Germaine de Staël
1766 -1817
Über Deutschland
Erster Theil. I. Abtheilung.
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Sechstes Capitel.
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Oestreich. 1)
Die Literatoren im nördlichen Deutschland haben Oestreich der Nachlässigkeit in Wissenschaften und schönen Künsten beschuldigt. Man hat sich sogar die Art von Censurzwang in diesem Lande weit strenger gedacht, als sie in der That ist. Hat Oestreich in der Literatur gleich keine große Männer aufzuweisen, so darf man es nicht so sehr diesem Geisteszwang, als dem Mangel an Aufmunterung zuschreiben.Oestreich ist ein so ruhiges Land, ein Land, wo der Wohlstand allen Classen von Einwohnern so sicher, so leicht gemacht wird, daß man sich nicht viel mit den intellectuellen Genüssen zu schaffen macht. Der Oestreicher thut mehr für die Pflicht als für den Ruhm; die Belohnungen der öffentlichen Meinung sind so unscheinbar, ihre Strafen so sanft, daß, ohne den Sporn des innern Bewußtseyns, es in diesem Lande in jeder Hinsicht keinen Grund geben würde, lebhaft zu handeln.Kriegesthaten sollten das Hauptinteresse einer Monarchie ausmachen, die sich durch ununterbrochene Kriege hervorgethan; gleichwohl hatte sich die östreichische Nation so sehr der Ruhe und den Annehmlichkeiten des Lebens hingegeben, dass selbst die öffentlichen Begebenheiten nicht eher Aufsehen [56] bei dem Volke machten, als bis sie den Patriotismus aufregten; und sogar dieses Gefühl ist ruhig in einem Lande, wo es nichts als Glückliche giebt. Man findet in Oestreich eine Menge Vortrefflichkeiten, aber wenig wahrhaft ausgezeichnete Männer, weil es dort wenig frommt, besser zu seyn als ein anderer; man wird nicht beneidet, wenn man es ist, wohl aber vergessen, welches noch niederschlagender ist. Der Ehrgeiz beharrt auf der Begierde, Stellen zu erhalten; das Genie ermüdet über sich selbst; das Genie, mitten in der Gesellschaft, ist ein Schmerz, ein inneres Fieber, das wie ein äußeres behandelt und geheilt werden mußte, wenn die Belohnungen des Ruhms nicht die Leiden versüßten, die er verursacht.In Oestreich und im übrigen Deutschland werden alle Prozesse schriftlich geführt. Die Advocaten halten keine Reden. Die Predigten werden besucht, weil man an den Andachtsübungen hängt, allein die geistlichen Redner ziehen das Volk nicht durch ihre Beredsamkeit an. Die Schauspiele, besonders die Trauerspiele, werden wenig besucht. Die Staatsverwaltung ist eben so weise als gerecht; aber alles geschieht mit so viel Methode, daß es wirklich schwer wird, zu entscheiden, ob etwas darin Menschenwerk ist. Die Geschäfte folgen auf einander nach der Nummer; es wird um nichts von der Welt von dieser Ordnung abgewichen. Unveränderliche Regeln entscheiden überall, alles wird im tiefsten Stillschweigen betrieben; dieses Stillschweigen ist aber keineswegs die Folge der Furcht, denn was hätte man in einem Lande zu fürchten, wo die Tugenden des Monarchen und die Grundsätze der Billigkeit alles leiten? Gleichwohl benimmt diese tiefe Geistes- und Seelenruhe der Rede ihr ganzes Interesse. Weder das Verbrechen, [57] noch das Genie, weder die Intoleranz, noch der Enthusiasmus, weder die Leidenschaften, noch der Heldenmuth, stören die Existenz, oder erheben sie. Das östreichische Cabinet hat im letzten Jahrhundert für sehr verschlagen gegolten; dieses stimmt überhaupt wenig mit dem deutschen Character überein; oft aber hält man für eine tiefe Politik, was die bloße Alternative zwischen Ehrgeiz und Schwachheit ist. Zu allen Zeiten hat die Geschichte den Einzelnen, wie den Regierungen, mehr Combinationsgeist zugeschrieben, als sie wirklich besaßen.Oestreich vereinigt unter seinem Zepter überaus verschiedenartige Völkerschaften, z. B. die Böhmen, Ungarn etc.; es muß daher an jener Einheit fehlen, die einer Monarchie so nothwendig ist; gleichwohl hat seit langer Zeit die große Mäßigung der Oberhäupter aus der Liebe zu Einem ein Band für Alle gemacht. Der deutsche Kaiser war zugleich unumschränkter Herr in seinem eigenen Lande und constitutionelles Oberhaupt des Reichs. In dieser letzten Hinsicht hatte er mannichfache Interessen und eingeführte Gesetze zu berücksichtigen, und gewöhnte sich, als kaiserliche Magistratsperson, an eine Gerechtigkeit und Klugheit, die er bei der Regierung seiner Erbstaaten wieder anbrachte. Die böhmische und ungarische Nation, die Tyroler und Flamländer, aus welchen ehemals die Monarchie bestand, besitzen insgesammt mehr natürliche Lebhaftigkeit als die Oestreicher; diese legen sich mehr auf die Kunst zurückzuhalten, als anzutreiben. Eine sanftmüthige Regierung, ein fruchtbares Erdreich, eine reiche und vernünftige Nation, alles mußte sie bei dem Gedanken erhalten: es müsse alles nur so bleiben, um gut zugehen, und man bedürfe in keiner Gattung die Beihülfe außerordentlicher [58] Talente. Freilich kann man ihrer in den ruhigen Zeiten der Geschichte entbehren; wie aber behilft man sich ohne sie in stürmischen Kämpfen?Der Geist des Catholicismus, der, obschon mit vieler Mäßigung, in Wien vorherrschte, hatte unter der Regierung der Kaiserin Maria Theresia die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, oder was man so nannte, entfernt gehalten. Ihr Nachfolger Joseph II. überströmte mit diesem Lichte ein Land, welches weder auf das Gute, noch auf das Böse, was daraus entstehen kann, vorbereitet war. Für den Augenblick gelang ihm das Vorhaben, weil er in Oestreich keine lebhafte Leidenschaft weder für noch gegen seine Wünsche antraf; aber nach seinem Tode erhielt sich keine seiner Einsetzungen, weil nichts von Dauer ist, als was stufenweise geschieht.“ 2)Industrie, Wohlleben und häuslicher Genuß sind die Hauptvortheile, nach welchen Oestreich strebt; und alles Ruhms ungeachtet, welchen die Nation durch die Ausdauer der Tapferkeit ihrer Krieger erhielt, ist dennoch der militärische Geist nicht in alle Volksklassen wahrhaft eingedrungen. Die östreichischen Heere sind zwar, so zu sagen, die beweglichen Festungen der Monarchie; gleichwohl giebt es in der militärischen Laufbahn nicht viel mehr Trieb und Wetteifer als in den übrigen: die biedersten Officiere sind auch die bravsten; und dieses gereicht ihnen um so mehr zum Verdienst, da für sie nur selten ein schnelles glänzendes Vorrücken zu hoffen ist. Man macht es sich einigermaßen zum Gewissen in Oestreich, vorzügliche Männer [59] zu begünstigen; und man dürfte sich fast den Gedanken erlauben, die Regierung wolle die Billigkeit und Gleichheit noch weiter treiben als die Natur, und das Talent und die Mittelmäßigkeit auf eine und dieselbe Stufe stellen.Der Mangel an Wetteifer hat in so fern sein Gutes, daß er die Eitelkeit niederschlägt; oft aber auch leidet der edle Stolz darunter, und macht zuletzt der bequemen Hoffart Platz, der es in allen Stücken an der Aussenseite genügt.Zu tadeln ist, wie mich dünkt, der Grundsatz, welcher in Oestreich das Einführen fremder Bücher verbietet. Freilich, ließe sich in einem Lande die Urkraft des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts dadurch beibehalten, daß man es vor den Schriften des achtzehnten bewahrte, so möchte es vielleicht ein großes Glück seyn; da aber das Eindringen der Meinungen und der Aufklärung von Europa in einer Monarchie unvermeidlich ist, die gerade im Mittelpunct von Europa liegt, so ist es ein doppelter Nachtheil, ihnen nur halb den Eingang zu verstatten; denn jederzeit sind es die schlimmsten Schriften, die sich durchschleichen. Werke, in welchen die Unmoralität in lachenden Formen und egoistische Grundsätze zur Schau getragen werden, gelangen immer in das Publikum, weil es Vergnügen daran findet. Die Bücherverbote treffen nur, in ihrer ganzen Strenge, die philosophischen Schriften, die den Geist erheben und die Ideen erweitern. Der Zwang solcher Verbote ist zwar vorzüglich geeignet, die Seelenträgheit zu unterhalten, keinesweges aber, die Unschuld des Herzens zu bewahren.In einem Lande, wo alles sich nur langsam bewegt; in einem Lande, wo alles die Gemüther in eine tiefe Ruhe einwiegt, ist das geringste Hinderniß [60] hinreichend, um nichts zu thun, nichts zu schreiben, ja, wenn man will, um nichts zu denken. Was geht über Glück? wird man sagen. Gleichwohl muß man sich über die Bedeutung des Worts Glück verständigen. Besteht das Glück in den Eigenschaften, die man entwickelt, oder in denen, die man erstickt? Unstreitig ist eine Regierung immer achtungswerth, wenn sie sich ihrer Macht nicht überhebt, die Gerechtigkeit ihrem Interesse nie aufopfert; aber das Glück des Schlummers ist trüglich; große Widerwärtigkeiten können es stören; und um die Zügel desto leichter und sanfter halten zu können, muß man die Rosse nicht steif werden lassen.Sehr leicht kann eine Nation sichs an den allgemeinen Gütern des Lebens, an der Ruhe und dem Wohlbehagen genug seyn lassen; oberflächliche Denker werden sogar behaupten, die ganze Staatskunst beschränke sich darauf, dem Volke dieses Glück zu Theil werden zu lassen. Dennoch bedarf es edlerer Künste, um sich einen Patrioten nennen zu können. Die patriotische Gesinnung setzt sich aus den Erinnerungen großer Männer zusammen, aus der Bewunderung der Meisterwerke des National-Genies, aus der Liebe, die man für die öffentlichen Anstalten, für die Religion, für den Ruhm seines Vaterlandes in sich fühlt. Diese Seelenreichthümer sind die einzigen, die uns durch ein fremdes Joch geraubt würden; wollte man sich blos an die körperlichen Genüsse halten, so würde man diese ja immer auf demselben Boden finden, sollte er auch noch so oft den Herrn wechseln.Im vorigen Jahrhundert besorgte man mit Unrecht in Oestreich, die schönen Wissenschaften würden dem Kriegsgeiste nachtheilig seyn. Rudolph von Habsburg nimmt sich die goldene Halskette [61] ab, um sie einem damals berühmten Dichter umzuhängen. Kaiser Maximilian dictirte seinem Schreiber ein Gedicht in die Feder. Karl der Fünfte sprach und erlernte fast alle Sprachen. Ehedem gab es auf allen europäischen Thronen Fürsten, die in den Wissenschaften bewandert waren, und in literarischen Kenntnissen eine neue Quelle von Seelengröße auffanden. Nicht die höhern, nicht die schönen Wissenschaften sind es, die dem Charakter je etwas von seiner Kraft benehmen werden. Die Beredsamkeit bringt Tapferkeit hervor; der Muth macht beredt; alles was für einen großen Gedanken die Pulsschläge des Herzens verdoppelt, verdoppelt auch des Menschen wahre Kraft, seinen Willen; nur jener systematische Egoism, der allenfalls bisweilen seine Familie als einen Anhang von sich selbst mit aufnimmt; nur jene Philosophie, im Grunde die Philosophie des gemeinen Mannes, ohngeachtet sie mit eleganten Formen verbrämt ist, und welche alles verachtet und verschmäht, was sie Wahn nennt, nämlich die Aufopferung für Andere und den Enthusiasmus; nur dieses sind Gattungen von Aufklärung, die den Nationaltugenden gefährlich werden können; und gerade diese Feinde kann die Censur nicht von einem Lande entfernt halten, welches von dem Dunstkreis des achtzehnten Jahrhunderts umgeben ist. Man kann der Verkehrtheit und Verderblichkeit der Schriften nur dadurch entgehen, daß man allem, was sie Großes und Freies enthalten, den Eingang verstattet.In Wien war die Aufführung des Don Carlos verboten, weil man dessen Liebe zu seiner Mutter Elisabeth nicht dulden wollte. In Schillers Jungfrau von Orleans machte man aus Agnes Sorel, Carls VII. rechtmäßige Gemahlin. Die öffentliche Bibliothek durfte nicht Montesquieu's [62] Geist der Gesetze zu lesen geben; aber bei allen diesem Geisteszwang befanden sich Crebillon's Romane in allen Händen; die unsittlichen Bücher wurden eingeschwärzt, die ernsthaften allein von der Gränzmauth aufgehaltenDer Schade, den schlechte Bücher anrichten können, wird bloß durch den Nutzen ersetzt, den die guten hervorbringen. Die Nachtheile der Aufklärung werden von den Vortheilen einer höhern Aufklärung überwogen. Es giebt in allen Dingen zwei Wege einzuschlagen; entweder muß man das Gefährliche ausrotten, oder neue Widerstandskräfte herbeischaffen. Der zweite Weg ist der einzige, der für die Zeiten paßt, in welchen wir leben; da in unsern Tagen die Unschuld nicht mehr die Begleiterin der Unwissenheit seyn kann, so darf diese – die Uebelstifterin – nicht mehr geduldet werden. Es sind so viel Worte gesprochen, so viel Trugschlüsse wiederholt worden, daß man viel wissen muß, um richtig zu urtheilen; die Zeiten sind vorüber, wo man, im Fach der Ideen, sich mit dem Erbtheil seiner Väter begnügte. Folglich muß man darauf bedacht seyn, die Aufklärung nicht von sich zu stoßen, sondern sie zu sammeln, sie ganz aufzufangen, damit ihre gebrochene Strahlen kein falsches Licht verbreiten. Eine Regierung darf sichs nicht anmaßen, eine Nation dem Zeitgeiste ihres Jahrhunderts zu entziehen; dieser Geist enthält Elemente von Kraft und Größe, deren man sich mit Erfolg bedienen kann, sobald man kein Bedenken trägt, alle von ihm aufgestellte Fragen zu erörtern; alsdann findet man in ewigen Wahrheiten Hülfsmittel gegen vorübergehende Irrthümer, und in der Freiheit selbst, die Begründung der Ordnung und den Zuwachs der Gewalt.
―――――――― 1) Dies Capitel über Oestreich ist im Jahr 1808 geschrieben. 2) Von der Censur gestrichen. |