BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

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Eilftes Capitel.

 

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Von dem Einfluß der neuen Philosophie

auf den Charakter der Deutschen.

 

Es könnte scheinen, als ob ein philosophisches System, welches dem menschlichen Willen, so weit er frei und unabhängig ist, eine allmächtige Wirksamkeit zuschreibt, den Charakter kräftigen und von äußeren Umständen unabhängig machen müßte. Allein, man hat Ursache zu glauben, daß politische und religiöse Institutionen allein den öffentlichen Geist zu bilden vermögen, und daß keine abstrakte Theorie ausreicht, um einer Nation Thatkraft zu geben. Denn man muß gestehen, daß die Deutschen unserer Zeit durchaus nicht das haben, was man Charakter nennt. Sie sind tugendhaft und rechtschaffen, als Privatleute, als Familien-Väter, als Staatsbeamte; aber ihre Fügsamkeit in die Macht verursacht ein schmerzliches Gefühl, besonders wenn man sie liebt, und sie für die aufgeklärtesten spekulativen Vertheidiger der menschlichen Würde hält. [131]

Der Scharfsinn des philosophischen Geistes hat sie blos gelehrt, unter allen Umständen die Ursachen und Folgen dessen, was sich ereignet hat, zu erkennen; und sobald sie eine Theorie zur Erklärung einer Thatsache aufgefunden haben, meinen sie, daß solche gerechtfertigt sey. Kriegerischer Geist und Vaterlandsliebe haben verschiedene Nationen auf die höchste Stufe der Energie geführt; gegenwärtig existiren diese beiden Quellen der Selbstausopferung kaum noch für die Deutschen, in Masse genommen. Von dem militärischen Geiste kennen sie kaum noch mehr, als eine pedantische Tactik, die sie berechtigt, nach allen Regeln geschlagen zu werden, und von der Freiheit nicht mehr, als jene Unterabtheilung in kleine Länder, die, indem sie die Bürger zum Gefühl der Nationalschwäche gewöhnt, sie nur allzu schnell dahin bringt, daß sie sich auch als Individuen schwach fühlen. Die Achtung für die Formen trägt sehr viel zur Aufrechthaltung der Gesetze bei: aber diese Achtung, wie man sie in Deutschland antrifft, macht einen so pünktlichen und abgemessenen Gang zur Gewohnheit, daß man sich selbst in dem Augenblick, wo das Ziel erreicht wird, keine neue Bahn zur Umfassung desselben zu eröffnen versteht.

Philosophische Spekulationen schicken sich nur für eine kleine Anzahl von Denkern, und weit davon entfernt, daß sie eine Nation unter sich verbinden sollten, bringen sie allzu viel Zwischenraum zwischen den Unwissenden und den Aufgeklärten. In Deutschland sind allzu viel neue, und allzu wenig allgemeine Ideen im Umlauf, Ideen nemlich, in welchen man die Menschen und die Dinge anschaut. Allgemeine Ideen sind nothwendig zur Führung des Lebens; denn die Geschäfte erfordern mehr den Geist [132] der Ausübung, als den der Erfindung. Was in den verschiedenen Ansichten der Deutschen Buntscheckiges ist, zweckt bloß auf Vereinzelung der verschiedenen Völkerschaften ab: denn die Gedanken und Interessen, welche die Menschen unter sich vereinigen, müssen von einfacher Natur und schlagender Wahrheit seyn.

Die Verachtung der Gefahr, der Leiden und des Todes, ist nicht allgemein genug in allen Klassen der deutschen Nation. Unstreitig hat das Leben einen höheren Werth für Menschen, welche der Gefühle und Ideen fähig sind, als für solche, die weder Spuren noch Erinnerungen zurücklassen; doch gerade wie sich der poetische Enthusiasmus durch den höheren Grad der Einsicht erneuern kann, sollte auch eine vernünftige Standhaftigkeit den Instinkt der Unwissenheit ersetzen. Einer auf Religion gestützten Philosophie würde es zukommen, bei allen Gelegenheiten einen unerschütterlichen Muth einzuflößen.

Wenn aber die Philosophie sich in dieser Hinsicht in Deutschland nicht allmächtig gezeigt hat: so muß man deshalb von ihr nicht abschätzig urtheilen. Sie klärt jeden Menschen insbesondere auf, und giebt ihm dadurch Haltung, aber die Regierung allein vermag jene moralische Electricität anzuregen, welche Allen ein und dasselbe Gefühl giebt. Sieht man, daß es den Deutschen an Thatkraft fehlt: so wird man ungehaltener gegen sie, als gegen die Italiener, deren politische Lage seit vielen Jahrhunderten auf Schwächung des Charakters hingewirkt hat. Durch ihre Anmuth und ihre Einbildungskraft bewahren die Italiener ihr ganzes Leben hindurch die verlängerten Rechte der Kindheit; aber die rohen Gesichtsbildungen und Manieren der Germanen [133] scheinen eine feste Seele anzukündigen, und man fühlt sich unangenehm überrascht, wenn man sie nicht antrifft. Dazu kommt noch, daß die Charakterschwäche, wenn sie eingestanden wird, Verzeihung findet, und in dieser Hinsicht ist den Italienern eine merkwürdige Offenheit eigen, während die Deutschen, indem sie eine so übelstehende Schwäche nicht einzugestehen wagen, kräftige Schmeichler und rüstige Untergebene sind. Hart accentuiren sie ihre Worte, um die Geschmeidigkeit ihrer Gesinnungen zu verbergen; philosophischer Gründe bedienen sie sich, um zu erklären, was am wenigsten philosophisch ist; ich meine den Respect für die Macht, und die Rührung der Furcht, welche jenen Respect in Bewunderung verwandelt.

Solchen Contrasten muß man die deutsche unangenehme Außenseite zuschreiben, die man in den Lustspielen aller Länder nachzumachen Vergnügen findet. Es ist erlaubt, plump und ungelenk zu seyn, wenn man ernst und fest bleibt: aber wenn man diese natürliche Starrheit mit dem falschen Lächeln der Knechtlichkeit bekleidet, dann setzt man sich einer verdienten Verlachung aus; das Einzige, was übrig bleibt. Es kommt dazu, daß in dem Charakter der Deutschen eine gewisse Unbeholfenheit ist, die selbst Solchen schadet, welche geneigt seyn möchten, ihrem Interesse alles aufzuopfern; und man wird um so unwilliger, weil sie die Ehre der Tugend einbüßen, ohne zu den Vortheilen der Gewandtheit zu gelangen.

Wie sehr man aber auch anerkennen mag, daß die deutsche Philosophie unzureichend ist, eine Nation zu bilden: so muß man doch bekennen, daß die, welche zur neuen Schule gehören, weit näher daran [134] sind, als die Uebrigen, Stärke des Charakters zu erwerben. Sie träumen sie, sie verlangen darnach, sie empfangen sie; aber sie fehlt ihnen nicht selten. In Deutschland giebt es sehr wenige, welche über Politik zu schreiben verständen. Die meisten von denen, welche sich damit befassen, sind allzu systematisch und sehr oft unverständlich. Wenn es auf übersinnliche Metaphysik ankommt, wenn man sich in die Dunkelheiten der Natur zu stürzen versucht, dann sind Ansichten, wie unbestimmt sie auch seyn mögen, nicht zu verschmähen; alle Vorgefühle können zu Führern dienen; alle Annäherungen an die Wahrheit haben ihren Werth. Nicht so verhält es sich mit den Angelegenheiten dieser Welt; man kann sie kennen, und eben deswegen muß man sie mit Klarheit darzustellen verstehen. Dunkelheit im Styl, wenn man von Gedanken ohne Gränzen handelt, ist bisweilen eine Anzeige von dem Umfange des Geistes selbst; aber Dunkelheit in der Zergliederung der Dinge dieses Lebens beweiset nur, daß man sie nicht begriffen habe.

Bringt man die Metaphysik in die Angelegenheiten: so dient sie blos zu einer Verwirrung, die alles entschuldigen soll; man erregt alsdann Nebel, wohin das Gewissen sich flüchten kann. Die Anwendung dieser Metaphysik würde angebracht seyn, wenn heutiges Tages sich nicht alles auf zwei sehr einfache und klare Ideen bezöge, nemlich Vortheil oder Pflicht. Energische Menschen – welcher von beiden Richtungen sie auch folgen mögen – gehen gerade auf das Ziel los, ohne sich um Theorieen zu bekümmern, die Keinen weder betrügen, noch überzeugen.

Da sey ich, wird man sagen, darauf zurückgekommen, [135] die Erfahrung und Beobachtung zu rühmen, wie die Uebrigen. Ich habe aber nie geläugnet, daß man beider bedürfe, um sich in die Angelegenheiten dieser Welt zu mischen. Aber im Gewissen des Menschen muß das ideale Princip eines äußerlich von weisen Bemerkungen geleiteten Betragens enthalten seyn. Die göttlichen Gefühle sind hienieden mit irdischen Dingen im Kampf; dies ist die Bedingung des Daseyns. In unserem Gemüthe das Schöne; draussen der Kampf! Man muß für die Sache der Ewigkeit streiten, aber mit den Waffen der Zeit. Kein Einzelwesen gelangt weder durch die spekulative Philosophie, noch durch die Kenntniß der Geschäfte, zur vollen Würde des menschlichen Charakters; und nur die freien Institutionen haben den Vorzug, in den Nationen eine öffentliche Moral zu gründen, welche exaltirten Gefühlen Gelegenheit verschafft, sich in der Praxis des Lebens zu entwickeln.