BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Erster Theil. II. Abtheilung.

 

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Zehntes Capitel.

 

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Von der Poesie.

 

Das wahrhaft Göttliche im menschlichen Herzen kann nicht definirt werden; giebt es auch Worte für einzelne Züge, so fehlt es doch an solchen, die das Ganze und vorzüglich das Geheimniß des wahren Schönen in allen Gattungen auszudrücken fähig sind. Es ist leicht, zu sagen, was nicht Poesie ist; aber wenn man begreifen will, was sie ist, so muß man die Eindrücke einer schönen Gegend, einer harmonischen Musik, den Blick eines geliebten Gegenstandes, und vor allem das religiöse Gefühl zu Hülfe rufen, welches uns in uns selbst das Daseyn der Gottheit verkündet. Die Poesie ist die natürliche Sprache aller Gottes-Verehrungen. Die Bibel ist voller Poesie, Homer voll Religion: – nicht als ob Dichtungen in der Bibel und Dogmen im Homer wären; aber der Enthusiasmus sammelt verschiedene Gefühle in einen Brennpunkt; der Enthusiasmus ist der Weihrauch, der von der Erde himmelan steigt, um die eine mit dem andern zu verbinden.

Die Gabe, durch Worte zu enthüllen, was man im Grunde des Herzens fühlt, ist selten; doch findet sich Poesie in allen Wesen, die heftiger und tiefer Gemüths-Anregungen fähig sind; der Ausdruck nur fehlt denen, welchen es an Uebung [217] mangelt, ihn aufzufinden. Der Poet thut, wenn ich mich so fassen darf, nichts anders, als das im Grunde der Seele gefangene Gefühl entbinden; das poetische Genie ist eine innere Stimmung von gleicher Natur, als die ist, welche zu einer edlen Aufopferung fähig macht; eine schöne Ode dichten, ist so viel als den Heroismus träumen. Wäre das Talent nicht wandelbar, so würde es eben so oft schöne Thaten, als rührende Worte einflößen, denn beide fließen gleicherweise aus dem Bewußtseyn und dem Selbstgefühl des Schönen.

Ein Mann von hervorstechendem Geiste sagte: die Prosa sey ein gemachtes Wesen, die Poesie natürlich. In der That fangen die wenig civilisirten Nationen immer mit der Poesie an; und, so wie eine starke Leidenschaft die Seele bewegt, so bedienen sich die gemeinsten Menschen, selbst dessen unbewußt, der Bilder und Metaphern, die äußere Natur zu Hülfe rufend, um auszudrücken, was Unausdrückbares in ihnen vorgeht. Das Volk steht der Poesie viel näher, als die Menschen, welche die gute Gesellschaft bilden: denn Convenienz und Persiflage können nur dazu dienen, Gränzen zu ziehen, nicht aber zu begeistern.

Es findet in dieser Welt ein ewiger Streit zwischen Poesie und Prosa Statt; und der Spott muß immer der Prosa zur Seite stehn, denn verspotten heißt soviel als herabsetzen. Der gesellschaftliche Geist ist jedoch der Poesie der Anmuth und der Heiterkeit sehr günstig, von welcher Ariost, Lafontaine und Voltaire die glänzendsten Muster darbieten. Die dramatische Poesie erregt Bewunderung in unsern vornehmsten Schriftstellern, die beschreibende und vorzüglich die didaktische Poesie ist bei den Franzosen zu einem sehr hohen Grade von Vollkommenheit gebracht worden; aber es [218] scheint nicht, daß sie bis jetzt berufen seyen, sich in der lyrischen und epischen Poesie, nach den Begriffen, welche die Alten und die Ausländer davon haben, auszuzeichnen.

Die lyrische Poesie spricht sich im Namen des Autors selber aus; er versetzt sich nicht mehr in eine fremde Rolle, sondern findet in sich selbst die verschiedenen Bewegungen, von denen er befeuert ist. J. J. Rousseau in seinen religiösen Oden, Racine in der Athalia, haben sich als lyrische Dichter gezeigt; sie hatten sich durch Psalmen genährt und waren von einem lebendigen Glauben durchdrungen; allein es widersetzen sich die Schwierigkeiten der französischen Sprache und Versification fast immer dem Hingeben des Enthusiasmus. Man kann bewundernswürdige Strophen aus einigen unserer Oden anführen, aber nicht eine einzige ganze, in welcher der Gott seinen Dichter nicht verlassen hätte. Schöne Verse sind noch keine Poesie; die Begeisterung in den Künsten ist der unerschöpfliche Quell, der vom ersten bis zum letzten Worte Leben strömt. Liebe, Vaterland, Glaube, alles dies muß in der Ode vergöttlicht werden, sie ist die Apotheose des Gefühls: um die wahre Größe der lyrischen Poesie zu begreifen, schweife man durch die Schwärmerei in ätherische Regionen, vergesse das Geräusch der Erde, höre die himmlische Harmonie, und betrachte die gesammte Welt wie ein Symbol der Regungen des Gemüths.

Das Räthsel der Bestimmung des Menschen gilt den meisten für nichts, dem Dichter ist es in der Fantasie immer gegenwärtig. Die Idee des Todes, die gemeine Seelen entmuthigt, macht das Genie nur kühner und das Gemisch der Naturschönheiten und der Schrecknisse der Zerstörung erregt [219] eine gewisse Art Trunkenheit von Beglückung und von Grausen, ohne welche es unmöglich ist, das Schauspiel dieser Welt weder zu verstehn, noch zu beschreiben. Die lyrische Poesie erzählt nichts, sie bindet sich in nichts, weder an die Folge der Zeit, noch an die Gränzen des Raums, sie schweift hoch über Länder und Jahrhunderte, und giebt dem erhabenen Augenblicke Dauer, wo der Mensch sich erhebt über die Leiden und Freuden dieser Welt. In ihr fühlt er sich inmitten der Wunder der Welt, wie ein zugleich schaffendes und geschaffenes Wesen, welches sterben muß und doch nicht aufhört zu seyn, und dessen bald klopfendes, bald starkes Herz zugleich stolz auf sich selbst und demüthig vor Gott ist.

Die Deutschen, welche, was sehr selten ist, Einbildungskraft mit beschaulicher Sammlung des Gemüths vereinigen, sind der lyrischen Poesie fähiger, als die meisten anderen Nationen. Die Neueren können eine gewisse Tiefe der Ideen nicht entbehren, an welche sie eine spiritualistische Religion gewöhnt hat, und doch, wenn diese Tiefe nicht mit Bildern bekleidet wäre, wäre sie nicht Poesie; die Natur muß sich daher in den Augen des Menschen vergrößern, damit er sich ihrer als des Emblems seiner Gedanken bediene. Haine, Blumen, Bäche genügten im heidnischen Zeitalter zum dichten; die Einsamkeit der Wälder, das unbegränzte Meer und der gestirnte Himmel reichen kaum hin, das Ewige und Unendliche, was die Seele des Christen füllet, auszudrücken.

Die Deutschen haben eben so wenig als wir, ein episches Gedicht; diese bewundernswürdige Schöpfung scheint den Neueren nicht gegönnt zu seyn, und vielleicht ist es auch nur die Ilias, die dem Begriffe ganz entspricht, den man von dieser [220] Dichtungsart hat; das Epos bedarf eines besondern Zusammentreffens von Umständen, wie es sich nur bei den Griechen fand, die Imagination der Heldenzeit und die Vollkommenheit der Sprache civilisirter Jahrhunderte. Im Mittelalter war die Einbildungskraft stark, aber die Sprache unvollkommen; jetzt ist die Sprache rein, aber die Einbildungskraft mangelhaft. Die Deutschen haben eine große Kühnheit in Ideen und Stil, doch wenig Erfindungskraft in Rücksicht auf den Stoff; ihre epischen Versuche nähern sich fast immer der lyrischen Gattung; die der Franzosen fallen vielmehr in das Drammatische, und sind mehr interessant, als groß. Wenn es darauf ankommt, auf der Bühne zu gefallen, so hängt allerdings von der Kunst, sich in einem gegebenen Ra[h]men zu beschränken, den Geschmack der Zuschauer zu errathen, und sich ihm mit Geschicklichkeit anzuschmiegen, ein Theil des Erfolges ab; in der Composition eines epischen Gedichtes aber muß nichts von äußeren und vorübergehenden Umständen abhängig seyn. Ein solches fordert absolute Schönheiten, Schönheiten, die den Leser auch in der Einsamkeit, wo seine Gefühle natürlicher und seine Einbildungskraft kühner ist, zu erregen im Stande sind. Wer in einem Epos zu viel wagte, könnte leicht den Tadel des guten französischen Geschmacks erfahren, wer aber nichts wagte, würde um nichts weniger verachtet werden.

Boileau hat unläugbar, obgleich er Sprache und Geschmack vervollkommnete, dem französischen Geiste eine der Poesie sehr ungünstige Richtung gegeben. Er spricht immer nur von dem, was zu vermeiden ist, und hält nur auf gewisse Vorschriften von Vernunft und Mäßigung, die in die Literatur eine Gattung von Pedanterie eingeführt [221] haben, welche dem erhabenen Aufflug der Künste höchst nachtheilig ist. Wir haben im Französischen Meisterstücke von Versification; aber wie kann man Versification Poesie nennen? In Verse übersetzen, was bestimmt war, Prosa zu bleiben, in zehn Sylben, wie Pope, ein Lhombrespiel mit vollständigem Detail bringen, oder, wie unsre neuesten Gedichte in Verse, das Trictrac, das Schach und die Chemie, ist weiter nichts, als ein Taschenspielerstückchen in menschlicher Rede, ist eine Sonate aus Worten statt aus Noten gesetzt, unter dem Namen eines Gedichts.

Doch ist eine große Kenntniß der poetischen Sprache erforderlich, um mit so edlem Ausdruck Gegenstände zu beschreiben, die der Einbildungskraft so wenig Stoff geben: und man bewundert darum mit Recht abgerissene Stücke aus diesen Gemälde-Gallerien; aber die Uebergänge, welche sie verbinden, sind nothwendigerweise prosaisch, wie das, was in dem Kopf des Schriftstellers vorging. Er hat sich gesagt: – ich will über diesen Gegenstand Verse machen, dann über jenen, dann über einen dritten – und unbewußt macht er uns zu Vertrauten in Hinsicht seiner Art zu arbeiten. Der wahre Dichter empfängt auf einmal sein ganzes Gedicht im Innern der Seele, und ohne die Schwierigkeiten der Sprache würde er, wie die Sybille und die Propheten, des Genius geheiligte Hymnen improvisiren. Er ist erschüttert von seinen Empfängnissen, wie von einem Ereigniß seines Lebens; eine neue Welt schließt sich ihm auf, das erhabene Bild jeder Situation, jedes Charakters, jeder Schönheit der Natur, trifft seine Blicke, und sein Herz schlägt für ein himmlisches Glück, das, wie ein Blitz, durch die Nacht seines Schicksals fährt. Die Poesie ist ein augenblicklicher Besitz von alle dem, [222] was unsre Seele wünscht, das Talent heißt die Schranken unsrer Existenz verschwinden, und verwandelt das unbestimmte Hoffen des Menschen in die herrlichsten Glanzbilder.

Es würde leichter seyn, die Symptome des Talents zu beschreiben, als Vorschriften für dasselbe zu geben. Das Genie wird, wie die Liebe, durch die Tiefe der Rührung selbst empfunden, mit der es den damit Begabten durchdringt; wenn man aber diesem Genie, dessen Führer die Natur allein seyn will, Rathschläge geben dürfte, so würden dies nicht bloß literarische seyn müssen. Man müßte zu den Dichtern wie zu Staatsbürgern, wie zu Helden sprechen: Seyd tugendhaft, seyd gläubig, seyd frei! ehret, was ihr liebt, sucht die Unsterblichkeit in der Liebe und die Gottheit in der Natur, heiliget endlich eure Seele wie einen Tempel, und der Engel der edeln Gedanken wird es nicht verschmähen, darin zu erscheinen.