie [253] und der Religion in Einen Lichtheerd zu sammeln.

Im Ganzen fürchtet man, daß die religiöse Ergebung, die man im letzten Jahrhunderte Quietismus nannte, die nothwendige Lebensthätigkeit verleiden werde. Allein die Natur ist viel zu geschäftig, die individuellen Leidenschaften in uns anzuregen, als daß man von einem Gefühl, das sie beruhigt, viel zu befürchten haben sollte.

Wir verfügen weder über unsere Geburt, noch über unsern Tod, und zwei Drittel unseres Geschicks werden durch diese beiden Ereignisse bestimmt. Niemand vermag zu verändern, was in seiner Geburt, in seinem Lande, in seinem Jahrhunderte u. s. w. ursprünglich gegeben ist. Niemand kann eine Gestalt, niemand einen Geistesreichthum erwerben, die die Natur ihm versagt hat. Und aus wie viel andern gebieterischen Umständen ist das Leben nicht zusammengesetzt! Wenn unser Schicksal aus hundert Loosen besteht, so sind neun und neunzig davon nicht in unserer Gewalt; und die ganze Wuth unseres Willens ergießet sich noch über den kleinen schwachen Antheil, welcher in unserer Gewalt steht. Die Einwirkung des Willens auf diesen schwachen Antheil ist also ausgezeichnet unvollständig. Die einzige freie That des Menschen, welche immer zum Ziele gelangt, ist die Erfüllung der Pflicht; der Ausgang aller übrigen Beschlüsse hängt gänzlich von Zufälligkeiten ab, über welche die Klugheit selbst nichts vermag. Die meisten Menschen erhalten nicht, was sie heftig wollen; und die Glückseligkeit selbst, wenn sie ihnen zu Theil wird, kommt auf eine unerwartete Weise.

Die Lehre des Mystizismus gilt für strenge, [254] weil sie Lossagung von sich selbst gebietet, und weil dies mit Recht sehr schwierig scheint. Gleichwol ist sie, der That nach, die sanfteste von allen. Sie besteht in dem Sprichwort: aus der Noth eine Tugend machen. Im religiösen Sinne ist aus der Noth eine Tugend machen gerade so viel, als: der Vorsehung die Regierung dieser Welt überlassen und in diesem Gedanken einen innigen Trost finden. Die mystischen Schriftsteller fordern nichts jenseits der Linie der Pflicht, so wie diese von allen rechtschaffenen Menschen gezogen ist: sie gebieten keine Kasteiungen; sie sind der Meinung, der Mensch dürfe weder den Schmerz herbeirufen, noch sich ihm entgegenbäumen, wenn er sich einstellet.

Welcher Nachtheil könnte also hervorgehn aus diesem Glauben, der die Ruhe des Stoicismus mit der Empfindsamkeit der Christen vereinigt? – Er hindert an der Liebe, wird man sagen. – Ach! nicht die religiöse Erhebung erkältet das Gemüth. Ein einziges Eitelkeits-Interesse hat mehr Liebeszunder vernichtet, als irgend eine Gattung strenger Grundsätze. Selbst die Wüste von Thebais schwächt nicht die Macht des Gefühls, und nur das Elend des Herzens verhindert zu lieben.

Man schreibt dem Mysticismus einen schweren Nachtheil zu. Trotz der Strenge seiner Grundsätze macht er, wie man behauptet, allzu nachsichtig in Ansehung der Werke, dadurch nemlich, daß er die Religion auf die inneren Eindrücke des Gemüths zurückführt und die Menschen geneigt macht, sich in ihre Fehler wie in unvermeidliche Ereignisse zu ergeben. Gewiß würde dem Geiste des Evangeliums nichts mehr entgegen seyn, als diese Art, die [255] Unterwerfung unter den Willen Gottes zu deuten. Gäbe man zu, daß das religiöse Gefühl von irgend etwas dispensire: so würden daraus nicht blos eine Menge Heuchler hervorgehen, die behaupten würden, man müsse sie nicht nach den gemeinen Religionsproben, die man die Werke nennt, beurtheilen, und ihr geheimer Umgang mit Gott sei über alle Erfüllung von Pflichten hoch erhaben; sondern es würde auch Heuchler gegen sich selbst geben, und man würde auf diese Weise die Macht der Reue tödten. In der That, wer, der nur ein wenig Einbildungskraft besitzt, hat nicht Augenblicke religiöser Rührung? Wer hat nicht bisweilen mit Inbrunst gebetet? Und wenn dieses hinreichte, von der strengen Beobachtung der Pflichten loszusprechen, so würden sich die meisten Dichter für religiöser achten, als den h. Vincenz von Paula.

Aber mit Unrecht sind die Mystiker einer solchen Ansicht der Dinge beschuldigt worden. Ihre Werke und ihr Leben beweisen, daß sie in ihrem sittlichen Betragen eben so regelmäßig sind, als die, welche sich den Uebungen des strengsten Gottesdienstes unterworfen haben. Was man Nachsichtigkeit an ihnen nennt, ist der Scharfsinn, welcher die Natur des Menschen zergliedert, anstatt sich dabei aufzuhalten, ihm den Gehorsam zu empfehlen. Die Mystiker, die sich immer mit dem Grunde des Herzens beschäftigen, gewinnen das Ansehen, als hätten sie Nachsicht mit Verirrungen, weil sie die Ursachen derselben ausspähen.

Sehr oft hat man die Mystiker, und selbst die Christen, beschuldigt, daß sie hinneigten zu dem leidenden Gehorsam gegen jede Autorität; und man hat behauptet, die mißverstandene Unterwerfung [256] unter den Willen Gottes führe viel zu oft zu der Unterwerfung unter den Willen der Menschen. Indeß hat doch die Nachgiebigkeit gegen die Gewalt nichts mit der religiösen Ergebung gemein. Unstreitig kann diese in der Sklaverei Trost geben; aber diesen giebt sie, indem sie der Seele alle Tugenden der Unabhängigkeit ertheilt. Aus Religion gleichgültig seyn gegen die Freiheit oder gegen die Unterdrückung des menschlichen Geschlechts, hieße Charakterschwäche für christliche Demuth halten; und nichts ist verschiedener von einander. Die christliche Demuth wirft sich nieder vor die Armen und Unglücklichen, und die Charakterschwäche schont beständig das Verbrechen, weil es in dieser Welt mächtig ist.

In den Zeiten des Ritterthums, wo die christliche Religion das größte Uebergewicht hatte, forderte es nie die Aufopferung der Ehre. Nun aber sind für Bürger Gerechtigkeit und Freiheit die Ehre. Gott demüthigt den Stolz, aber nicht die Würde des menschlichen Geschlechts; denn der Stolz besteht in der Achtung für die Rechte Anderer. Religiöse Menschen sind sehr geneigt, sich nicht in Dinge dieser Welt zu mischen, ohne durch eine offenbare Pflicht dazu berufen zu seyn, und man muß gestehen, daß durch die politischen Interessen so viel Leidenschaften angeregt werden, daß man sich nicht gut damit befassen kann, ohne sich Vorwürfe zu machen zu haben. Allein wenn der Muth des Gewissens einmahl erwacht, so giebt es keinen, der mit ihm wetteifern könnte.

Von allen Nationen ist die deutsche am meisten zum Mysticismus geneigt. Schon vor Luther hatten mehrere Autoren, unter welchen man Tauler anführen [257] muß, in diesem Sinne über Religion geschrieben. Seit Luthers Zeiten haben die Mährischen Brüder diese Anlage, mehr, als irgend eine andere Secte, gezeigt. Gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts hat Lavater mit großer Kraft das vernunftmäßige Christenthum, welches berlinische Theologen vertheidigten, bekämpft, und seine Art, die Religion zu empfinden, hat sehr viel Aehnlichkeit mit der des Fenelon. Mehrere lyrische Dichter von Klopstock an bis auf unsere Zeiten, haben in ihren Schriften einen Anstrich von Mystizismus. Die protestantische Religion, welche im nördlichen Deutschland herrscht, reicht nicht aus für die Einbildungskraft der Deutschen; und da der Katholizismus ein Feind philosophischer Untersuchungen ist, so müssen sich die eben so religiösen als sinnigen Deutschen nach einer Manier, die Religion zu fühlen, hinneigen, welche auf alle Gottesverehrungen anwendbar ist. Dazu kommt, daß der Idealismus in der Philosophie sehr viel Aehnlichkeit hat mit dem Mystizismus in der Religion: jener setzt die Realität aller Dinge dieser Welt in den Gedanken, dieser die Realität aller Dinge des Himmels in das Gefühl.

Mit unbegreiflichem Scharfsinn dringen die Mystiker in alles ein, was in uns Furcht oder Hoffnung, oder Leiden oder Glück entstehen macht; und niemand steigt, wie sie, zu dem Ursprunge der Bewegungen des Gemüths empor. Mit dieser Forschung ist so viel Anmuth verbunden, daß selbst mittelmäßige Köpfe, wenn sie in ihren Herzen nur die mindeste Anlage zum Mystizismus haben, durch ihre Unterhaltung gewinnen und fesseln, als wenn sie mit vorzüglichem Genie ausgestattet wären. Was [258] den Umgang so leicht langweilig macht, ist, daß die Meisten nur von äußeren Gegenständen sprechen; und in dieser Gattung macht das Bedürfniß des Unterhaltungsgeistes sich fühlbar genug. Aber die religiöse Mystik schließt ein so ausgedehntes Licht in sich, daß sie selbst Solchen, die sie nicht aus den Händen der Natur empfangen haben, ein entschiedenes moralisches Uebergewicht ertheilt. Sie legen sich auf das Studium des menschlichen Herzens, diese erste aller Wissenschaften, und sie geben sich eben so viel Mühe die Leidenschaften zu kennen, um sie zu besänftigen, als die Weltmenschen, um sie zu benutzen.

Unstreitig lassen sich in dem Charakter Derer, deren Lehre die allerreinste ist, noch große Gebrechen nachweisen. Aber ist die Lehre daran Schuld? Man beweiset der Religion eine auffallende Huldigung durch die Forderungen, welche man an alle religiöse Menschen macht, sobald man sie als solche kennt. Man findet nämlich, daß sie inkonsequent sind, wenn sie Unrecht oder Schwächen haben. Und doch vermag nichts, die menschliche Beschaffenheit von Grund aus zu verändern. Gäbe die Religion immer die moralische Vollkommenheit und führte die Tugend immer zum Glück: so würde es keinen freien Willen mehr geben; denn die ihn bestimmenden Beweggründe würden allzu mächtig seyn.

Die dogmatische Religion ist ein Gebot; die mystische Religion stützt sich auf die innere Erfahrung unseres Herzens; das Predigen muß nothwendigen Aufschluß geben über die Richtung, welcher die Diener des Evangeliums in dieser Hinsicht folgen, und es wäre vielleicht zu wünschen, daß in ihren Kanzelvorträgen der Einfluß der Gefühle, welche [259] alle Herzen zu durchdringen beginnen, deutlicher wahrgenommen würde. In Deutschland, wo jede Gattung zahlreich ist, haben sich Zollikofer, Jerusalem und mehrere Andere durch ihre Kanzelberedsamkeit wohlverdienten Ruf erworben, und man kann über alle Gegenstände eine Menge Predigten lesen, welche vortreffliche Sachen enthalten. Wie weise es aber auch seyn mag, die Moral zu lehren: so kommt es doch noch weit mehr darauf an, daß man die Mittel zur Ausübung ihrer Vorschriften gebe; und diese Mittel bestehen vor allen Dingen in einer religiösen Bewegung. Ueber den Nutzen und den Nachtheil des Lasters und der Tugend wissen alle Menschen ungefähr gleichviel; aber das, was Noth thut, ist Befestigung der inneren Anlage, wodurch man die stürmischen Neigungen unserer Natur bekämpfen kann.

Käme es nur darauf an, der Gemeinde gegenüber gut zu reden: wie könnten dann die Theile der Gottesverehrung, welche in Gesängen und Ceremonien bestehen, eben so viel und noch mehr zur Andacht wirken? Die meisten Prediger beschränken sich darauf, gegen böse Neigungen zu declamiren, anstatt zu zeigen, wie man ihnen unterliegt, und wie man ihnen widersteht. Wirklich sind die meisten von ihnen Richter, welche den Proceß des Menschen instruiren; aber die Priester Gottes sollten uns sagen, was sie leiden und was sie hoffen, und wie sie ihren Charakter durch gewisse Gedanken gemodelt haben. Mit einem Worte: von ihnen erwarten wir geheime Denkwürdigkeiten der Seele in ihren Beziehungen auf Gott.

Verbietende Gesetze reichen in der Regierung des Individuums eben so wenig aus, wie in der [260] Regierung des Staats. Die gesellschaftliche Kunst bedarf zur Unterhaltung des menschlichen Lebens lebendiger Interessen, die sie in Bewegung setzen. Auf gleiche Weise verhält es sich mit den religiösen Erziehern des Menschen. Vor Leidenschaften können sie ihn nur dadurch bewahren, daß sie in seinem Herzen eine lebhafte und reine Entzückung erregen. In mancherlei Beziehung sind die Leidenschaften noch besser, als eine knechtische Gefühllosigkeit; und nichts bändigt sie, als ein tiefes Gefühl, dessen Genüsse man, wofern man sich darauf versteht, mit eben der Kraft und Wahrheit malen mag, womit man den Zauber irdischer Affektionen dargestellt hat.

Was auch die bloß verständigen Menschen sagen mögen: es giebt ein natürliches Bündniß zwischen der Religion und dem Genie. Die Mystiker fühlen sich beinahe ohne Ausnahme angezogen von der Poesie und den schönen Künsten; ihre Ideen leben in Einverständniß mit jeder Art von Ueberlegenheit des Geistes, während die ungläubige Mittelmäßigkeit der Weltmenschen ihre Feindin ist. Diese verträgt sich nicht mit Solchen, welche das Gemüth ergründen wollen; denn, da sie das Beste, was sie besitzt, bereits ausgekramt hat, so ist das Innere berühren und den Jammer entdecken, für sie eins und dasselbe.

Die idealistische Philosophie, das mystische Christenthum und die wahre Poesie haben, in mancherlei Hinsicht, wie denselben Zweck, so dieselbe Quelle. Diese Philosophen, diese Christen und diese Dichter treffen in Einem Verlangen zusammen. Sie wollen an die Stelle des Gemachten und Falschen der Gesellschaft – nicht die Unwissenheit barbarischer [261] Zeiten, sondern einen intellectuellen Anbau bringen, der durch die Vervollkommnung der Einsichten selbst zur Einfachheit zurückführt. Sie möchten aus allen diesen Charakteren ohne Erhebung, aus allen diesen Geistern ohne Ideen, aus allen diesen Spöttern ohne Leben, aus allen diesen Epikuräern ohne Einbildungskraft, die man in Ermangelung des Bessern das menschliche Geschlecht nennt, energische und bedachtsame, aufrichtige und hochherzige Menschen bilden.