Germaine de Staël
1766 -1817
Über Deutschland
Dritter Theil. II. Abtheilung.
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Drittes Capitel.
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Von dem Cultus der mährischenBrüdergemeinde.
In dem Protestantismus liegt vielleicht allzu viel Freiheit, um eine gewisse religiöse Strenge zu befriedigen, die sich des, von großen Unfällen zu Boden gedrückten, Menschen bemächtigen kann. Verschwindet doch, selbst in dem gewöhnlichen Laufe des Lebens, bisweilen ganz plötzlich die Realität dieser Welt, so daß man sich immitten alles dessen, was man anzieht und wovon man angezogen wird, wie auf einem Tanzsaal befindet, dessen Musik man nicht versteht. So wie nun die Bewegung auf diesem Tanzsaal sinnlos scheinen würde, so bemächtigt sich des Braminen wie des Wilden eine Art von träumerischer Apathie, wenn der eine, vermöge vielen Denkens, der andere, vermöge seiner tiefen Unwissenheit, ganze Stunden in stummer Betrachtung des Schicksals verleben; die einzige Thätigkeit, [229] deren man alsdann noch fähig ist, ist die, welche den Gottesdienst zum Gegenstande hat. Es macht Vergnügen, jeden Augenblick etwas für den Himmel zu thun; und diese Stimmung ist es, welche Klöster anziehend macht, wenn sie gleich übrigens sehr bedeutende Nachtheile in sich schließen.Die Niederlassung mährischer Brüder sind die Klöster der Protestanten, und der religiöse Enthusiasmus des nördlichen Deutschlands hat ihnen, vor etwa hundert Jahren, ihre Entstehung gegeben. Doch, wenn gleich diese Vergesellschaftung vollkommen eben so streng ist, als ein katholisches Kloster, so ist sie in ihren Grundsätzen liberaler. Man legt kein Gelübde ab; alles geht aus dem freien Willen hervor. Männer und Weiber sind nicht von einander geschieden, und die Ehe ist nicht untersagt. Bei dem allen ist die ganze Gesellschaft eine kirchliche, d. h. alles in derselben geschieht aus Religion und für dieselbe. Die Autorität der Kirche regiert diese Gemeinde von Gläubigen; aber diese Kirche hat keine Priester, und das Priesterthum wird abwechselnd von den religiösesten und ehrwürdigsten Personen verrichtet.Vor ihrer Verheirathung leben Männer und Weiber getrennt von einander in diesen Zusammenkünften, wo die vollkommenste Gleichheit herrscht. Der ganze Tag wird mit Arbeiten ausgefüllt, die für alle Abstufungen dieselbe sind. Die Idee der Vorsehung, allen immer gegenwärtig, leitet alle Handlungen der mährischen Brüder.Wenn ein junger Mann eine Gefährtin nehmen will, so wendet er sich an die Vorsteherin der Mädchen oder Wittwen, und bittet um diejenige, die er heirathen möchte. In der Kirche wird gelooset, [230] um zu erfahren, ob er sich mit der Frau, welche er vorzieht, verbinden soll; und ist das Loos gegen ihn, so verzichtet er auf seine Forderung. Die mährischen Brüder haben es in der Ergebung so weit gebracht, daß sie dieser Entscheidung nie widerstehen; und da sie die Frauen nur in der Kirche sehen, so kostet es sie um so weniger, ihrer Wahl zu entsagen. Diese Manier über die Heirath, wie über viel andere Umstände des Lebens, zu entscheiden, verkündigt den allgemeinen Geist der Gottesverehrung unter den mährischen Brüdern. Anstatt bei der Unterwerfung unter den Willen des Himmels stehen zu bleiben, bilden sie sich ein, ihn erforschen zu können, sey es durch Eingebungen, oder, was noch seltsamer ist, durch Befragung des Zufalls. Gottes Wege werden dem Menschen durch die Pflicht und durch die Begebenheiten offenbart. Wie kann er sich schmeicheln, sie durch andere Mittel zu erforschen?Uebrigens bemerkt man bei den mährischen Brüdern im Ganzen die evangelischen Sitten, die zu den Zeiten der Apostel in den christlichen Gemeinden vorhanden seyn mußten. Weder außerordentliche Dogmen, noch gewissenhafte Uebungen sind das Band dieser Vergesellschaftung. Das Evangelium wird in ihr auf die natürlichste und klarste Weise ausgelegt; aber man ist den Folgerungen dieser Lehre getreu, und bringt, in jeder Beziehung, sein Betragen in Harmonie mit den religiösen Grundsätzen. Vor allen Dingen beweisen die mährischen Brüdergemeinden, daß der Protestantismus in seiner Einfachheit zu einer höchst strengen Lebensweise und zu einer höchst begeisterten Religion führen kann. Tod und Unsterblichkeit, gehörig begriffen, reichen aus, um das Daseyn zu beschäftigen und zu leiten. [231]Ich bin vor einiger Zeit in Dietendorf (Neu-Dietendorf) gewesen, einem kleinen, in der Nähe von Erfurt gelegenen Dorfe, wo eine Brüdergemeinde sich niedergelassen hat. Es liegt drei Meilen von der Landstraße, am Rande eines Baches, zwischen zwei Bergen. Hohe Weiden und Pappelbäume umgeben es, und im Anblick der Landschaft ist etwas Beruhigendes und Sanftes, welches das Gemüth zum Austritt aus den Stürmen des Lebens vorbereitet. Die Häuser und Straßen sind ungemein sauber. Die Frauen, alle gleich gekleidet, verbergen den Haarwuchs und binden um das Haupt ein Band, dessen Farben anzeigen, ob sie verheirathet, oder Mädchen, oder Wittwen sind. Die Männer sind braun gekleidet, ungefähr wie die Quacker. Alle beschäftigt eine kaufmännische Kunstthätigkeit; aber in dieser vernimmt man nicht das mindeste Geräusch. Jeder arbeitet mit eben so viel Regelmäßigkeit als Ruhe; und die innere Thätigkeit religiöser Gefühle besänftigt jede andere Bewegung.Die Mädchen und Wittwen wohnen beisammen in Einem Schlafzimmer, und während der Nacht wacht abwechselnd eine von ihnen, um zu beten, und diejenigen zu verpflegen, die etwa krank sind. Die unverheiratheten Männer leben auf demselben Fuß. Und so existirt eine große Familie für den, der die seinige nicht hat, und die Benennung von Bruder und Schwester ist allen Christen gemein.An der Stelle der Glocken laden Blase-Instrumente von sehr schöner Harmonie zum Gottesdienst ein. Ging man, unter den Tönen dieser gebietenden Musik in die Kirche, so fühlte man sich der Erde enthoben; man glaubte die Trompeten des Weltgerichts zu vernehmen, nicht die, welche Gewissenbisse [232] furchtbar machen, wohl aber die, welche ein frommes Vertrauen uns hoffen läßt. Es schien, als ob die göttliche Barmherzigkeit sich in diesem Aufruf offenbarte und zum Voraus eine neuschaffende Verzeihung ankündigte.Die Kirche war mit weißen Rosen und Weißdornblüthen geschmückt. Gemälde waren nicht aus dem Tempel verbannt, und die Musik wurde hier als ein Theil des Gottesdienstes geübt. Nur Psalmen sang man. Keine Predigt, keine Messe, kein Raisonnement, keine theologische Erörterung; es war Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit. Die Frauen, alle weiß gekleidet, standen neben einander ohne irgend einen Standesunterschied; sie schienen unschuldige Schatten, welche vor den Richterstuhl der Gottheit traten.Der Kirchhof der Mährischen Brudergemeinde ist ein Garten, dessen Gänge mit Leichensteinen bezeichnet sind, neben welchen man ein blühendes Gesträuch gepflanzt hat. Alle diese Steine sind gleich; von den Gesträuchen erhebt sich keins über das andere, und dieselbe Grabschrift ist allen Todten gemein: geboren den und den, heimgegangen den. Bewunderungswürdiger Ausdruck, um das Ziel unseres Lebens zu bezeichnen. Die Alten sagten: Er hat gelebt, und warfen so einen Schleier über das Grab, um die Idee desselben zu verstecken. Die Christen setzen über dasselbe den Stern der Hoffnung.Am Ostertage wird der Gottesdienst auf dem Kirchhofe gefeiert, der sich neben der Kirche befindet, und die Auferstehung mitten unter Gräbern verkündigt. Die, welche dieser gottesdienstlichen Handlung, beiwohnen, wissen, welches der Stein [233] ist, den man auf ihren Sarg legen wird, und athmen schon den Duft des jungen Baumes, dessen Blätter und Blüthen sich auf ihre Gräber neigen. So hat man in unseren Zeiten eine ganze Armee ihrer eigenen Leichenfeier beiwohnen und für sich selbst die Kirchengebete, die sich auf den Tod beziehen, sprechen gesehen; denn sie war entschlossen, die Unsterblichkeit zu erobern 1).Die mährische Brüdergemeinde kann sich nicht anschließen an den gesellschaftlichen Zustand, wie die Umstände ihn für uns nöthig machen; aber da man seit einiger Zeit so oft wiederholt hat, daß nur der Katholizismus zur Einbildungskraft rede, so muß bemerkt werden, daß das, was in der Religion das Gemüth bewegt, allen christlichen Kirchen gemein ist. Ein Grabmahl und Ein Gebet erschöpft die ganze Macht der Rührung, und je einfacher der Glaube ist, desto mehr innere Bewegung verursacht der Gottesdienst.
―――――――― 1) Zu Saragossa fand sie Statt, die bewundernswürdige Scene, auf welche ich anspielte, ohne sie noch deutlicher zu bezeichnen. Ein Adjutant des französischen Generals überbrachte der Garnison den Vorschlag zur Ergebung, und der Anführer der spanischen Truppen führte ihn auf den öffentlichen Platz, wo er um die schwarz ausgeschlagene Kirche die Soldaten und die Officiere auf den Knien sah, der Leichenfeier zuhörend. In Wahrheit von diesen Kriegern leben nur noch wenige, und auch die Einwohner der Stadt haben das Schicksal ihrer Vertheidiger getheilt. |