BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich von Kleist

1777 - 1811

 

Der zerbrochne Krug,

ein Lustspiel

 

Kleists Vorrede

 

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Kupferstich von Jean Jaques Le Veau

nach einem Gemälde von Louis-Philibert Debucourt

«Le juge, ou la cruche cassée»

(Stadt- und Universitätsbibliothek Bern)

 

 

Vorrede.

 

Diesem Lustspiel liegt wahrscheinlich ein historisches Factum, worüber ich jedoch keine nähere Auskunft habe auffinden können, zum Grunde. Ich nahm die Veranlassung dazu aus einem Kupferstich, den ich vor mehreren Jahren in der Schweiz sah. Man bemerkte darauf – zuerst einen Richter, der gravitätisch auf dem Richterstuhl saß: vor ihm stand eine alte Frau, die einen zerbrochenen Krug hielt, sie schien das Unrecht, das ihm widerfahren war, zu demonstriren: Beklagter, ein junger Bauerkerl, den der Richter, als überwiesen, andonnerte, vertheidigte sich noch, aber schwach: ein Mädchen, das wahrscheinlich in dieser Sache gezeugt hatte (denn wer weiß, bei welcher Gelegenheit das Delictum geschehen war) spielte sich, in der Mitte zwischen Mutter und Bräutigam, an der Schürze; wer ein falsches Zeugniß abgelegt hätte, könnte nicht zerknirschter dastehn: und der Gerichtsschreiber sah (er hatte vielleicht kurz vorher das Mädchen angesehen) jetzt den Richter mistrauisch zur Seite an, wie Kreon, bei einer ähnlichen Gelegenheit, den Ödip[, als die Frage war, wer den Lajus erschlagen? (im Manuskript gestrichen)]. Darunter stand: der zerbrochene Krug. – Das Original war, wenn ich nicht irre, von einem niederländischen Meister.

 

 

 

Bei dem Bild handelte es sich in Wahrheit um einen Kupferstich von Jean Jaques Le Veau nach einem Gemälde von Louis-Philibert Debucourt (1755 - 1832) «Le juge, ou la cruche cassée». Dieser Stich hing in Zschokkes Wohnung in Bern. Dort vereinbarten Kleist, Zschokke und Wielands Sohn Ludwig, daß jeder über dieses Bild einen Text verfassen sollte. Zschokke berichtet darüber:

 

«Unter zahlreichen, lieben Bekannten, deren Umgang den Winter mir verschönte, befanden sich zwei junge Männer meines Alters, denen ich mich am liebsten hingab. Sie athmeten fast einzig für die Kunst des Schönen, für Poesie, Literatur und schriftstellerische Glorie. Der eine von ihnen, Ludwig Wieland, Sohn des Dichters, gefiel mir durch Humor und sarkastischen Witz, den ein Mienenspiel begleitete, welches auch Milzsüchtige zum Lachen getrieben hätte. Verwandter fühlt’ ich mich dem andern, wegen seines gemüthlichen, zuweilen schwärmerischen, träumerischen Wesens, worin sich immerdar der reinste Seelenadel offenbarte. Es war Heinrich von Kleist. [...] Wir vereinten uns auch, wie Virgil’s Hirten, zum poetischen Wettkampf. In meinem Zimmer hing ein französischer Kupferstich, «La cruche cassée». In den Figuren desselben glaubten wir ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem zerbrochenen Majolika-Kruge, und einen großnasigen Richter zu erkennen. Für Wieland sollte dies Aufgabe zu einer Satyre, für Kleist zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung werden. – Kleist's «zerbrochner Krug» hat den Preis davongetragen.»

 

Heinrich Zschokke, Eine Selbstschau,, Bd. 1, S. 204-206, Aarau: Sauerländer 1842 (Zitat: Institut für Textkritik)