BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Erster Theil. II. Abtheilung.

 

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Zweites Capitel.

 

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Wie man in England über deutsche

Literatur urtheilt.

 

Die deutsche Literatur ist in England viel besser gekannt als in Frankreich. Man lernt dort mehr fremde Sprachen, und die Deutschen stehen [170] in vielfacherer natürlicher Beziehung zu den Engländern als zu den Franzosen; doch herrschen selbst in England Vorurtheile gegen deutsche Philosophie und Literatur. Es kann interessant seyn, den Grund hievon aufzusuchen.

Geschmack an der Geselligkeit, Vergnügen und Theilnahme an der Unterhaltung sind es nicht, was in England die Geister bildet. Die Geschäfte, das Parlament, die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten, füllen alle Köpfe, und die politischen Interessen sind dort die Hauptgegenstände des Nachdenkens. Die Engländer begehren bei Allem unmittelbar anzuwendende Resultate, und daher entsteht es, daß sie gegen eine Philosophie eingenommen sind, die mehr das Schöne als das Nützliche zum Gegenstande hat.

Es ist wahr, daß die Engländer die Würde nicht vom Nützlichen trennen, und immer, wenn es darauf ankommt, bereit sind, das Nützliche dem Ehrenvollen aufzuopfern; aber sie geben sich nicht gern den Unterhaltungen mit der Luft hin, wie sie Hamlet nennt, von denen die Deutschen große Freunde sind. Die Richtung der Philosophie der Engländer geht auf Resultate zum Wohl der Menschheit; die Deutschen beschäftigen sich mit der Wahrheit um ihrer selbst willen, ohne an den Vortheil zu denken, den die Menschen daraus ziehen können. Da die Natur ihrer Regierungen ihnen keine große und schöne Veranlassungen darbietet, Ruhm zu erwerben und dem Vaterlande zu dienen, so halten sie sich in jeglicher Art an die Contemplation, und suchen im Himmel die Bahn, die ihr eingeschränktes Loos auf Erden ihnen versagt. Sie gefallen sich im Ideale, weil nichts in ihrer Gegenwart liegt, was ihre Einbildungskraft anspricht. Die Engländer [171] rühmen sich mit Recht alles dessen, was sie besitzen, alles dessen was sie sind, sie schenken ihre Bewunderung und ihre Liebe nur ihren Gesetzen, ihren Sitten und ihrem Cultus. Diese edeln Empfindungen geben der Seele mehr Kraft und Energie: aber der Gedanke fliegt vielleicht noch höher, wenn er keine Schranken, nicht einmal einen bestimmten Zweck hat, und in der unaufhörlichen Beziehung zum Ungeheuern und Unendlichen kein Interesse ihn zu weltlichen Gegenständen zurückzieht.

Ueberall, wenn eine Idee fest wird, das heißt sich in ein Gesetz verwandelt, ist nichts besser, als aufmerksam die Resultate und Folgen derselben zu prüfen, sie zu umgränzen und zu fixiren; kommt es aber auf eine Theorie an, so muß man sie in sich selbst betrachten. Dabei muß weder von der Praxis, noch vom Nutzen die Frage, und die Untersuchung der Wahrheit in der Philosophie, wie die Einbildungskraft in der Poesie, von jeder Fessel frei seyn.

Die Deutschen bilden gleichsam den Vortrab der Armee des menschlichen Geistes, sie schlagen neue Wege ein, versuchen ungekannte Mittel; wie sollte man nicht begierig seyn zu erfahren, was sie bei ihrer Rückkehr von den Reisen in das Unendliche zu erzählen haben? Die Englander, mit so viel Originalität des Charakters, haben dessenungeachtet in der Regel eine Scheu vor neuen Systemen. Das Maaß in der Vernunft hat ihnen in den Geschäften des Lebens stets so vielen Vortheil gebracht, daß sie es gern in intellectuellen Studien wiederfinden mögen, und doch sind es gerade diese, wo Kühnheit vom Genie nicht zu trennen ist. Das Genie, wenn es nur die Religion und die Moral ehrt, muß so weit gehn können, als es mag, denn es vergrößert das Reich des Gedankens. [172]

Die Literatur in Deutschland trägt so das Gepräge der herrschenden Philosophie, daß die Entfernung von der einen leicht auf das Urtheil über die andere Einfluß haben könnte; doch übersetzen die Engländer seit einiger Zeit mit Vergnügen deutsche Dichter, und mißkennen nicht mehr die Analogie, welche Folge eines gemeinsamen Ursprungs seyn muß. In der englischen Poesie sticht die Empfindung, wie in der Deutschen die Einbildungskraft, mehr hervor. Bei der Herrschaft, welche häusliche Neigungen über das Herz der Engländer ausüben, trägt ihre Poesie das Gepräge der Zartheit und Stetigkeit dieser Neigungen; die Deutschen, unabhängiger in Allem, weil sie minder frei sind, malen Gefühle wie Ideen hinter Wolken: man könnte sagen, das Universum schwanke vor ihren Augen, und die Ungewißheit ihrer Blicke vervielfache die Gegenstände, die ihrem Talent zu Gebote stehn.

Das Princip des Grausenhaften, ein großes Mittel der deutschen Poesie, hat weniger Macht über die Einbildungskraft der heutigen Engländer; sie schildern die Natur von ihrer reizenden Seite, sie wirkt nicht auf sie ein wie eine furchtbare Macht, die in ihrem Schooß Gespenster und Vorbedeutungen verschleußt, und bei den Neuern die Stelle des Fatums der Alten vertritt. Die Einbildungskraft ist bei den Engländern fast immer von der Empfindung angeregt; die Einbildungskraft der Deutschen oft rauh und bisarr: die Religion in England ist strenger, in Deutschland unbestimmter, und die Poesie der Nationen trägt nothwendigerweise immer das Gepräge ihrer religiösen Empfindungen. Gesetze der Schicklichkeit in den Künsten, herrschen in England zwar nicht wie in Frankreich, aber die öffentliche Meinung [173] hat doch mehr Gewicht, als in Deutschland, was in der National-Einheit begründet ist. Die Engländer haben das Bestreben, in allen Dingen ihre Handlungen und Grundsätze in Uebereinstimmung zu bringen, sie sind ein vernünftiges, wohlgeregeltes Volk, das in der Weisheit den Ruhm, in der Ordnung die Freiheit begreift. Die Deutschen, die von dem einen wie dem andern nur den Traum kennen, haben die Ideen, unabhängig von ihrer Anwendung, geprüft, und sind also natürlich höher in der Theorie gestiegen.

Die heutigen deutschen Literatoren sind (was sonderbar erscheint) viel größere Gegner der Einmischung philosophischer Reflexionen in die Poesie, als die Engländer. Die vorzüglichsten englischen Dichter, Shakespeare, Milton, Dryden in seinen Oden u. s. w. überlassen sich freilich nicht dem Geist des Raisonnements, aber Pope und mehrere andere sind als didaktische Dichter und Moralisten zu betrachten. Die Deutschen haben sich wieder jung gemacht, die Engländer sind reif geworden 1). Die Deutschen bekennen sich zu einer Lehre, deren Tendenz es ist, den Enthusiasmus in den Künsten, wie in der Philosophie, wieder zu beleben, und man muß sie loben, wenn sie sie halten; denn das Jahrhundert ruht auch auf sie, und es giebt keines, in dem man geneigter gewesen wäre, das zu [174] verachten, was nichts als schön ist, keines, in welchem man häufiger die Frage: wozu nützt es? die gewöhnlichste von allen, wiederholen hört.

 

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1) Die heutigen englischen Dichter haben, ohne mit den Deutschen deshalb übereingekommen zu seyn, das nämliche System angenommen. Die didactische Poesie macht den Dichtungen des Mittelalters, den Purpurfarben des Orients Platz; Raisonnement, und selbst Eloquenz, genügen nicht bei einer Kunst, die ihrem eigenthümlichen Wesen nach schöpferisch ist.